Fachartikel

Monotheismus und Demokratie

Von Johann Baptist Metz (Biografie)

 

Nach heute geläufiger Auffassung bedeutet Politik der Moderne strikte Trennung gegenüber Religion und gegenüber allen religiösen Symbolisierungen politischer Legitimität. Ist das so, muss das so sein ? Wer diesen Modernisierungsvorgang bezweifelt, wer sich - vorsichtig - die Frage stellt, ob die radikale Privatisierung von Religion der modernen Politik in jeder Hinsicht gut ist für die Freiheit, muss selbst sehr auf der Hut sein, dass er damit nicht in antiliberale, fundamentalistische Fallen gerät. Aber ist einer denn dann schon ein demokratiefeindlicher Fundamentalist wenn er die Rechtfertigung einer politischen Entscheidung nicht ausschließlich nach der prozeduralen Korrektheit ihres Zustandekommens beurteilen will?

An den Grenzen der Moderne wird das Verhältnis von Religion und Politik, wie es sich bislang auf dem Boden der Moderne gestaltete, in neuer Weise brisant. Den dabei sich eröffnenden Perspektiven soll in einem Dreischritt nachgegangen werden.

Religion in der Kritik der Moderne

Religion ist hier in jener Gestalt verstanden, die das Verhältnis von Religion und Politik auf dem Boden der Moderne prekär macht, also als christliche Religion mit einem noch nicht völlig zersetzten monotheistischen Kern. Die geläufigen Modernitätstheorien haben diese Religion zur anachronistischen oder jedenfalls strikt privaten Gegenwelt erklärt und ihr jede Möglichkeit abgesprochen, das Verhältnis zwischen Religion und Politik kritisch-produktiv zu interpretieren und die Politik der Moderne im kritischen Stadium ihrer Reflexivität, im Umbruch der Legitimationslogik politischen Handelns - zu begleiten und zu schützen. Wie modernitätsverträglich ist eigentlich die Religion, wie religionsverträglich ist die Moderne? Vor allem der Monotheismus ist schärfster Kritik durch die Moderne ausgesetzt. Er gilt zumeist als Legitimationsquelle eines vordemokratischen, gewaltenteilungsfeindlichen Souveränitätsdenkens, als Wurzel eines obsoleten Patriarchalismus und als Inspirator politischer Fundamentalismen. Auf ihn ist unbedingt zurückzukommen - nicht zuletzt deswegen, weil das Verhältnis von Religion und Politik "an den Grenzen der Moderne" nicht ausschließlich im Blick auf das Spannungsfeld zwischen Christentum und Moderne diskutiert werden kann, sondern immer mehr auch das Verhältnis der anderen monotheistischen Religionen zur Moderne einbringen muß, also die monotheistische Wurzelreligion des Judentums wie vor allem auch den Islam und seinen pointierten Zivilisationskonflikt mit der europäischen Moderne.

Starke Unsicherheit der politischen Grundlagen

Politik ist hier verstanden als liberale, rechtsstaatliche Politik in der Phase ihrer Reflexivität. Das will sagen: Die liberale Substanz dieser Politik hat inzwischen die "negative Bürgschaft" (H. Dubiel, Ungewißheit und Politik, Frankfurt 1994, 93) durch die totalitären Systeme verloren und sieht die bisher unterstellten "Ligaturen" (Vgl. R. Dahrendorf, Freiheit und soziale Bindungen. Anmerkungen zur Struktur einer Argumentation, in: K. Michalski (Hg.), Die liberale Gesellschaft, Stuttgart 1993, 11-20) in der Gestalt vorreflexiver Traditions- und Milieubestände und kultureller Kohärenzen immer mehr wegbrechen. So ist diese Politik, die sich ihrerseits als das liebste Kind der Moderne versteht, auf eine neue Selbstvergewisserung auf dem Boden eben dieser Moderne angewiesen. Und was sie nun im Stadium dieser Reflexivität entdeckt, ist - grob gesagt - ihre eigene Bodenlosigkeit auf dem Boden der Moderne. Es gibt kein stabiles Zentrum, keinen Kern dieser Reflexivität. Was sie als Grundlagen sichtet, sind ein Konsens, der jederzeit aufgekündigt werden kann, der Vertrag, der aufgelöst oder doch immer neu verhandelt werden kann. Eine hochgradige Unsicherheit und Ungewissheit dringt in diese Politik im Stadium ihrer Reflexivität ein. Dies ist in meinen Augen auch die tiefere Wurzel für die heute viel beklagte Politiklosigkeit oder Politikverdrossenheit einerseits und für fundamentalistische oder aber auch populistische Reaktionen im Bereich demokratischer Politik anderseits. Kann hier eine Aufklärung über das Verhältnis von Religion und Politik auf dem Boden der Moderne produktiv etwas beitragen? Oder ist darüber bereits alles gesagt und entschieden, sodass jeder Versuch einer Neubestimmung dieses Verhältnis zu gefährlichen Reduktionen, zu quasi-fundamentalistischen Entdifferenzierungen der Verhältnisse und zu verfallstheoretischen Mutmaßungen über die Moderne überhaupt führen muss? Strikte Trennung ist auch in zeitgenössischen Theorien nicht immer vollzogen

Religiöse oder religionsfreie Symbolisierung politischer Legitimität in der Moderne?

Es fällt in zeitgenössischen politischen Theorien auf, dass bei allen Versuchen einer Trennung von Religion und Politik in der Moderne die strikt religionsfreie Kodierung eben dieser modernen Politik kaum vorkommt bzw. durchgehalten wird. Am ehesten noch in zwei jüngeren Gesellschafts- und Politiktheorien in Deutschland. Zum einen bei den jüngeren, post-marxistischen Frankfurtern, speziell bei dem scharfsinnigen Helmut Dubiel. Für ihn ist Demokratie "sozusagen die institutionalisierte Form des öffentlichen Umgangs mit Ungewissheit". Immerhin riskiert selbst Dubiel einen Bezug zur religiösen Symbolisierung: Er definiert bezeichnenderweise "Demokratie als nachtraditionale "Zivilreligion" (vgl. Dubiel S. 178) Zum anderen sind da die Vertreter der sogenannten "riskanten Freiheiten", die Theoretiker der Risikogesellschaft mit ihren eskalierenden Individualisierungsprozessen. Riskante Freiheiten. (Individualisierung in modernen Gesellschaften, hg. v. U. Beck und E. Beck-Gernsheim, Frankfurt 1994) Deren Politikbegriff mündet freilich nicht in den Diskurs, sondern in eine Art existentialpolitischen Dezisionismus.

Religionsfreie Politik der Theoretikerin Hannah Arendt

Als die Theoretikerin einer strikt religionsfernen Politik auf dem Boden der Moderne gilt Hannah Arendt. Sie erkennt in den neuzeitlichen Revolutionen eine völlig neue, säkulare Begründung politischen Handelns, das sich epochal von allen vormodernen Politikformen und deren Legitimationsquellen unterscheidet. Ist es dann aber nur Ausdruck von Inkonsequenz (wie das zum Beispiel Dubiel annimmt), wenn Hannah Arendt in ihrem Revolutionsbuch bei der Frage nach der Behandlung von Legitimitätskrisen doch wieder auf religionsnahe Symbolisierungen, also auf die quasi-kultische Anrufung der Gründungsgeschichte dieser neuen Politik zurückgreift? Oder gibt sie hier doch der typisch angelsächsisch-nordamerikanischen zivilreligiösen Begründung von Politik auf dem Boden der Moderne nach?

"Über die Demokratie in Amerika" von Tocqueville

In seinem berühmten Werk "Über die Demokratie in Amerika" schreibt Alexis de Tocqueville zu diesem Begründungszusammenhang: "Der Despotismus kommt ohne Glauben aus, die Freiheit nicht. Der Republik ist die Religion viel notwendiger als der Monarchie, und den demokratischen Staatswesen mehr als allen anderen. Wie könnte die Gesellschaft dem Untergang entrinnen, wenn sich das sittliche Band nicht festigt, derweil das politische sich lockert? Und was soll man tun mit einem Volk, das als Herr seiner selbst nicht Gott untertan ist? " (A. de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, München 1976. 340) Seit Robert Bellahs (und seiner Mitarbeiter) einflussreichem Werk: `Habits of the Heart' (Berkeley 1985) spielen diese Zusammenhänge in der amerikanischen Kommunitarismusdebatte eine wichtige Rolle, auch wenn sich der amerikanische Religionsbegriff seit seiner Beschreibung durch Tocqueville beträchtlich entsubstantialisiert hat, sodass man kaum mehr sehen kann, wie diese Art von Religion überhaupt die moderne freiheitliche Politik vor den zerstörerischen Folgen einer Überindividualisierung bewahren kann. Immerhin verweist die Kommunitarismusdebatte in all ihren, teilweise geradezu gegensätzlich anmutenden Schattierungen auf die Schwierigkeit, Religion und Politik adäquat zu entkoppeln.

Agnes Hellers "Politik nach dem Tod Gottes"

In Agnes Hellers "Politik nach dem Tod Gottes" behält die Politik auf dem Boden der Moderne gleichwohl einen formalen geschichtstheologischen Rahmen. Unter Hinweis auf einen "schwachen Messianismus" bei Jacques Derrida formuliert sie: "Der leere Stuhl wartet auf den Messias. Wenn jemand diesen Stuhl besetzt, kann man sicher sein: es handelt sich dabei um den pervertierten oder verlogenen Messias. Wenn jemand den Stuhl wegnimmt, dann ist die Vorführung zu Ende und der Geist wird die Gemeinde verlassen. Die Politik kann diesen unbesetzten Stuhl nicht gebrauchen; aber solange man den Stuhl belässt, wo er ist, genau dort im Zentrum des Raumes, wo er in seiner warnenden, vielleicht sogar pathetischen Leere fixiert bleibt, müssen die politischen Handlungsträger sein Dasein immer noch in Rechnung stellen. Zumindest steht es ihnen frei, sein Dasein in Rechnung zu stellen. Alles übrige ist Pragmatismus." (A. Heller, Politik nach dem Tod Gottes; in: Instanzen/ Perspektiven/Imaginationen, Hg. von J. Huber und A. M. Müller, Zürich 1995, 75-94, hier: 94) Für mich finden sich darin Anklänge an neuere politische Philosophien in Frankreich, wie z. B. bei Claude Lefort, bei Marcel Gauchet u.a. mit der bezeichnenden Rede von einer "leeren Stelle der Macht", von einer "leeren Stelle des Sakralen", die - nach Lefort - die Bedingung dafür ist, dass die moderne Gesellschaft von sich selbst das Bild einer autonomen Gesellschaft entwickeln kann.

Das Böckenförde-Paradox

In der deutschen Szene bleibt die liberale politische Philosophie beunruhigt vom sogenannten Böckenförde-Paradox. Nach Ernst Wolfgang Bökkenförde lebt der moderne liberale Rechtsstaat von Voraussetzungen, die er selbst weder produzieren noch garantieren kann, und die er deshalb ohne Restitutionsmöglicheit verbraucht. Erneut verweist dieses metapolitische Paradoxon auf die Abstraktheit der liberalen Trennung von Religion und Politik auf dem Boden der Moderne. Viele vermuten darin freilich eine theoretische Nähe zur verhängnisvollen Politischen Theologie des Carl Schmitt, eine Nähe, aus der dieses Paradox vermutlich auch kommt. Indes, lässt sich die in diesem Paradox formulierte Kritik an der abstrakten Trennung von Religion und Politik auf dem Boden der Moderne nicht auch anders deuten und begründen, im Stile eben einer "neuen Politischen Theologie", für die ich meinerseits eintrete? Sie geht davon aus, dass eine kritische Infragestellung der liberalen Trennung von Religion und Politik keinesfalls - wie bei Carl Schmitt und seinen Gewährsmännern, wie bei Donoso Cortes, wie bei den französischen Traditionalisten zu Aufklärungsfeindlichkeit und Demokratiefeindlichkeit führen muss. Sie geht davon aus, dass eine kritische Annäherung von Religion und Politik auf dem Boden der Moderne keineswegs notwendig zu einer dezisionistischen Staatstheorie führen muss und zu einer Absage an jede vernunftrechtliche Begründung politischen Denkens und Handelns.

Diskussion des Begriffs Vernunft

Eine kritische Annäherung von Religion und Politik in einer neuen Politischen Theologie. Zu einer äußerst knappen Begründung dieser Perspektive der neuen Politischen Theologie verweise ich auf die berühmte Aufklärungsdefinition Kants, wonach aufgeklärt ist, wer "von seiner Vernunft in allen Stücken einen öffentlichen Gebrauch macht". Gewiss, diese klassische Aufklärungsdefinition ist heute äul3erst erklärungsbedürftig - im Blick auf "Öffentlichkeit" ebenso wie auf "Vernunft". Wer kann heute noch von "der" Vernunft sprechen, von der einen und universalen Vernunft? Vernunftkonnotationen sind unentbehrlich geworden. Jürgen Habermas leistet sie zum Beispiel in einer politiktheoretisch höchst einflussreichen Weise mit seinem Begriff der kommunikativen Vernunft. Demokratietheoretisch führt sie meines Erachtens freilich zum sogenannten Diskurskonzept und damit zum "blinden Fleck des Prozeduralismus". Bei aller Bewunderung für die kommunikative Handlungstheorie möchte der politische Theologe in mir diesen "blinden Fleck" weghaben, und ich empfehle deshalb immer wieder und erneut die Ausweitung der Konnotation des Vernunftbegriffes auf erinnerungsbegabte, auf anamnetische Vernunft - in einer Art gegenseitiger, nicht umkehrbarer Priorität zwischen anamnetischer und kommunikativer Vernunft.

Erinnerung ist wesentlicher Bestandteil der Vernunft

Die Aufklärung hat in der von ihr entwickelten Vernunftgestalt ein tiefsitzendes Vorurteil nie überwunden: das Vorurteil gegenüber der Erinnerung. Sie fördert Diskurs und Konsens und unterschätzte - in ihrer abstrakt-totalen Kritik an Traditionen die intelligible und kritische Macht der Erinnerung. Erst im Lichte anamnetischer Vernunft lässt sich meines Erachtens den inzwischen meist schon wieder vergessenen oder verdrängten Einsichten der "Dialektik der Aufklärung" Rechnung tragen; erst in ihrem Licht kann die Aufklärung sich über das von ihr selbst angerichtete Unheil aufklären, und erst in ihrem Licht kann sie sich über die moralische und politische Erschöpfung der Aufklärung bzw. der europäischen Moderne verständigen. Ihren aufklärungs- und modernitätsverträglichen Charakter und ihren legitimen Universalismus gewinnt die anamnetische Vernunft dadurch, dass sie sich von einer bestimmten Erinnerung leiten lässt, von der memoria passionis, also von der Leidenserinnerung, näher hin von der Erinnerung fremden Leids.

Ableitung der Vernunft von einem Leidensapriori

Anamnetische Vernunft ist deshalb nicht primär von einem Verständnisapriori, sondern von einem Leidensapriori geleitet. Es enthält die metapolitische Garantie einer Zuwendung der einen zu den anderen vor jedem Tausch- und Konkurrenzverhältnis. Es erhebt gegenüber dem Diskurskonzept und seiner strikt posttraditionalen Verfahrensrationalität in der Politik den Verdacht, dass diese vermeintlich voraussetzungslose Rationalität schließlich doch von einem Apriori geleitet ist, nämlich von einem (verdeckten) Markt-Apriori, das darauf baut, dass der Markt die verständigungsbereiten Einstellungen prämiert. Das Leidensapriori anamnetischer Vernunft orientiert den politischen Diskurs in Zeiten der Ungewissheit. Es wird zum Kriterium freiheitlicher Politik, wo und wenn der rein prozedurale Gesichtspunkt zum Zustandekommen einer politischen Entscheidung nicht zureicht speziell in Legitimationskrisen politischer Herrschaft. Wie anders kann sich Demokratie freiheitlich gegen einen prozedural korrekt zur Macht gekommenen, politischen Fundamentalismus schützen?

Aktuelle Beispiele von Leidenserinnerung

Offen zutage liegt die politische Macht der Leidenserinnerung in den gegenwärtigen politischen Konfliktfeldern. Im ehemaligen Jugoslawien führt die rein selbstbezügliche Leidenserinnerung der einzelnen Ethnien von einer Gewaltorgie zur anderen. Die Israel-Palästina-Verständigung hingegen begann mit der gegenseitigen Versicherung von Rabin und Arafat, dass man nicht nur der eigenen Leiden, sondern auch der Leiden der bisherigen Feinde gedenken wolle.

Monotheismus und Universalismus

An den Grenzen der Moderne werden vor allem zwei problemsensible Bereiche im Verhältnis von Monotheismus und Demokratie überdeutlich: einmal das Problem des dem Monotheismus innewohnenden Universalismus und dann das Problem der Tradition und Repräsentation. Der Monotheismus ist ein Universalismus. "Gott" ist entweder ein Menschheitsthema oder überhaupt kein Thema, er geht entweder alle an oder niemanden; nur Götter sind regionalisierbar, können mit begrenzter, geteilter Kompetenz auskommen. Gerade dieser Universalismus bringt den Monotheismus in unseren weltanschaulich pluralen Gesellschaften in besondere Schwierigkeiten.

Monotheismus widerspricht dem Modernen

Von den Grenzen der Moderne her gesehen gilt jeglicher Monotheismus in exemplarischer Weise als modernitätsunverträglich und ist deshalb schärfster Kritik ausgesetzt. Indes,

der in der biblischen Gottespassion begründete Monotheismus ist keineswegs identisch mit jenem "politischen Monotheismus", wie ihn z. B. Erik Peterson im Rückgriff auf die griechisch-hellenistische Spiegelung des Einen Gottes in der Einen Herrschaft ("mon-arche") begründet sah. (Vgl. E. Peterson, Der Monotheismus als politisches Problem, in: ders., Theologische Traktate, München 1951, 45-147) Denn der authentische biblische Monotheismus ist eigentlich ein pathischer Monotheismus, ein Monotheismus mit einer leidempfindlichen Flanke, ein Monotheismus, der durch die ebenso unbeantwortbare wie unvergessliche Theodizeefrage konstitutionell "gebrochen" ist, ein Monotheismus, für den die Geschichte nicht einfach Siegergeschichte ist, sondern vor allem Leidensgeschichte, ein Monotheismus, der sich geschichtlich in der biblischen memoria passionis konzentriert und der sich nur über das Eingedenken fremden Leids, des Leids der anderen - bis hin zum Leid der Feinde - universalisieren kann. Die Frage, die in unserem Zusammenhang zur Verhandlung steht, ist also die, ob sich dieser Monotheismus mit Modernitätsbedingungen des politischen Lebens verbinden lässt oder nicht.

Die Autorität der Leidenden

Natürlich kennen auch die liberalen Traditionen, die von einer strikten Trennung von Religion und Politik auf dem Boden der Moderne ausgehen, einen politischen Universalismus, den Universalismus der Politik der Menschenrechte. Freilich handelt es sich dabei um einen prozeduralen Universalismus, um einen Universalismus der Spielregeln, die ihrerseits eine Verständigung unter den Menschen und in der Menschheit garantieren sollen. Gibt es denn, so frage ich, keine normative Vorgabe für diese Verständigung, ist sie, um es sehr deutlich auszudrücken, von keinerlei Autorität geleitet? Doch, es gibt eine Autorität, die durch keine auf dem Boden der europäischen Moderne entwickelte Autoritätskritik überholt ist: die Autorität der Leidenden. Mit ihr muss meines Erachtens auch jede universalistisch angelegte liberale Politik rechnen. Fremdes Leid zu respektieren ist Bedingung aller politischen Kultur. Und fremdes Leid zur Sprache zu bringen ist die Voraussetzung aller universalistischen Ansprüche, wie sie sich in der Menschenrechtspolitik formulieren. Nur so kann es Formen des politischen Handelns, neue Formen der Solidarität geben, die universell ausgerichtet sind, ohne totalitär zu werden.

Anamnetische Vernunft empfiehlt sich der Moderne

Die Neubestimmung des Verhältnisses von Religion und Politik auf dem Boden der Moderne schließt eine vernunftrechtliche Begründung der Politik der Menschenrechte keineswegs aus. Freilich kann dabei die formale Rationalität auf die Stützung durch anamnetische Rationalität nicht verzichten. Universalität gewinnt diese anamnetische Vernunft in der Gestalt des Eingedenkens fremden Leids als der Grundlage aller universellen politischen Kultur, auch als der kulturellen Reserven freiheitlicher Demokratie. Obwohl sie, diese anamnetische Vernunft, von den großen monotheistischen Traditionen mitgeprägt ist, obwohl sie also in diesem Sinne eine vormoderne Herkunft hat, ist sie durchaus pluralismusfähig und empfiehlt sich unter dem Apriori des Respekts vor fremdem Leid der politischen Menschenrechtsdiskussion der Moderne.

Die politische Theologie Carl Schmitts setzt auf die Erbsünde

Ich betone das so ausdrücklich und so ausführlich, weil, wenn ich recht sehe, in der gegenwärtigen (nicht nur deutschen) Szene wieder die andere Version politischer Theologie, die des Carl Schmitt, an Gewicht gewinnt. (C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin= 1963, 32 (Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien) Während die neue Politische Theologie vom Universalismus des Leidens ausgeht, ohne sich dabei von einem Mythos der Leidfreiheit leiten zu lassen, setzt die Politische Theologie Schmitts auf den Universalismus der Sünde, speziell der Erbsünde. In ihm wurzelt nicht nur Schmitts Skepsis gegenüber der Fähigkeit des Menschen zur demokratischen Selbstregierung, auf ihn geht auch sein politisches Grundprinzip der Freund-Feind-Konstellation zurück und auch seine Vorstellung von einer Gesellschaft, die allemal latent in Bürgerkriege verstrickt ist und deshalb, zur Niederhaltung dieser konstitutionellen Gefahr, des starken, dezisionistischen Staates bedarf. In erstaunlicher Nähe zu Carl Schmitt befindet sich heute ein Teil der ehemals linken Szene in Deutschland, Leute wie Hans Magnus Enzensberger, Boto Strauß und Karl-Heinz Bohrer.

Verbreiteter Dezisionismus

Dezisionismus scheint übrigens allseits angesagt: wenn nicht von seiten des Staates, dann im Stile jenes existentialpolitischen Dezisionismus, den unsere Theoretiker der "riskanten Freiheit" propagieren. Für mich spiegelt sich in dieser neuen Konjunktur des dezisionistischen Gedankens jene Ungewissheit und Unsicherheit, die in die freiheitliche, rechtsstaatliche Demokratie im Stadium ihrer Reflexivität eingedrungen ist. Ist deshalb Demokratie nur noch als institutionalisierter Dauerdiskurs möglich? Oder gibt es noch andere Weisen des demokratischen Umgangs in dieser Situation des Umbruchs der Begründungslogik politischen Handelns?

Tradition und Repräsentation

Modernitätstheoretisch gesprochen gilt die sogenannte Prämoderne als die Zeit der Gründung bzw. Stiftung monotheistischer Religion, die Moderne hingegen als die Zeit ihrer Kritik bzw. ihrer kritischen Begrenzung. Geht diese Kritik so weit, dass sie alle traditionsgeleiteten Begründungsformen unterbindet? Gibt es keinerlei diskursleitende Traditionen mehr, die diese Diskurse vor ihren eigenen Formalismen und ihrer eigenen inhaltlichen Verödung schützen könnten? Gibt es auf dem Boden der Moderne noch Institutionen, die sich als akkumulierte Erinnerungen begreifen, als Bereitstellung eines Erinnerungsvorrats zur Strukturierung diffuser, diskursiv unbeherrschbarer Lebenswelten? Gibt es auf dem Boden der Moderne noch Institutionen, die den reflexiv gewordenen Umgang mit Traditionen auffangen können und die damit auch die zumeist nur noch aporetisch formulierbare Unverzichtbarkeit von Traditionen politisch und kulturell zur Geltung bringen können? Gibt es solche Institutionen, und falls es sie gibt: gehören dann nicht zu diesem Ensemble von Institutionen auch und nicht zuletzt religiöse? Religiöse Institutionen also, die einen freiheitsrettenden Kern gerade dadurch bergen, dass sie, um hier das monotheistische Axiom erneut zu wiederholen, die von ihnen repräsentierte memoria passionis als Erinnerung fremden Leids darstellen? Gewiss, eine solche Definition der klassischen religiösen Institution kann sich dem Verdacht der Idealisierung kaum entziehen. Sie ist auch nur dadurch zu beglaubigen, dass sich diese Institution ihrerseits immer neu jenem Gedächtnis unterwirft, das sich in ihr akkumuliert hat, kurzum dass sie sich als eine ecclesia semper reformanda darstellt.

Wer hilft dem Individuum in dieser komplexen Welt?

Es ist die schiere Ausweglosigkeit, in die die Prozesse der extremen Individualisierungen in unserer Gesellschaft treiben. Wer kommt dem neuen Bedürfnis nach Reduktion unserer komplexen Welt entgegen, nach Entlastung in unübersichtlichen Verhältnissen, nach Strukturierung unserer diffusen Lebenswelten, nach Verlangsamung der Beschleunigungsverhältnisse usw.? Wer kommt ihnen mit einem strukturierenden Gedächtnis entgegen, das das Individuum vor implodierenden Individualisierungsprozessen ebenso schützt wie vor den Zugriffen des Leviathan, des starken Staats eines Carl Schmitt? Hängt Demokratie- und Pluralismusfähigkeit letztlich nicht doch an der Voraussetzung eines "Eingedenkens", das die Selbstbezüglichkeit der Individuen durch den Respekt vor fremdem Leid überwindet und so zur Grundlage aller politischen Kultur und der kulturellen Reserven freiheitlicher Demokratie werden kann?

Womit schafft sich die Gesellschaft ihre Normen ?

Demgegenüber meint Dubiel dezidiert: "Am Ende des 20.Jhs. existiert ... keine traditionsdefinierte Sittlichkeit mehr, in deren Namen man eine in die Krise geratene Moderne wieder in ihre Schranken verweisen könnte... Die avancierten Gesellschaften haben längst damit begonnen, die kulturellen Bedingungen ihrer Existenz selbst zu produzieren." (H. Dubiel, S. 149) Ist es nur verbitterter Kulturpessimismus, wenn ich den Eindruck habe, dass die von avancierten Gesellschaften produzierten kulturellen Bedingungen über eine Logik des Marktes bzw. des Tausches kaum hinauskommen, dass also die vermeintlich voraussetzungslose, rein formale Rationalität unserer traditionsentkoppelten Aufklärungsgesellschaften letztlich doch von einem (verdeckten) Markt-Apriori geleitet ist? Da scheint mir das traditionsverwurzelte Leidensapriori anamnetischer Vernunft doch verheißungsvoller - auch und gerade für eine Politik "an den Grenzen der Moderne". Denn es enthält, wie gesagt, die metapolitische Garantie einer Zuwendung der einen zu den an

deren vor jedem Tausch- und Konkurrenzverhältnis und vor jedem Diskurs. Mit Leidenden debattiert man nicht.

Der Konflikt zwischen Zivilisationen

Der Amerikaner Samuel Huntington spricht in seinem "Clash of Civilizations?" (Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs 72 (1993) 22-49) davon, dass die globalen Konflikte von morgen nicht mehr durch politische Machtblöcke definiert sein werden, sondern durch den Konflikt von Zivilisationen bzw. Kulturen. Die These ist bekanntlich umstritten, die in ihr enthaltene Frage jedoch von einiger Brisanz. Der Konflikt des kulturellen Westens mit anderen Kulturen, z. B. und vor allem mit der des Islams, lässt sich durchaus beschreiben als Konflikt zwischen betont gedächtnisgeleiteten und betont diskursgeleiteten Kulturwelten. Dabei wird deutlich, dass gedächtnisgeleitete Kulturen gegenüber den diskursgeleiteten erkennbare Nachteile haben. Sie haben Modernisierungshemmungen besonderer Art; sie lähmen die Neugierde, verdächtigen das Experiment, ritualisieren ihre Lebenswelt und sind allzu sehr auf reine Wiederholung bedacht; fundamentalistische Verstrickungen liegen deshalb besonders nahe.

Gedächtnis soll seinen Stellenwert in der Gesellschaft erhalten

Doch was wären Kulturen ohne jegliches verbindliches Gedächtnis, Kulturen, die ausschließlich diskursorientiert sind, Kulturen, in denen es nur ein diskursiv beherrschtes, aber kein die Diskurse leitendes Gedächtnis mehr gibt? Wären in ihnen schließlich die Menschen noch etwas anderes als das Experiment ihrer selbst, Menschen, die in den von ihnen inszenierten Beschleunigungsturbulenzen immer mehr sich selbst abhanden kommen? Wie soll der europäische Westen auf der Basis kultureller Amnesie die bevorstehenden Herausforderungen und Konflikte bestehen können? An der Rettung eines kulturellen Gedächtnisses, geleitet vom Eingedenken fremden Leids, hängt die Zukunft der europäischen Moderne ebenso wie die Anerkennung der Würde fremder Kulturwelten.

 

Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn

 

>> Religion in der Kritik der Moderne

>> Starke Unsicherheit der politischen Grundlagen

>> Religiöse oder religionsfreie Symbolisierung politischer Legitimität in der Moderne?

>> Religionsfreie Politik der Theoretikerin Hannah Arendt

>> "Über die Demokratie in Amerika" von Tocqueville

>> Agnes Hellers "Politik nach dem Tod Gottes"

>> Das Böckenförde-Paradox

>> Diskussion des Begriffs Vernunft

>> Erinnerung ist wesentlicher Bestandteil der Vernunft

>> Ableitung der Vernunft von einem Leidensapriori

>> Aktuelle Beispiele von Leidenserinnerung

>> Monotheismus und Universalismus

>> Monotheismus widerspricht dem Modernen

>> Die Autorität der Leidenden

>> Anamnetische Vernunft empfiehlt sich der Moderne

>> Die politische Theologie Carl Schmitts setzt auf die Erbsünde

>> Verbreiteter Dezisionismus

>> Tradition und Repräsentation

>> Wer hilft dem Individuum in dieser komplexen Welt?

>> Womit schafft sich die Gesellschaft ihre Normen ?

>> Der Konflikt zwischen Zivilisationen

>> Gedächtnis soll seinen Stellenwert in der Gesellschaft erhalten

 
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