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Vom Werden unserer abendländischen Kirchen- und Reichskultur

Von Otto Mazal (Biografie)

 

Die Kultur- und Glaubenswelten des Mittelalters standen durch Jahrhunderte in einem Prozess der Konfrontation. Das Abendland hat im Verlauf der Geschichte das byzantinische Reich seines Führungsanspruches beraubt und politisch wie kirchlich dominiert. Es hat in harter Auseinandersetzung die arabisch-islamische Welt niedergerungen. Über das jüdische Volk hat es ein Meer von Leid ausgegossen. Andererseits ist die Geschichte des Abendlandes undenkbar ohne die vom Orient geprägten Werte in Politik, Wissenschaft und Kultur. Historische Objektivität verlangt deshalb nach einer Neubewertung dieser Epoche.

Die Entwicklung der abendländischen Kultur war in hohem Maße durch die Begegnung und Auseinandersetzung mit den anderen Glaubens- und Kulturwelten des Mittelalters, mit Byzanz, der islamischen Welt und dem Judentum in der Diaspora geprägt. Ein zwiespältiger Zug durchzog die abendländische Geschichte: Faszination stand neben Ablehnung und Kampf, Übernahme von Ideen, geistigen und materiellen Gütern neben Unterwerfung und Ausgrenzung. Die großen Kulturwelten standen durch Jahrhunderte in einem Prozess der Konfrontation, der sich vor allem auf politischer und religiöser Ebene abspielte. Doch fand trotz und neben aller Konfrontation immer wieder eine Begegnung statt, in der alle Beteiligten gebende und nehmende Teile waren. Diese war umso eher möglich, als die Kulturwelten durch Gemeinsamkeiten verbunden waren. Byzanz, islamische Welt und Abendland weiteten sich zu umfassenden Geschichtswelten aus, in denen Glaube, politische Gestalt und hochkulturelle Form zusammenfielen. Nur das Abendland schritt zuletzt über diese Entwicklungsstufen hinaus. Gemeinsam war ja den drei Welten auch die Verteidigung ihres Erbes gegen den Ansturm neuer Völker und die Integrierung derselben. Die Unterschiede aber lagen in der Verschiedenheit der geopolitischen Lage und in der Andersartigkeit des Vollzugs ihrer Synthese.

Byzanz

In Byzanz fanden spätantike Kultur und christliche Reichskirche eine unmittelbare Fortsetzung. Es blieb mit seiner Zentralstaatlichkeit, seiner Bürokratie und Geldwirtschaft, der Bewahrung des römischen Rechtes und des griechischen Schrifttums ein hochkultureller Staat. Sein heilsgeschichtliches Bewusstsein ruhte indes auf der römischen Geschichtstradition, sodass Romidee und römischer Universalismus zu Leitgedanken wurden, die später auch in das Abendland wirkten. Damit war aber auch gegeben, dass das Christentum ein Zweites war, ein durch Konstantin I. Hinzugekommenes. Die Kirche konnte sich nur neben der römischen Ämterhierarchie einschalten. Der Kaiser blieb als "vicarius Christi" Haupt beider Hierarchien. Staat und Kirche waren letztlich nur zwei Aspekte eines "Corpus Christi politicum". Byzanz blieb bis zuletzt Hort griechischer Wissenschaft und Kultur und hat sein Erbe zu verschiedenen Zeiten an die islamische Welt und an das Abendland weitergegeben.

Die Islamische Welt

Auch der Islam weist durch seinen Charakter als Offenbarungsreligion und durch seine Anknüpfung an die Antike Gemeinsamkeiten mit den beiden anderen Kulturwelten auf. Die bedeutsame Rolle alt- und neutestamentlicher Gestalten und vor allem Jesu im Koran verleitete sogar christliche Polemiker - in Verkennung der Eigenständigkeit des Islams - diesen als christliche Häresie anzusprechen. Die Offenbarung ist im Islam allerdings nicht an einen göttlichen Stifter gebunden, sondern an ein "ewiges Buch", das der Prophet Muhammad nur wiedergebracht hat. Die Religion als Pflichtenlehre intendiert eine Einheit der religiös-politischen Glaubensgemeinde. Die Prinzipien des Glaubenskampfes, der Bilderlosigkeit und des Primates des Buches konnten zuletzt bis in die christliche Welt ansteckend wirken. Doch musste auch der Islam die Erfahrung machen, dass Offenbarung und weltliches Dasein nicht völlig zur Deckung gebracht werden konnten. Es bedurfte der Auslegung und der Übernahme des antiken Wissens. Allerdings übernahm der Islam nur Teile der antiken Kultur. Die Zahl der zwischen 800 und 950 ins Arabische übersetzten griechischen Werke war gewaltig. Sie umfassten die größten Teile der spätantiken Wissenschaft wie Mathematik, Astrologie, Medizin, Geographie und Philosophie. Dieser große Schatz, durch zahlreiche Eigenleistungen der islamischen Welt ergänzt, sollte im Hochmittelalter dem Abendland zugute kommen.

Das Abendland

Dem Abendland war mit Byzanz die christliche Substanz, mit der islamischen Welt die Auseinandersetzung neu in die Geschichte tretender Stämme mit dem Erbgut der Antike gemeinsam. Durch die lockere Vielheit der westlichen Reiche konnte die Kirche das einigende Band bilden und ihre Prioritäten durchsetzen. Es gelang ihr, sich aktiv in die Reichspolitik einzuschalten, über das Kaisertum zu verfügen und sogar die sakrale Stellung des Kaisers zu erschüttern. Trotz mancher "byzantinischer" Versuchungen sollte sich die Trennung von Kirche und weltlicher Macht allmählich durchsetzen und ein säkularer Geist erstehen. Der Westen konnte zunächst auch nur an Reste der antiken Bildung anknüpfen. Der Verlust der Kenntnis des Griechischen erschwerte den sprachlichen Kontakt zu Byzanz. Doch eine erstaunliche Wende begann, als durch die Berührung mit der islamischen Welt eine neue Bekanntschaft mit griechischen Quellen und die Wiederentdeckung des römischen Rechtes initiiert wurde. Das Abendland brachte nach einer Reihe von Rückgriffen auf antike Traditionen die Renaissance hervor. Byzanz und der Islam wurden verdrängt, und das Abendland triumphierte als ozeanische Macht über die mediterranen Mächte. Allerdings waren all die Jahrhunderte dieses Prozesses von einem ambivalenten Verhältnis zwischen den Kulturwelten gekennzeichnet.

Die Verdienste von Byzanz für die Entwicklung des Abendlandes

Lange Zeit wurden die Verdienste der byzantinischen Welt für die Entwicklung des Abendlandes fälschlicherweise vernachlässigt. Im Kampf gegen die islamische Welt bildete Byzanz allerdings ein Bollwerk gegen den Osten, das eine frühe Islamisierung Europas verhinderte. Die grundlegenden Dogmen des Christentums wurden auf den Konzilien des Ostens formuliert. Dazu traten das reiche Erbe der griechischen Patristik und die grundlegende Synthese christlicher und antiker Geistigkeit, die für die Entwicklung eines christlichen Humanismus ausschlaggebend waren. Die Rezeption und Interpretation griechischer Philosophie in Form des Platonismus und Aristotelismus lieferte das Rüstzeug für die Darstellung des Glaubens in der Sprache der griechischen Metaphysik. Der Westen hat in verschiedenen Wellen dieses reiche Erbe übernommen und weiterentwickelt.

Erhaltung griechischer Kunst und Literatur

Eine der Hauptleistungen von Byzanz lag in der Pflege und Bewahrung der griechischen Literatur und Wissenschaft. Aus diesem Schatz zu schöpfen blieb dem Westen lange Zeit versagt, da die Kenntnis des Griechischen abhanden gekommen war. Erst im Hochmittelalter mehrten sich die Übersetzungen vor allem wissenschaftlicher und theologischer Werke. Männer wie Wilhelm von Moerbeke (+ 1286) machten dem Abendland Aristoteles, Aristoteleskommentare, Platonica und fachwissenschaftliches Schrifttum direkt aus dem Griechischen bekannt. Erst im Zeitalter des Humanismus erschloss sich die Fülle der griechischen Literatur dem Westen, wodurch der entscheidende Beitrag zur vollen humanistischen Bildung, zu einem breitgefächerten Bildungssystem, zum Aufbau zahlreicher Wissenschaftsdisziplinen, zur Befruchtung der Literatur und Kunst, die bis heute nachwirkt, geleistet wurde.

Einfluss byzantinischer Kunst und Bewahrung des römischen Rechts

Das Einwirken byzantinischer Kunst hat durch Jahrhunderte das Abendland befruchtet. Sie ist in der ottonischen und romanischen Malerei ebenso kenntlich wie in der italienischen Kunst des 12. bis 14. Jahrhunderts, in der Reliefplastik, Elfenbeinschnitzerei, Mosaikkunst und Architektur. Die Bewahrung des römischen Rechtes durch Byzanz machte es möglich, dass nach der Wiederentdeckung entscheidender Quellen im 11. Jahrhundert okzidentales Rechtsdenken und abendländisches Kaiserrecht entwickelt werden konnten. Römisches Recht hat bis in die Konzeption neuzeitlicher Kodifikationen nachgewirkt. Liturgische und musikalische Formen beeinflussten den abendländischen Gottesdienst. Die Orgel, die Königin der Instrumente, geht auf ein byzantinisches Geschenk in karolingischer Zeit zurück.

Unterschiedliches Verhältnis weltlicher zu geistlicher Macht

Die beiden Hemisphären des ehemaligen Imperium Romanum lebten sich zunächst regelrecht auseinander. Dabei spielten folgende Faktoren eine Rolle: Ein unterschiedliches Verhältnis weltlicher und geistlicher Macht, staatlicher und kirchlicher Gemeinschaft, ein unterschiedlicher Kirchenbegriff, ein andersgeartetes Verhältnis zum antiken Bildungsgut, sowie eine Rivalität der politischen Konzeptionen auf dem Boden des römischen Universalismus. Die Kirche vertrat die Idee vom "Neuen Rom" mit der Vorstellung, im römisch-christlichen Reich eine Verwirklichung eines Gottesreiches zu ermöglichen. Universalität des Reiches und Sakralität des auserwählten Volkes verbanden sich im byzantinischen "Corpus Christi politicum". Der Westen vertrat hingegen die "petrinische" Kirchenkonzeption, die Lenkung der Kirche durch das Papsttum in der Nachfolge Petri. Den Kaiser anerkannte die westliche Kirche nur als Schirmherrn, nicht als Oberherrn. Wie Augustinus zeigte, kann sich ein Gottesstaat nie in einem konkreten irdischen Staat verwirklichen.

Die Idee vom Neuen Rom

Als das westliche Kaisertum 800 durch die Krönung Karls des Großen erneuert wurde, trat die genannte Romidee in das Spannungsgefüge ein. Nach der Neubegründung des Kaisertums durch Otto I. 962 verschob sich die Auseinandersetzung mit Byzanz immer stärker auf die Ebene dieses Universalismus. Schon Otto III. nahm konsequent den Titel eines römischen Kaisers an. Die Idee lebte letztendlich im "Heiligen Römischen Reich" bis 1806 weiter. Im Gegenzug suchte der Westen den byzantinischen Kaiser zum Griechenkaiser abzustempeln und das "Regnum Graecorum" zum zweitrangigen Titularkaisertum herabzudrücken. Die abendländische Romidee gipfelte aber in deren Umgestaltung zur kurialen Romidee in Gestalt der großangelegten Fälschung des "Constitutum Constantini", die wohl Papst Leo III. zum Autor haben dürfte. Der Papst wird hier zum "Oberkaiser" und Herren des Westens erklärt, der die Kaiserkrone zu vergeben hat. Ab Karl dem Kahlen verfügte das Papsttum - in Umkehrung byzantinischer Konzeptionen - denn auch über die Kaiserkrone.

Starke Spannungen zwischen den beiden Hemisphären

Die kirchliche Differenzierung von Ost und West setzte bereits in der Spätantike ein. Die Auflehnung der westlichen Kirche gegen den Osten erfolgte vor allem in Epochen, in denen der Osten in den Augen des Westens der Häresie verfiel. Jedoch war aber auch der Westen nicht immer einheitlich. Als etwa Papst Hadrian I. das Konzil von Nikaia 787 und die Wiedereinsetzung der Bilderverehrung bestätigte, versagte sich ihm die fränkische Kirche. Die Rivalitäten der kirchlichen Hemisphären ab dem 9. Jahrhundert mündeten in Schismen und Kontroversen. Eine der ersten Taten des Reformpapsttums des 11. Jahrhunderts war die Zerreißung des Bandes zu Byzanz durch das Schisma von 1054. Die Kreuzzüge und vor allem die Pervertierung des Kreuzzugsgedankens im sogenannten 4. Kreuzzug von 1204 mit der Eroberung Konstantinopels durch die Lateiner brachten furchtbare Belastungen, deren Wunden nie mehr heilen sollten. In der Folge erschöpften sich die Theologen in der gegenseitigen Aufrechnung von Häresien. Letztendlich waren auch die Versuche einer Kirchenunion von Lyon 1274 und Ferrara Florenz 1438/39 nicht von dauerhaftem Erfolg begleitet.

Die Islampolemik in Byzanz und im Westen

Eine systematische geistige Auseinandersetzung mit dem Islam gab es sowohl in Byzanz wie im Abendland. Jedoch erblickte man lange Zeit im Islam bloß eine gefährliche christliche Häresie. Die Polemik blieb denn auch lange auf diesem Niveau. Das Mittelalter war durch die Bibel derart geprägt, dass die Formulierung anderer Anschauungen nicht vorstellbar erschien. So erklärte man die islamische Religion als falsch und als bewusste Verkehrung der Wahrheit. Aus bestimmten Stellen des Korans, in denen Jesus als Wort und als Geist Gottes bezeichnet wird, las man zudem die christliche Trinitätslehre und Christologie heraus, obgleich der Islam doch einen strengen Monotheismus lehrt, die Gottheit Jesu sowie dessen Kreuzigung ablehnt und die "Beigesellung" eines Sohnes zu Gott überhaupt als schwerste Sünde hinstellt. Der Islam wurde als Religion der Gewalt, des Schwertes und der Genusssucht deklariert und Muhammad zum Antichristen und falschen Propheten erklärt. Erst Georgius Trapezuntios versuchte im 15. Jahrhundert eine Harmonisierung herbeizuführen, hatte aber mit seiner Idee keinerlei Erfolg. Bahnbrechend war dann die "Summa contra gentiles" des Thomas von Aquin

(+ 1274), der auf der Basis aristotelischer und arabischer Philosophie argumentierte. Doch schon so populäre Traktate wie die "Improbatio Alcorani" des Predigermönches Ricoldo da Monte Croce (+ 1320) verfielen wieder in Aggressivität und Beschimpfungen. Nur die byzantinische Islampolemik des ausgehenden Mittelalters erhob sich zu höherem Niveau.

Der Transfer von Kulturgütern aus der islamischen Welt

Und doch hat das Abendland der islamischen Welt eine Fülle von Impulsen zu verdanken, die maßgebend an der Entwicklung der europäischen Kultur beteiligt waren. Durch Bedrohung des Westens durch die arabischen Reiterheere führte zu einer nachhaltigen Entwicklung eines neuen Standes des Rittertums und entsprechender Lebensanschauungen. Im Konnex mit diesem Stand entwickelte sich ein neuer Ehrencodex, eine neue Kriegerreligion. Sogar der Sarazene wurde als ebenbürtiger Feind geachtet. Eine neue Literatur in Gestalt der Ritterepen, der ritterlichen Lyrik und des Minnesangs waren kulturelle Phänomene von höchster Bedeutung. Durch den Handel mit der islamischen Welt und durch die Übersetzungen arabischer Werke ins Lateinische entstand eine Fülle neuer Wörter. Nahrungsmittel, Gewürze, Drogen und Chemikalien, Ausdrücke des Handels und Geschäftswesens und zahlreiche wissenschaftliche Termini verraten noch heute ihre Herkunft aus dem Arabischen. Kaum ein Musikinstrument hat nicht einen orientalischen Vorgänger. Man denke an Laute, Gitarre, Dudelsack, Hackbrett, Pauken, Trompeten, Kastagnetten. Selbst das Klavier geht letztlich auf den Qanun zurück. Die Übernahme des indisch-arabischen Zahlensystems hat die Rechenkunde des Abendlandes erst möglich gemacht und das heute so selbstverständlich gewordene Papier war eine chinesische Erfindung, die die Araber verbesserten und dem Westen vermittelten.

Bereicherung für Wissenschaft und Literatur

Übersetzungen ungezählter arabischer Werke ins Lateinische im 12. und 13. Jahrhundert haben am Aufbau der europäischen Wissenschaften entscheidend mitgewirkt. Ohne die Rezeption der aristotelischen Philosophie wäre die hochscholastische Theologie kaum möglich gewesen. Neue Denkansätze waren revolutionierend, was natürlich auch den Widerstand der Kirche hervorrufen konnte. Die Übersetzungen machten die Standardwerke der griechischen und arabischen Mathematik, Astronomie, Astrologie, Medizin, Geographie, Naturwissenschaft und Philosophie bekannt. Der Nachholbedarf des Abendlandes war auf weite Strecken gewaltig. Die Verarbeitung des großen Tatsachenmaterials beanspruchte die geistigen Kräfte des Spätmittelalters. Auch literarische Einflüsse seien erwähnt, etwa novellistische Stoffe aus dem Osten. Legendäre Schriften über Muhammads Himmelfahrt können Dantes "Divina Commedia" inspiriert haben. Die Troubadourdichtung verwirklichte ein neues Leitbild der Frau, der sich der liebende Mann unterwirft. Man hat vermutet, dass die Nachwirkung dieser Einstellung bis in die Galanterie der Gegenwart reicht. So ist eben auch dem Islam gegenüber ein sehr ambivalentes Verhältnis festzustellen. Neben dem Kampf, neben der Reconquista, der Vertreibung aus Europa und dem Vorstoß in den Nahen Osten und nach Afrika durch europäische Kreuzzugsheere steht die begierige Übernahme materieller und geistiger Güter aus der islamischen Welt, ohne die die moderne Zivilisation nicht mehr denkbar wäre.

Das ambivalente Verhältnis des Christentums zum Judentum

Die Auseinandersetzung zwischen Christen und Juden hat in der abendländischen Geschichte zu furchtbaren Konflikten geführt. In theologischer Hinsicht trennt die Stellung zum gekreuzigten Jesus Juden und Christen ebenso, wie sie sie in eine gemeinsame Geschichte gebracht hat. Nach all den leidvollen Jahrhunderten kann heute nicht mehr gefolgert werden, dass Israel jene alte "Gesetzesreligion" besäße, die seit Jesu Tod durch die christliche "Liebesreligion" beerbt und ersetzt wäre. Der Streit zwischen Evangelium und Gesetz sollte schon deshalb nicht zur Trennung führen, weil er sich um etwas Gemeinsames dreht: um die Freiheit Gottes in seinen Verheißungen. Das Evangelium hat die Verheißung Gottes an Abraham vorausgesetzt und führt den Glauben aus den Ungewissheiten eines gesetzlichen Verständnisses ganz zum Vertrauen auf Gottes Treue. Der Konflikt Jesu mit dem Gesetzesverständnis seiner Zeit macht weder die Verheißungen Israels noch die Erwählung Israels ungültig. Wenn Jesus am Gesetz scheiterte, ist damit nicht die Tora als Weisung im Bund der Verheißung gemeint. Je mehr sich allerdings das Verständnis der Tora von der Verheißung entfernt, desto heftiger wird der Konflikt mit dem Evangelium. Je näher das Verständnis der Tora der ursprünglichen Verheißung rückt, desto mehr könnte sich auch das Verständnis für die Gnadenwelt des Evangeliums steigern.

Verdienste anderer Kulturwelten nicht vergessen

Der Rückblick auf die Geschichte lehrt, dass Intoleranz und Glaubenshass, Isolation und Abkapselung stets allem gedeihlichen kulturellen Mit- und Nebeneinander feindlich waren. Wo es Toleranz, gegenseitige Befruchtung und positiven Wettbewerb gab, konnten ungeahnte Energien freigesetzt werden, die für die Weiterentwicklung der Kulturen von grundlegender Bedeutung waren. Das Abendland hat viele Elemente seiner Kultur den anderen Kulturwelten des Mittelalters zu verdanken - und diese Welten dennoch ausgegrenzt. Erst die moderne Geschichtswissenschaft hat wieder die weltgeschichtliche Bedeutung der Traditionen von Israel, Byzanz und dem Islam für den Westen deutlich gemacht; bei allem abendländischen Selbstbewusstsein über die erreichte Entwicklungsstufe darf historische Gerechtigkeit nicht außer acht gelassen werden.

 

Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn

 

>> Byzanz

>> Die Islamische Welt

>> Das Abendland

>> Die Verdienste von Byzanz für die Entwicklung des Abendlandes

>> Erhaltung griechischer Kunst und Literatur

>> Einfluss byzantinischer Kunst und Bewahrung des römischen Rechts

>> Unterschiedliches Verhältnis weltlicher zu geistlicher Macht

>> Die Idee vom Neuen Rom

>> Starke Spannungen zwischen den beiden Hemisphären

>> Die Islampolemik in Byzanz und im Westen

>> Der Transfer von Kulturgütern aus der islamischen Welt

>> Bereicherung für Wissenschaft und Literatur

>> Das ambivalente Verhältnis des Christentums zum Judentum

>> Verdienste anderer Kulturwelten nicht vergessen

 
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