Monotheismus und Demokratie
Von Johann Baptist Metz (Biografie)
Nach heute geläufiger Auffassung bedeutet Politik der Moderne
strikte Trennung gegenüber Religion und gegenüber allen
religiösen Symbolisierungen politischer Legitimität. Ist das so,
muss das so sein ? Wer diesen Modernisierungsvorgang bezweifelt, wer
sich - vorsichtig - die Frage stellt, ob die radikale Privatisierung
von Religion der modernen Politik in jeder Hinsicht gut ist für die
Freiheit, muss selbst sehr auf der Hut sein, dass er damit nicht in
antiliberale, fundamentalistische Fallen gerät. Aber ist einer denn
dann schon ein demokratiefeindlicher Fundamentalist wenn er die
Rechtfertigung einer politischen Entscheidung nicht ausschließlich
nach der prozeduralen Korrektheit ihres Zustandekommens beurteilen
will?
An den Grenzen der Moderne wird das Verhältnis von Religion und
Politik, wie es sich bislang auf dem Boden der Moderne gestaltete,
in neuer Weise brisant. Den dabei sich eröffnenden Perspektiven
soll in einem Dreischritt nachgegangen werden.
Religion in der Kritik der Moderne
Religion ist hier in jener Gestalt verstanden, die das
Verhältnis von Religion und Politik auf dem Boden der Moderne
prekär macht, also als christliche Religion mit einem noch nicht
völlig zersetzten monotheistischen Kern. Die geläufigen
Modernitätstheorien haben diese Religion zur anachronistischen oder
jedenfalls strikt privaten Gegenwelt erklärt und ihr jede
Möglichkeit abgesprochen, das Verhältnis zwischen Religion und
Politik kritisch-produktiv zu interpretieren und die Politik der
Moderne im kritischen Stadium ihrer Reflexivität, im Umbruch der
Legitimationslogik politischen Handelns - zu begleiten und zu
schützen. Wie modernitätsverträglich ist eigentlich die Religion,
wie religionsverträglich ist die Moderne? Vor allem der
Monotheismus ist schärfster Kritik durch die Moderne ausgesetzt. Er
gilt zumeist als Legitimationsquelle eines vordemokratischen,
gewaltenteilungsfeindlichen Souveränitätsdenkens, als Wurzel eines
obsoleten Patriarchalismus und als Inspirator politischer
Fundamentalismen. Auf ihn ist unbedingt zurückzukommen - nicht
zuletzt deswegen, weil das Verhältnis von Religion und Politik
"an den Grenzen der Moderne" nicht ausschließlich im
Blick auf das Spannungsfeld zwischen Christentum und Moderne
diskutiert werden kann, sondern immer mehr auch das Verhältnis der
anderen monotheistischen Religionen zur Moderne einbringen muß,
also die monotheistische Wurzelreligion des Judentums wie vor allem
auch den Islam und seinen pointierten Zivilisationskonflikt mit der
europäischen Moderne.
Starke Unsicherheit der politischen Grundlagen
Politik ist hier verstanden als liberale, rechtsstaatliche
Politik in der Phase ihrer Reflexivität. Das will sagen: Die
liberale Substanz dieser Politik hat inzwischen die "negative
Bürgschaft" (H. Dubiel, Ungewißheit und Politik, Frankfurt
1994, 93) durch die totalitären Systeme verloren und sieht die
bisher unterstellten "Ligaturen" (Vgl. R. Dahrendorf,
Freiheit und soziale Bindungen. Anmerkungen zur Struktur einer
Argumentation, in: K. Michalski (Hg.), Die liberale Gesellschaft,
Stuttgart 1993, 11-20) in der Gestalt vorreflexiver Traditions- und
Milieubestände und kultureller Kohärenzen immer mehr wegbrechen.
So ist diese Politik, die sich ihrerseits als das liebste Kind der
Moderne versteht, auf eine neue Selbstvergewisserung auf dem Boden
eben dieser Moderne angewiesen. Und was sie nun im Stadium dieser
Reflexivität entdeckt, ist - grob gesagt - ihre eigene
Bodenlosigkeit auf dem Boden der Moderne. Es gibt kein stabiles
Zentrum, keinen Kern dieser Reflexivität. Was sie als Grundlagen
sichtet, sind ein Konsens, der jederzeit aufgekündigt werden kann,
der Vertrag, der aufgelöst oder doch immer neu verhandelt werden
kann. Eine hochgradige Unsicherheit und Ungewissheit dringt in diese
Politik im Stadium ihrer Reflexivität ein. Dies ist in meinen Augen
auch die tiefere Wurzel für die heute viel beklagte
Politiklosigkeit oder Politikverdrossenheit einerseits und für
fundamentalistische oder aber auch populistische Reaktionen im
Bereich demokratischer Politik anderseits. Kann hier eine
Aufklärung über das Verhältnis von Religion und Politik auf dem
Boden der Moderne produktiv etwas beitragen? Oder ist darüber
bereits alles gesagt und entschieden, sodass jeder Versuch einer
Neubestimmung dieses Verhältnis zu gefährlichen Reduktionen, zu
quasi-fundamentalistischen Entdifferenzierungen der Verhältnisse
und zu verfallstheoretischen Mutmaßungen über die Moderne
überhaupt führen muss? Strikte Trennung ist auch in
zeitgenössischen Theorien nicht immer vollzogen
Religiöse oder religionsfreie Symbolisierung
politischer Legitimität in der Moderne?
Es fällt in zeitgenössischen politischen Theorien auf, dass bei
allen Versuchen einer Trennung von Religion und Politik in der
Moderne die strikt religionsfreie Kodierung eben dieser modernen
Politik kaum vorkommt bzw. durchgehalten wird. Am ehesten noch in
zwei jüngeren Gesellschafts- und Politiktheorien in Deutschland.
Zum einen bei den jüngeren, post-marxistischen Frankfurtern,
speziell bei dem scharfsinnigen Helmut Dubiel. Für ihn ist
Demokratie "sozusagen die institutionalisierte Form des
öffentlichen Umgangs mit Ungewissheit". Immerhin riskiert
selbst Dubiel einen Bezug zur religiösen Symbolisierung: Er
definiert bezeichnenderweise "Demokratie als nachtraditionale
"Zivilreligion" (vgl. Dubiel S. 178) Zum anderen sind da
die Vertreter der sogenannten "riskanten Freiheiten", die
Theoretiker der Risikogesellschaft mit ihren eskalierenden
Individualisierungsprozessen. Riskante Freiheiten.
(Individualisierung in modernen Gesellschaften, hg. v. U. Beck und
E. Beck-Gernsheim, Frankfurt 1994) Deren Politikbegriff mündet
freilich nicht in den Diskurs, sondern in eine Art
existentialpolitischen Dezisionismus.
Religionsfreie Politik der Theoretikerin Hannah
Arendt
Als die Theoretikerin einer strikt religionsfernen Politik auf
dem Boden der Moderne gilt Hannah Arendt. Sie erkennt in den
neuzeitlichen Revolutionen eine völlig neue, säkulare Begründung
politischen Handelns, das sich epochal von allen vormodernen
Politikformen und deren Legitimationsquellen unterscheidet. Ist es
dann aber nur Ausdruck von Inkonsequenz (wie das zum Beispiel Dubiel
annimmt), wenn Hannah Arendt in ihrem Revolutionsbuch bei der Frage
nach der Behandlung von Legitimitätskrisen doch wieder auf
religionsnahe Symbolisierungen, also auf die quasi-kultische
Anrufung der Gründungsgeschichte dieser neuen Politik
zurückgreift? Oder gibt sie hier doch der typisch
angelsächsisch-nordamerikanischen zivilreligiösen Begründung von
Politik auf dem Boden der Moderne nach?
"Über die Demokratie in Amerika" von
Tocqueville
In seinem berühmten Werk "Über die Demokratie in
Amerika" schreibt Alexis de Tocqueville zu diesem
Begründungszusammenhang: "Der Despotismus kommt ohne Glauben
aus, die Freiheit nicht. Der Republik ist die Religion viel
notwendiger als der Monarchie, und den demokratischen Staatswesen
mehr als allen anderen. Wie könnte die Gesellschaft dem Untergang
entrinnen, wenn sich das sittliche Band nicht festigt, derweil das
politische sich lockert? Und was soll man tun mit einem Volk, das
als Herr seiner selbst nicht Gott untertan ist? " (A. de
Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, München 1976. 340)
Seit Robert Bellahs (und seiner Mitarbeiter) einflussreichem Werk:
`Habits of the Heart' (Berkeley 1985) spielen diese Zusammenhänge
in der amerikanischen Kommunitarismusdebatte eine wichtige Rolle,
auch wenn sich der amerikanische Religionsbegriff seit seiner
Beschreibung durch Tocqueville beträchtlich entsubstantialisiert
hat, sodass man kaum mehr sehen kann, wie diese Art von Religion
überhaupt die moderne freiheitliche Politik vor den
zerstörerischen Folgen einer Überindividualisierung bewahren kann.
Immerhin verweist die Kommunitarismusdebatte in all ihren, teilweise
geradezu gegensätzlich anmutenden Schattierungen auf die
Schwierigkeit, Religion und Politik adäquat zu entkoppeln.
Agnes Hellers "Politik nach dem Tod
Gottes"
In Agnes Hellers "Politik nach dem Tod Gottes" behält
die Politik auf dem Boden der Moderne gleichwohl einen formalen
geschichtstheologischen Rahmen. Unter Hinweis auf einen
"schwachen Messianismus" bei Jacques Derrida formuliert
sie: "Der leere Stuhl wartet auf den Messias. Wenn jemand
diesen Stuhl besetzt, kann man sicher sein: es handelt sich dabei um
den pervertierten oder verlogenen Messias. Wenn jemand den Stuhl
wegnimmt, dann ist die Vorführung zu Ende und der Geist wird die
Gemeinde verlassen. Die Politik kann diesen unbesetzten Stuhl nicht
gebrauchen; aber solange man den Stuhl belässt, wo er ist, genau
dort im Zentrum des Raumes, wo er in seiner warnenden, vielleicht
sogar pathetischen Leere fixiert bleibt, müssen die politischen
Handlungsträger sein Dasein immer noch in Rechnung stellen.
Zumindest steht es ihnen frei, sein Dasein in Rechnung zu stellen.
Alles übrige ist Pragmatismus." (A. Heller, Politik nach dem
Tod Gottes; in: Instanzen/ Perspektiven/Imaginationen, Hg. von J.
Huber und A. M. Müller, Zürich 1995, 75-94, hier: 94) Für mich
finden sich darin Anklänge an neuere politische Philosophien in
Frankreich, wie z. B. bei Claude Lefort, bei Marcel Gauchet u.a. mit
der bezeichnenden Rede von einer "leeren Stelle der
Macht", von einer "leeren Stelle des Sakralen", die -
nach Lefort - die Bedingung dafür ist, dass die moderne
Gesellschaft von sich selbst das Bild einer autonomen Gesellschaft
entwickeln kann.
Das Böckenförde-Paradox
In der deutschen Szene bleibt die liberale politische Philosophie
beunruhigt vom sogenannten Böckenförde-Paradox. Nach Ernst
Wolfgang Bökkenförde lebt der moderne liberale Rechtsstaat von
Voraussetzungen, die er selbst weder produzieren noch garantieren
kann, und die er deshalb ohne Restitutionsmöglicheit verbraucht.
Erneut verweist dieses metapolitische Paradoxon auf die Abstraktheit
der liberalen Trennung von Religion und Politik auf dem Boden der
Moderne. Viele vermuten darin freilich eine theoretische Nähe zur
verhängnisvollen Politischen Theologie des Carl Schmitt, eine
Nähe, aus der dieses Paradox vermutlich auch kommt. Indes, lässt
sich die in diesem Paradox formulierte Kritik an der abstrakten
Trennung von Religion und Politik auf dem Boden der Moderne nicht
auch anders deuten und begründen, im Stile eben einer "neuen
Politischen Theologie", für die ich meinerseits eintrete? Sie
geht davon aus, dass eine kritische Infragestellung der liberalen
Trennung von Religion und Politik keinesfalls - wie bei Carl Schmitt
und seinen Gewährsmännern, wie bei Donoso Cortes, wie bei den
französischen Traditionalisten zu Aufklärungsfeindlichkeit und
Demokratiefeindlichkeit führen muss. Sie geht davon aus, dass eine
kritische Annäherung von Religion und Politik auf dem Boden der
Moderne keineswegs notwendig zu einer dezisionistischen
Staatstheorie führen muss und zu einer Absage an jede
vernunftrechtliche Begründung politischen Denkens und Handelns.
Diskussion des Begriffs Vernunft
Eine kritische Annäherung von Religion und Politik in einer
neuen Politischen Theologie. Zu einer äußerst knappen Begründung
dieser Perspektive der neuen Politischen Theologie verweise ich auf
die berühmte Aufklärungsdefinition Kants, wonach aufgeklärt ist,
wer "von seiner Vernunft in allen Stücken einen öffentlichen
Gebrauch macht". Gewiss, diese klassische
Aufklärungsdefinition ist heute äul3erst erklärungsbedürftig -
im Blick auf "Öffentlichkeit" ebenso wie auf
"Vernunft". Wer kann heute noch von "der"
Vernunft sprechen, von der einen und universalen Vernunft?
Vernunftkonnotationen sind unentbehrlich geworden. Jürgen Habermas
leistet sie zum Beispiel in einer politiktheoretisch höchst
einflussreichen Weise mit seinem Begriff der kommunikativen
Vernunft. Demokratietheoretisch führt sie meines Erachtens freilich
zum sogenannten Diskurskonzept und damit zum "blinden Fleck des
Prozeduralismus". Bei aller Bewunderung für die kommunikative
Handlungstheorie möchte der politische Theologe in mir diesen
"blinden Fleck" weghaben, und ich empfehle deshalb immer
wieder und erneut die Ausweitung der Konnotation des
Vernunftbegriffes auf erinnerungsbegabte, auf anamnetische Vernunft
- in einer Art gegenseitiger, nicht umkehrbarer Priorität zwischen
anamnetischer und kommunikativer Vernunft.
Erinnerung ist wesentlicher Bestandteil der
Vernunft
Die Aufklärung hat in der von ihr entwickelten Vernunftgestalt
ein tiefsitzendes Vorurteil nie überwunden: das Vorurteil
gegenüber der Erinnerung. Sie fördert Diskurs und Konsens und
unterschätzte - in ihrer abstrakt-totalen Kritik an Traditionen die
intelligible und kritische Macht der Erinnerung. Erst im Lichte
anamnetischer Vernunft lässt sich meines Erachtens den inzwischen
meist schon wieder vergessenen oder verdrängten Einsichten der
"Dialektik der Aufklärung" Rechnung tragen; erst in ihrem
Licht kann die Aufklärung sich über das von ihr selbst
angerichtete Unheil aufklären, und erst in ihrem Licht kann sie
sich über die moralische und politische Erschöpfung der
Aufklärung bzw. der europäischen Moderne verständigen. Ihren
aufklärungs- und modernitätsverträglichen Charakter und ihren
legitimen Universalismus gewinnt die anamnetische Vernunft dadurch,
dass sie sich von einer bestimmten Erinnerung leiten lässt, von der
memoria passionis, also von der Leidenserinnerung, näher hin von
der Erinnerung fremden Leids.
Ableitung der Vernunft von einem Leidensapriori
Anamnetische Vernunft ist deshalb nicht primär von einem
Verständnisapriori, sondern von einem Leidensapriori geleitet. Es
enthält die metapolitische Garantie einer Zuwendung der einen zu
den anderen vor jedem Tausch- und Konkurrenzverhältnis. Es erhebt
gegenüber dem Diskurskonzept und seiner strikt posttraditionalen
Verfahrensrationalität in der Politik den Verdacht, dass diese
vermeintlich voraussetzungslose Rationalität schließlich doch von
einem Apriori geleitet ist, nämlich von einem (verdeckten)
Markt-Apriori, das darauf baut, dass der Markt die
verständigungsbereiten Einstellungen prämiert. Das Leidensapriori
anamnetischer Vernunft orientiert den politischen Diskurs in Zeiten
der Ungewissheit. Es wird zum Kriterium freiheitlicher Politik, wo
und wenn der rein prozedurale Gesichtspunkt zum Zustandekommen einer
politischen Entscheidung nicht zureicht speziell in
Legitimationskrisen politischer Herrschaft. Wie anders kann sich
Demokratie freiheitlich gegen einen prozedural korrekt zur Macht
gekommenen, politischen Fundamentalismus schützen?
Aktuelle Beispiele von Leidenserinnerung
Offen zutage liegt die politische Macht der Leidenserinnerung in
den gegenwärtigen politischen Konfliktfeldern. Im ehemaligen
Jugoslawien führt die rein selbstbezügliche Leidenserinnerung der
einzelnen Ethnien von einer Gewaltorgie zur anderen. Die
Israel-Palästina-Verständigung hingegen begann mit der
gegenseitigen Versicherung von Rabin und Arafat, dass man nicht nur
der eigenen Leiden, sondern auch der Leiden der bisherigen Feinde
gedenken wolle.
Monotheismus und Universalismus
An den Grenzen der Moderne werden vor allem zwei problemsensible
Bereiche im Verhältnis von Monotheismus und Demokratie
überdeutlich: einmal das Problem des dem Monotheismus innewohnenden
Universalismus und dann das Problem der Tradition und
Repräsentation. Der Monotheismus ist ein Universalismus.
"Gott" ist entweder ein Menschheitsthema oder überhaupt
kein Thema, er geht entweder alle an oder niemanden; nur Götter
sind regionalisierbar, können mit begrenzter, geteilter Kompetenz
auskommen. Gerade dieser Universalismus bringt den Monotheismus in
unseren weltanschaulich pluralen Gesellschaften in besondere
Schwierigkeiten.
Monotheismus widerspricht dem Modernen
Von den Grenzen der Moderne her gesehen gilt jeglicher
Monotheismus in exemplarischer Weise als modernitätsunverträglich
und ist deshalb schärfster Kritik ausgesetzt. Indes,
der in der biblischen Gottespassion begründete Monotheismus ist
keineswegs identisch mit jenem "politischen Monotheismus",
wie ihn z. B. Erik Peterson im Rückgriff auf die
griechisch-hellenistische Spiegelung des Einen Gottes in der Einen
Herrschaft ("mon-arche") begründet sah. (Vgl. E.
Peterson, Der Monotheismus als politisches Problem, in: ders.,
Theologische Traktate, München 1951, 45-147) Denn der authentische
biblische Monotheismus ist eigentlich ein pathischer Monotheismus,
ein Monotheismus mit einer leidempfindlichen Flanke, ein
Monotheismus, der durch die ebenso unbeantwortbare wie
unvergessliche Theodizeefrage konstitutionell "gebrochen"
ist, ein Monotheismus, für den die Geschichte nicht einfach
Siegergeschichte ist, sondern vor allem Leidensgeschichte, ein
Monotheismus, der sich geschichtlich in der biblischen memoria
passionis konzentriert und der sich nur über das Eingedenken
fremden Leids, des Leids der anderen - bis hin zum Leid der Feinde -
universalisieren kann. Die Frage, die in unserem Zusammenhang zur
Verhandlung steht, ist also die, ob sich dieser Monotheismus mit
Modernitätsbedingungen des politischen Lebens verbinden lässt oder
nicht.
Die Autorität der Leidenden
Natürlich kennen auch die liberalen Traditionen, die von einer
strikten Trennung von Religion und Politik auf dem Boden der Moderne
ausgehen, einen politischen Universalismus, den Universalismus der
Politik der Menschenrechte. Freilich handelt es sich dabei um einen
prozeduralen Universalismus, um einen Universalismus der
Spielregeln, die ihrerseits eine Verständigung unter den Menschen
und in der Menschheit garantieren sollen. Gibt es denn, so frage
ich, keine normative Vorgabe für diese Verständigung, ist sie, um
es sehr deutlich auszudrücken, von keinerlei Autorität geleitet?
Doch, es gibt eine Autorität, die durch keine auf dem Boden der
europäischen Moderne entwickelte Autoritätskritik überholt ist:
die Autorität der Leidenden. Mit ihr muss meines Erachtens auch
jede universalistisch angelegte liberale Politik rechnen. Fremdes
Leid zu respektieren ist Bedingung aller politischen Kultur. Und
fremdes Leid zur Sprache zu bringen ist die Voraussetzung aller
universalistischen Ansprüche, wie sie sich in der
Menschenrechtspolitik formulieren. Nur so kann es Formen des
politischen Handelns, neue Formen der Solidarität geben, die
universell ausgerichtet sind, ohne totalitär zu werden.
Anamnetische Vernunft empfiehlt sich der
Moderne
Die Neubestimmung des Verhältnisses von Religion und Politik auf
dem Boden der Moderne schließt eine vernunftrechtliche Begründung
der Politik der Menschenrechte keineswegs aus. Freilich kann dabei
die formale Rationalität auf die Stützung durch anamnetische
Rationalität nicht verzichten. Universalität gewinnt diese
anamnetische Vernunft in der Gestalt des Eingedenkens fremden Leids
als der Grundlage aller universellen politischen Kultur, auch als
der kulturellen Reserven freiheitlicher Demokratie. Obwohl sie,
diese anamnetische Vernunft, von den großen monotheistischen
Traditionen mitgeprägt ist, obwohl sie also in diesem Sinne eine
vormoderne Herkunft hat, ist sie durchaus pluralismusfähig und
empfiehlt sich unter dem Apriori des Respekts vor fremdem Leid der
politischen Menschenrechtsdiskussion der Moderne.
Die politische Theologie Carl Schmitts setzt
auf die Erbsünde
Ich betone das so ausdrücklich und so ausführlich, weil, wenn
ich recht sehe, in der gegenwärtigen (nicht nur deutschen) Szene
wieder die andere Version politischer Theologie, die des Carl
Schmitt, an Gewicht gewinnt. (C. Schmitt, Der Begriff des
Politischen, Berlin= 1963, 32 (Text von 1932 mit einem Vorwort und
drei Corollarien) Während die neue Politische Theologie vom
Universalismus des Leidens ausgeht, ohne sich dabei von einem Mythos
der Leidfreiheit leiten zu lassen, setzt die Politische Theologie
Schmitts auf den Universalismus der Sünde, speziell der Erbsünde.
In ihm wurzelt nicht nur Schmitts Skepsis gegenüber der Fähigkeit
des Menschen zur demokratischen Selbstregierung, auf ihn geht auch
sein politisches Grundprinzip der Freund-Feind-Konstellation zurück
und auch seine Vorstellung von einer Gesellschaft, die allemal
latent in Bürgerkriege verstrickt ist und deshalb, zur
Niederhaltung dieser konstitutionellen Gefahr, des starken,
dezisionistischen Staates bedarf. In erstaunlicher Nähe zu Carl
Schmitt befindet sich heute ein Teil der ehemals linken Szene in
Deutschland, Leute wie Hans Magnus Enzensberger, Boto Strauß und
Karl-Heinz Bohrer.
Verbreiteter Dezisionismus
Dezisionismus scheint übrigens allseits angesagt: wenn nicht von
seiten des Staates, dann im Stile jenes existentialpolitischen
Dezisionismus, den unsere Theoretiker der "riskanten
Freiheit" propagieren. Für mich spiegelt sich in dieser neuen
Konjunktur des dezisionistischen Gedankens jene Ungewissheit und
Unsicherheit, die in die freiheitliche, rechtsstaatliche Demokratie
im Stadium ihrer Reflexivität eingedrungen ist. Ist deshalb
Demokratie nur noch als institutionalisierter Dauerdiskurs möglich?
Oder gibt es noch andere Weisen des demokratischen Umgangs in dieser
Situation des Umbruchs der Begründungslogik politischen Handelns?
Tradition und Repräsentation
Modernitätstheoretisch gesprochen gilt die sogenannte
Prämoderne als die Zeit der Gründung bzw. Stiftung
monotheistischer Religion, die Moderne hingegen als die Zeit ihrer
Kritik bzw. ihrer kritischen Begrenzung. Geht diese Kritik so weit,
dass sie alle traditionsgeleiteten Begründungsformen unterbindet?
Gibt es keinerlei diskursleitende Traditionen mehr, die diese
Diskurse vor ihren eigenen Formalismen und ihrer eigenen
inhaltlichen Verödung schützen könnten? Gibt es auf dem Boden der
Moderne noch Institutionen, die sich als akkumulierte Erinnerungen
begreifen, als Bereitstellung eines Erinnerungsvorrats zur
Strukturierung diffuser, diskursiv unbeherrschbarer Lebenswelten?
Gibt es auf dem Boden der Moderne noch Institutionen, die den
reflexiv gewordenen Umgang mit Traditionen auffangen können und die
damit auch die zumeist nur noch aporetisch formulierbare
Unverzichtbarkeit von Traditionen politisch und kulturell zur
Geltung bringen können? Gibt es solche Institutionen, und falls es
sie gibt: gehören dann nicht zu diesem Ensemble von Institutionen
auch und nicht zuletzt religiöse? Religiöse Institutionen also,
die einen freiheitsrettenden Kern gerade dadurch bergen, dass sie,
um hier das monotheistische Axiom erneut zu wiederholen, die von
ihnen repräsentierte memoria passionis als Erinnerung fremden Leids
darstellen? Gewiss, eine solche Definition der klassischen
religiösen Institution kann sich dem Verdacht der Idealisierung
kaum entziehen. Sie ist auch nur dadurch zu beglaubigen, dass sich
diese Institution ihrerseits immer neu jenem Gedächtnis unterwirft,
das sich in ihr akkumuliert hat, kurzum dass sie sich als eine
ecclesia semper reformanda darstellt.
Wer hilft dem Individuum in dieser komplexen
Welt?
Es ist die schiere Ausweglosigkeit, in die die Prozesse der
extremen Individualisierungen in unserer Gesellschaft treiben. Wer
kommt dem neuen Bedürfnis nach Reduktion unserer komplexen Welt
entgegen, nach Entlastung in unübersichtlichen Verhältnissen, nach
Strukturierung unserer diffusen Lebenswelten, nach Verlangsamung der
Beschleunigungsverhältnisse usw.? Wer kommt ihnen mit einem
strukturierenden Gedächtnis entgegen, das das Individuum vor
implodierenden Individualisierungsprozessen ebenso schützt wie vor
den Zugriffen des Leviathan, des starken Staats eines Carl Schmitt?
Hängt Demokratie- und Pluralismusfähigkeit letztlich nicht doch an
der Voraussetzung eines "Eingedenkens", das die
Selbstbezüglichkeit der Individuen durch den Respekt vor fremdem
Leid überwindet und so zur Grundlage aller politischen Kultur und
der kulturellen Reserven freiheitlicher Demokratie werden kann?
Womit schafft sich die Gesellschaft ihre Normen
?
Demgegenüber meint Dubiel dezidiert: "Am Ende des 20.Jhs.
existiert ... keine traditionsdefinierte Sittlichkeit mehr, in deren
Namen man eine in die Krise geratene Moderne wieder in ihre
Schranken verweisen könnte... Die avancierten Gesellschaften haben
längst damit begonnen, die kulturellen Bedingungen ihrer Existenz
selbst zu produzieren." (H. Dubiel, S. 149) Ist es nur
verbitterter Kulturpessimismus, wenn ich den Eindruck habe, dass die
von avancierten Gesellschaften produzierten kulturellen Bedingungen
über eine Logik des Marktes bzw. des Tausches kaum hinauskommen,
dass also die vermeintlich voraussetzungslose, rein formale
Rationalität unserer traditionsentkoppelten
Aufklärungsgesellschaften letztlich doch von einem (verdeckten)
Markt-Apriori geleitet ist? Da scheint mir das traditionsverwurzelte
Leidensapriori anamnetischer Vernunft doch verheißungsvoller - auch
und gerade für eine Politik "an den Grenzen der Moderne".
Denn es enthält, wie gesagt, die metapolitische Garantie einer
Zuwendung der einen zu den an
deren vor jedem Tausch- und Konkurrenzverhältnis und vor jedem
Diskurs. Mit Leidenden debattiert man nicht.
Der Konflikt zwischen Zivilisationen
Der Amerikaner Samuel Huntington spricht in seinem "Clash of
Civilizations?" (Samuel P. Huntington, The Clash of
Civilizations?, in: Foreign Affairs 72 (1993) 22-49) davon, dass die
globalen Konflikte von morgen nicht mehr durch politische
Machtblöcke definiert sein werden, sondern durch den Konflikt von
Zivilisationen bzw. Kulturen. Die These ist bekanntlich umstritten,
die in ihr enthaltene Frage jedoch von einiger Brisanz. Der Konflikt
des kulturellen Westens mit anderen Kulturen, z. B. und vor allem
mit der des Islams, lässt sich durchaus beschreiben als Konflikt
zwischen betont gedächtnisgeleiteten und betont diskursgeleiteten
Kulturwelten. Dabei wird deutlich, dass gedächtnisgeleitete
Kulturen gegenüber den diskursgeleiteten erkennbare Nachteile
haben. Sie haben Modernisierungshemmungen besonderer Art; sie
lähmen die Neugierde, verdächtigen das Experiment, ritualisieren
ihre Lebenswelt und sind allzu sehr auf reine Wiederholung bedacht;
fundamentalistische Verstrickungen liegen deshalb besonders nahe.
Gedächtnis soll seinen Stellenwert in der
Gesellschaft erhalten
Doch was wären Kulturen ohne jegliches verbindliches
Gedächtnis, Kulturen, die ausschließlich diskursorientiert sind,
Kulturen, in denen es nur ein diskursiv beherrschtes, aber kein die
Diskurse leitendes Gedächtnis mehr gibt? Wären in ihnen
schließlich die Menschen noch etwas anderes als das Experiment
ihrer selbst, Menschen, die in den von ihnen inszenierten
Beschleunigungsturbulenzen immer mehr sich selbst abhanden kommen?
Wie soll der europäische Westen auf der Basis kultureller Amnesie
die bevorstehenden Herausforderungen und Konflikte bestehen können?
An der Rettung eines kulturellen Gedächtnisses, geleitet vom
Eingedenken fremden Leids, hängt die Zukunft der europäischen
Moderne ebenso wie die Anerkennung der Würde fremder Kulturwelten.
Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn
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