Fachartikel

Geschlechterrollen in indischen Stammeskulturen und ihr religiöser Stellenwert

Von Traude Pillai-Vetschera (Biografie)

 

Im Hinduismus scheint - zumindest auf den ersten Blick - dem Weiblichen eine viel größere Bedeutung zuzukommen als in manch anderer Religion. Kriegerische Göttinnen wie Durga oder Kali bewähren sich im Kampf gegen übermächtige Dämonen und teilweise werden Gottheiten halb männlich - halb weiblich dargestellt. Es wäre allerdings falsch, aus all dem Schlüsse auf die Bedeutung der Frau in der religiösen Praxis ziehen zu wollen. In der Gesellschaft der Indo-Arier haben Männer einen höheren Stellenwert, bei den Adivasis, den "Ur-Einwohnern" Indiens, hingegen oft die Frauen.

 

Frauen scheinen in der Entwicklung sozialer, religiöser und philosophischer Gedankengebäude in Indien immer eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Vor allem die vedische Religion mit ihren orthodoxen Gesetzestexten unterdrückte die Frauen und setzte sie mit der Dienerklasse der Sudras gleich. Diesen war das Studium - und sogar das Hören - der heiligen Sanskrit-Texte verboten, und damit waren sie von der offiziellen Religion ausgeschlossen.

Die Rolle der Frau

Daseinszweck der Frau war es zu heiraten, ihrem Mann zu dienen und ihm Kinder zu gebären. Am deutlichsten wurden all diese Anforderungen an die Frauen unter den hohen Kasten Nordindiens umgesetzt. Im religiösen Bereich treten Frauen nach außen hin wenig in Erscheinung. Alle wichtigen Riten werden von der Priesterklasse der Brahmanen ausgeführt. In Wirklichkeit sind aber Frauen oft religiös viel aktiver als Männer: Häufig betreuen sie die Hausschreine, haben eigene Feste, Fasttage, Gesänge und Zeremonien, von denen die Männer weitgehend ausgeschlossen bleiben. Diese dienen zumeist wieder dem Zweck, von himmlischen Mächten langes Leben und Wohlergehen für Ehemänner und Söhne zu erwirken. Anders als im Norden stellt sich die Situation für die Frauen in Südindien dar, weil sich hier die männlich betonten Wertvorstellungen der Indo-Arier nie so vollständig durchsetzten konnten wie vor allem in der Gangesebene, und weil es hier auch andere Ehemodelle gibt. Trotzdem stellen auch die hohen Kasten im Süden die in den heiligen Schriften festgelegten Standards nicht in Frage.

Rigorose Ordnung gilt nicht für alle

Es gibt allerdings in Indien Bevölkerungsgruppen, die außerhalb dieser rigorosen Ordnung stehen. Zum ersten sind das die Kasten der ehemaligen "Unberührbaren", die nicht zu den vier "Klassen" des traditionellen indo-arischen Systems gehören und in der Hierarchie noch weit unter den Sudras stehen. Zum zweiten sind es die heute etwa 50 Millionen zählenden adivasi oder "Ur-Einwohner" - jene Gruppen, deren Kulturen als "Stammeskulturen"' bezeichnet werden und die überhaupt außerhalb des gesamten Kastensystems stehen.

Verbreitung der adivasi

Die adivasi zerfallen in zahlreiche ethnisch, linguistisch und kulturell unterschiedliche Gruppen. In manchen Landesteilen, wie in den kleinen Staaten Meghalaya, Nagaland oder Tripura im Nordosten, ist der Anteil von Stammesleuten an der Gesamtbevölkerung sehr hoch. Auch im sogenannten "tribal belt", der sich von Bihar im Osten quer über die bergigen Zonen Zentralindiens bis nach Rajasthan im Westen zieht, leben viele adivasi, darunter auch große Stämme von mehreren Millionen Menschen. In Südindien gilt vor allem die Bergzone der Nilgiris als Wohngebiet der Stammesleute. Theoretisch leben die adivasi in unzugänglichen Rückzugsgebieten und vermeiden Kontakte zur Hindu-Bevölkerung. Praktisch ist das heute nirgends mehr möglich, und die Grenzlinien zwischen Stammesleuten und Nicht-Stammesleuten sind oft viel unschärfer als vermutet. Besonders zwischen manchen Stämmen und niedrigen Hindu Kasten kann es aber große Ähnlichkeiten geben. Das beginnt bei der Religion.

Keine klare Trennlinie zwischen Stammesreligionen und Hinduismus

Oft ist es überhaupt schwer möglich, eine scharfe Trennlinie zwischen "Stammesreligionen" und Hinduismus zu ziehen, und in den Volkszählungsberichten scheinen adivasi, die nicht zum Christentum oder Islam bekehrt sind, heute durchwegs als "Hindus" auf. Im Laufe der Zeit sind neben anderen Einflüssen - auch viele Elemente aus Stammesreligionen in den offiziellen Hinduismus eingeflossen und haben ihn so vielfältig werden lassen, dass manche Autoren heute lieber von "Hindu-Religionen" im Plural sprechen (Figl Johann, Die Mitte der Religionen, Darmstadt 1993, Seite 33). Gerade die Volksreligion der niedrigen Kasten weist viele Gemeinsamkeiten mit religiösen Vorstellungen mancher adivasi au£ Bei beiden gibt es viel laxere Reinheitsgebote, hier wie dort finden wir starken Glauben an Geister und Magie, es gibt Schamanismus und Besessenheitsphänomene. Menschen, Götter und Geister bewegen sich in einer gemeinsamen Welt. Vorstellungen von Karma und Dharma sind vielen Stämmen fremd, und bei adivasis wie niedrigen Kasten werden "gut" und "böse" häufig weniger in einem ethisch/religiösen als in einem sozialen Kontext verstanden.

Stellung der Frau in niederen Kasten oft höher

Weiters haben bei Stämmen wie bei niederen Kasten Frauen oft einen besseren Status als bei höheren Kasten, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind viel freier und ungezwungener. Männer und Frauen arbeiten zusammen, zwischen Ehepartnern besteht eine persönlichere Beziehung, die Werbung ist "romantischer", es gibt Liebesabenteuer und Liebesfehden. Wo wenig Hindu-Einfluss vorhanden ist, heiraten adivasi als Erwachsene, wobei meist der Bursche älter ist (Mädchen zwischen 15 und 20, Burschen zwischen 18 und 25).  Vor allem bei den adivasi fehlt der Puritanismus der Hindus, Männer und Frauen können sich zusammen vergnügen, es gibt ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl aller Gruppenmitglieder, das oft in Liedern, Musik und Tanz seinen Ausdruck findet, wobei es manche Stämme in diesen Künsten zur Meisterschaft gebracht haben.

Unsicherer Status der Frau

Das alles heißt aber nicht, dass bei den adivasi Männer und Frauen etwa gleichen Status hätten. Wohl ist es schwer, wirklich sichere Aussagen zu treffen. Vom großen Stamm der Bhil in Rajasthan heißt es allgemein, dass bei ihnen Frauen einen guten Status hätten. Der Autor A. Rao beispielsweise kommt aber zu einem ganz anderen Schluss: Durch Bezahlung des Brautpreises werde eine Frau "gekauft". Sie soll den ganzen Tag auf dem Feld, im Wald, Haus, auf der Weide und auf dem Markt arbeiten und nebenbei so viele Kinder wie möglich gebären. Da viele Bhil-Männer dem Alkohol verfallen seien, müssten die Frauen oft die Familien durch ihre Arbeit erhalten. Polygynie sei früher häufiger gewesen als heute, komme aber vor allem aus Prestigegründen bei allen, außer bei den zum Christentum Bekehrten, immer noch vor. Eine Frau gilt nach Raos Ansicht kaum mehr als ein Rind. (Ibid, Seite 87) Auch dass Bhil-Frauen mit schwerem Messing- und manchmal auch Silberschmuck beladen sind, führt der Autor weniger auf die "Zuneigung eines freigiebigen Ehemannes" zurück, sondern eher auf dessen Prestigedenken - je besser eine Frau gekleidet und geschmückt ist, desto höher ist der Status ihres Mannes.

Allgemeine Aussagen zur Stellung der Frau kaum möglich

Es ist also nicht leicht, verlässlich über Stellung und Rolle der Frau innerhalb eines einzelnen Stammes etwas auszusagen. Noch schwieriger wird es, wenn wir allgemeine Aussagen über Geschlechterrollen bei verschiedenen adivasi-Kommunitäten treffen wollen. Wirtschaftsformen und Sozialorganisation der einzelnen Stämme sind verschieden und wirken sich auf die Rollen der Frauen aus. Dazu kommt, dass sich etliche Stammeskulturen im Umbruch befinden. In vielen Gebieten gab es noch kürzlich die unbeschränkte tropische Fruchtbarkeit der früheren Zeiten und damit für die adivasi ein verhältnismäßig sorgloses Leben. Heute gibt es immer weniger adivasi-Kommunitäten, deren Lebensraum zumindest einigermaßen intakt ist und die wenigstens noch eingeschränkten Zugang zu Wäldern und natürlichen Ressourcen haben. Durch die auftretenden Probleme ändern sich aber oft nicht nur die Lebensweisen, sondern auch viele Haltungen innerhalb der Gruppe.

Arbeitsteilung der Geschlechter

In einer halbwegs funktionierenden Ökonomie ist bei den adivasi traditionsgemäß die Familie wichtigste Produktionseinheit. Erzeugt wird das, was die Familie braucht. Männer wie auch Frauen arbeiten, meist gibt es dabei eine nach Alter und Geschlecht wohlorganisierte Arbeitsteilung. Frauen werden als schwächer angesehen und erhalten zumeist Arbeiten, die weniger Kraft erfordern als die der Männer. Praktisch überall ist es die erste Frauenpflicht, sich um den Haushalt und die kleinen Kinder zu kümmern, aber dazu kommen noch manch andere Tätigkeiten. Bei Stämmen, die Bodenbau betreiben, obliegt die schwerere Arbeit den Männern: das Abholzen des Waldes, Errichten von Erddämmen und Vorbereiten des Feldes. Beim Säen, Unkrautjäten und Ernten helfen die Frauen. Säen ist oft ausschließlich oder zumindest vorwiegend Sache der Frauen. Fruchtbarkeitsvorstellungen sind hier sicher von Bedeutung. Wo Reis angebaut wird, sind es Frauen, die stundenlang im Wasser stehen und die Reisschösslinge einsetzen. Auch Jäten ist in erster Linie Frauenarbeit. Allerdings gibt es immer wieder Ausnahmen: Bei den Bagatas in Vishakhapatnam (Andhra) sollen angeblich die Frauen, selbst die alten, mit einer besonderen Hacke nach dem ersten Regen den Boden für das Säen vorbereiten, das Jäten wird aber von Burschen und Mädchen gemeinsam besorgt (L. P. Vidyarthi und B. K. Rai; The Tribal Culture of India, N. Delhi 1985, Seite 101). Bei den einfacheren Jäger- und Sammlergruppen vor allem in Südindien waren die Tätigkeiten der Stammesmitglieder nicht so vielfältig. Junge und erwachsene Männer gingen jagen, fischen und sammelten im Wald Honig, während die Frauen Wurzeln, Früchte und Brennholz suchten. Sicher gäbe es über Arbeitsteilung und Geschlechterrollen im alltäglichen Leben der adivasi noch viel zu sagen. Werfen wir aber nun einen Blick auf den Bereich des Religiösen und stellen uns die Frage nach den "Spezialisten des Heiligen".

Priester und Priesterinnen

Manchmal kann in einer Stammeskommunität weltliche Gewalt und priesterliche Würde in einer Hand vereint sein d.h. der älteste Mann ist gleichzeitig Oberhaupt des Dorfes und Priester (z.B. in manchen Kharia-Dörfern in Orissa). Indienweit ist aber meist der Dorfvorsteher eine Person, die nur für die weltlichen Belange zuständig ist, während sich eine andere Person oder sogar verschiedene Arten von Priestern um die religiösen Belange kümmern. So wie der Dorfvorsteher der Mittelsmann zwischen dem Dorf und der Außenwelt ist, sind die verschiedenen Priester Mittelsleute zwischen dem Dorf und den Gottheiten und der Welt des Übernatürlichen. Jede adivasi-Kommunität hat einen Priester oder eine kleine Gruppe von zwei oder drei Personen, die als "Spezialisten des Heiligen" gelten. Oft stammen all diese Leute aus ein und derselben Priesterfamilie und vielleicht einer ihr zugehörigen Familie von priesterlichen Gehilfen. Natürlich gibt es in den verschiedenen Stammessprachen auch verschiedene Bezeichnungen für diese besonderen Personen und ihre Ämter. Bei Stammesleuten wie bei Hindus sind in den allermeisten Fällen die Priester männlichen Geschlechts, und nur äußerst selten (wie z.B. bei den Kuvi Kandhas in Orissa) beschwichtigen Priesterinnen, die von anderen weiblichen Gehilfinnen unterstützt werden, die Götter. Auch die ebenfalls in Orissa beheimateten Saoras haben Schamaninnen und Priesterinnen, die verschiedene Rituale durchführen. (Vidyarthi, op. cit., Seite 258)

Aufgaben der Priester

Die Aufgaben eines religiösen Praktikers können sehr vielfältig sein, beziehungsweise können für die verschiedenen Arten von Tätigkeiten verschiedene Funktionäre zur Verfügung stehen, die dann auch eigene Titel tragen. Der Zauberpriester bei den Bhil und Mina in Rajasthan und angrenzenden Gebieten kann gleichzeitig Opferer, Besessenheits-Schamane, Wahrsager und Krankenheiler sein. Bei anderen Stämmen dagegen kann es viele verschiedene religiöse Funktionäre geben: einen Dorfpriester, der die Opfer darbringt; den Schamanen, einen Gehilfen des Schamanen und eine Person, die sich vor allem um die Totenrituale kümmert. Bei vielen südindischen Stämmen sind häufig drei Funktionen - die des Priesters, des Zauberers und des Astrologen - auf drei verschiedene Personen aufgeteilt. (Ibid., Seite 260)

Darbringung von Opfern

Wichtige Aufgabe des Priesters kann es sein, die Opfergaben darzubringen, die ganz verschiedenartig sein können. Unter hinduistischem Einfluss werden nun häufig Blumen, Früchte und Süßigkeiten dargebracht. Häufig werden Götterbildnisse im Rahmen eines Opferrituals mit Zinnoberpaste bestrichen, mit Wasser übergossen, oder mit Schnaps beopfert. Die größeren und wichtigeren Opfer sind aber oft auch heute noch Blutopfer von Hühnern, Ziegen und vor allem von männlichen Büffelkälbern. Die Gond- und Bhumia Familien bringen ihrer Gottheit Narayan deo alle 9 - 12 Jahre ein "großes Schweineopfer" dar, um vor Unheil geschützt zu sein. Das Opfer wird von Männern dargebracht, das ausgewählte Schwein aber ist vom Moment seiner Bestimmung unter der Obhut der Hausfrau, die sich gut um das Tier kümmern muss. Wenn das Opfer schließlich dargebracht ist und die Fleischteile des Opfertieres gekocht werden, fordert die Ehefrau eine Extraportion als Belohnung für ihre Mühe ein und auch dafür, dass das Schwein bis zu seinem Tod gut versorgt gewesen ist.

Männer töten, Frauen versöhnen

Es scheint manchmal so zu sein, dass Frauen die Tiere versöhnen, die von den Männern getötet werden. Noch ausdrücklicher kommt dieser Aspekt in einer Bemerkung Fürer-Haimendorfs zum Ausdruck, Er konnte beobachten, dass beim Stamm der Reddi (nahe der Mündung des Godavari-Flusses) ein Bär geschossen wurde. Die Mutter des Jägers führte ein eigenes Ritual aus, um das getötete Tier ausdrücklich um Verzeihung zu bitten. (Ch. V. Fürer-Haimendorf, Life Among Indian Tribes, Delhi 1991, Seite 53)

Die Zeremonie der Opfergebung

Das Opfer wird meist durch das Hersagen heiliger Formeln begleitet, und die Gottheit wird während der Opferdarbringung um Gesundheit, Wohlstand für das Dorf und Wohlergehen aller Dorfbewohner angefleht. Ein Aspekt des Opfers, der nun etwas an Bedeutung verloren hat, früher aber ungeheuer wichtig war, ist die Bitte um Schutz vor epidemischen Krankheiten. Vor allem weibliche Dorfgottheiten beschützen zwar einerseits das Dorf vor Übel, sind oft aber gleichzeitig mit den schweren Krankheiten wie Pocken oder Cholera verbunden und können diese schicken, wenn sie verärgert sind. Brach eine Epidemie aus, so mussten komplexe Rituale durchgeführt werden, an denen oft Frauen teilhatten. Häufig war ihre Funktion darauf beschränkt, die Krankheitsgöttin, die mit umfangreichen Zeremonien und Opfergaben aus dem Dorf "hinausgeleitet" wurde, zu verkörpern. Oft wurde die Rolle der "Krankheitsgöttin" auch durch eine Ziege gespielt. Solche Zeremonien wurden auch in Hindu-Dörfern von Angehörigen der niedrigen Kasten durchgeführt, da vor allem aus deren Reihen die Priester der Krankheitsgöttinnen kamen.

Seuchen zur Steigerung der Fruchtbarkeit der Erde

Manche adivasi sehen Seuchen als ein Mittel der "Erdgöttin", um wieder zu Kräften zu gelangen: So meinen die Bhumia oder Gond, dass die Erdmutter Prithwi mata nach vielen Jahren des Bodenbaues erschöpft sei und "Menschenopfer" verlange. Sie gibt ihrem Begleiter Malhin den Auftrag, ihr diese Opfer zu beschaffen, und eine tödliche Krankheit bricht aus. Viele Menschen sterben. Die Toten werden nicht, wie sonst üblich, auf dem Scheiterhaufen verbrannt, sondern begraben. Diese "Opfer" verleihen der Erde dann neue Fruchtbarkeit. Wenn die Seuche schließlich verebbt, ist das ein Zeichen dafür, dass die Erdmutter zufriedengestellt ist und in den nächsten Jahren eine bessere Ernte erlauben wird.

Männer als Krankenheiler

Wie schon erwähnt, sind viele Priester gleichzeitig auch Schamanen - meist allerdings nicht von der Art, die ihren eigenen Geist auf Wanderschaft in die jenseitigen Gefilde sendet. Bei Stämmen ganz im Nordosten kommt auch diese Art des Schamanismus vor, viel häufiger aber ist der sogenannte "Besessenheitsschamanismus": Die Gottheit oder der besondere Schutzgeist des Priesters ergreift vom Menschen Besitz und spricht durch dessen Mund. Im Trance-Zustand kann der Priester die Ursachen von Krankheiten und Unheil feststellen - zumeist sind diese übernatürlicher Art, z.B. dass jemand einer Gottheit ein Opfer versprochen hatte und es dann nicht darbrachte; dass man unabsichtlich ein im Wald aufgestelltes Idol beschmutzt hatte oder darauf getreten war. Manchmal kann aber auch ein unliebsamer Totengeist dafür verantwortlich sein, dass ein Mensch "krank" erscheint, physisch verfällt, plötzlich mit seiner ganzen Umgebung Streit beginnt, ungewohnte Verhaltensweisen an den Tag legt, seltsame Essgelüste zeigt und einfach ganz allgemein nicht mehr wiederzuerkennen ist. Der Zauberpriester kann helfen, indem er die Identität des Totengeistes feststellt, der vom Kranken Besitz ergriffen hat, und diesen dann mittels eines umfangreichen Rituals aus dem Körper der betroffenen Person entfernt. Obgleich in seltenen Fällen die Rollen vertauscht sein können, sind bei vielen Stammesgruppen meist Frauen diejenigen, die vom Bösen befallen werden und Hilfe brauchen. Männer dagegen stehen eher mit den übernatürlichen Mächten in Verbindung und können diese Hilfe gewähren.

Frauen als Hexen

Der Verdacht, dass eine kinderlose, noch dazu oft schlecht gelaunte und

streitsame Frau von einem bösen Geist besessen sei, kann manchmal durch einen noch schlimmeren verdrängt werden: nämlich dass die Frau selbst eine Hexe sei. Während Stammespriester zumeist Männer sind, werden auf dem Gebiet der Hexerei bei den adivasi Frauen durchwegs als viel aktiver angesehen als Männer. Wenn in einem Dorf ein Baum plötzlich vertrocknet, ein Ochse oder eine Kuh erkrankt, Unfälle und Krankheitsfälle gehäuft vorkommen, wird man zumeist meinen, dass eine Hexe die Hand im Spiel habe und versuchen, sie zu "identifizieren". Das kann gefährlich für Frauen sein, gegen die irgendjemand im Dorf etwas hat. Bei vielen Stämmen glaubt man, dass praktisch in jedem Dorf eine Hexe sei. Der Verdacht gegen eine bestimmte Person kann soweit führen, dass ganze Familien ihr Dorf verlassen müssen. Manchmal werden absichtliche Beschuldigungen wegen Hexerei angewandt, um eine missliebige Person, z.B. eine Schwiegertochter, loszuwerden. Die Frau wird solange beschuldigt, bis sie von selbst davonläuft oder ihr Mann die Scheidung vollzieht. Oft wird angenommen, dass Hexen ihrer Schutzgottheit regelmäßig Blutopfer darbringen müssen. Sie nehmen die Körperform einer Katze, einer Ratte oder eines Wurmes an und schleichen in Häuser, wo sie Menschen beißen, ihr Blut trinken und es dann vor dem Götterbildnis wieder ausspeien. Die gebissenen Menschen verfallen langsam und sterben schließlich.

Die Beweisdarlegung zur Feststellung einer Hexe

Bevor eine Hexe vor dem Ältestenrat des Stammes angeklagt werden kann, muss ihre Schuld durch einen religiösen Praktiker oder ein "Gottesurteil" festgestellt werden. Fuchs berichtet, dass bei den Stämmen der Gond und Bhumia eine Eisenstange bis zur Rotglut erhitzt wird, verdächtigte Frauen müssen ihre Hände in erwärmtes, flüssiges Butterschmalz tauchen und dann die Eisenstange "melken", d.h. beide Hände die Stange entlanggleiten lassen. Sieht man keine Brandspuren, so wird die Frau als unschuldig angesehen. Besonders leicht ist es, Hexen in den Neumondnächten nach dem Diwali-Fest zu fangen, da sie während dieser dunklen Nächte nackt durch das Dorf ziehen. Ihre Kleider lassen sie beim Schrein ihrer besonderen Schutzgottheit zurück. Mutige Männer gehen zu den Schreinen und brennen Löcher in die dort abgelegten Kleider. Am nächsten Tag ist es leicht, die Frauen anhand dieser Löcher in ihren Saris zu erkennen. Sie werden dann mit Ästen der Rhizinus-Pflanze geschlagen, bis sie ihre Schuld bekennen, denn nur diese Pflanzenzweige können einer Hexe Schmerz zufügen. (Stephan Fuchs, The Gond and Bhumia of Gastern Mandla, Bombay 1968, Seite 546-564)

Weitere Praktiken zum Nachweis einer Hexe

Andere Stämme haben andere Methoden, um Hexen ausfindig zu machen. Auch bei den Bhils fürchtet man Frauen als potentielle Hexen und kennt ein "Wasserurteil", mit dessen Hilfe der Zauberpriester (bhopa) eine Hexe identifizieren kann. Die Frau wird in einen Ochsen-Packsack gesteckt, in den anderen kommen drei trockene Kuhdung-Fladen, dann wird alles ins Wasser geworfen. Wenn die Frau untergeht, ist sie keine Hexe, wenn sie auf der Wasseroberfläche schwimmt, ist sie eine. Oder die Frau wird zu einem Gewässer geführt, in dem ein langer Bambusstab in den Schlamm gerammt worden ist. Sie muss entlang des Stabes zum Grund hinuntertauchen, während ein Mann einen Pfeil abschießt und ein anderer läuft und den Pfeil zurückbringt. Kann die Frau während dieser ganzen Zeit unter Wasser bleiben, wird sie als unschuldig angesehen; muss sie zwischendurch hochkommen und Luft holen, ist sie eine Hexe und muss "geschwungen" werden. Dazu wird sie mit Seilen hoch an einem Baum angebunden, um ihre Augen bekommt sie eine mit roten Chillie-Schoten gefüllte Binde, und dann wird sie an den Seilen hin- und hergeschwungen (Rao, op. cit. Seite 28-29).

Frauen als böse Geister

Frauen können nicht nur als Hexen, sondern - nach ihrem Tod - auch als böse Geister gefährlich werden. Männer können zwar ebenso wie Frauen bei vielen adivasi zu Geistern werden, wobei die Vorstellungen von der Geisterwelt oder überhaupt vom Leben nach dem Tod bei manchen Kommunitäten sehr vage, bei anderen wieder sehr detailliert und ausgeprägt sein können. Überall ist der Glaube verbreitet, dass ein Mensch, der noch irgendeinen großen Wunsch hatte oder eine "Arbeit" nicht erledigt hatte, als unzufrieden umherirrender Geist für andere Menschen eine große - unter Umständen tödliche - Gefahr darstellen kann. Die gefährlichsten Geister sind aber meist die von Frauen, die während oder kurz nach einer Geburt starben. Bei manchen Stammesgruppen gibt es besondere Vorkehrungen, um sich vor allem gegen sie zu schützen.

Tabus für Frauen aufgrund der Menstruation

Aus verschiedenen Gründen können Frauen von manchen Dingen in der Gemeinschaft ferngehalten werden und somit strengen Tabu-Vorschriften unterliegen. Bei manchen Stämmen müssen bestimmte Verhaltensregeln eingehalten werden, wenn eine Frau ihre Menstruation hat. Hindus sehen die monatliche Regelblutung im höchsten Maße rituell verunreinigend, und in orthodoxen Familien sind die Frauen während dieser Tage strikten Einschränkungen unterworfen. Bei den adivasi kümmert man sich weniger um rituelle Unreinheit, meint bei manchen Gruppen aber, dass das Menstruationsblut böse Geister stark anlocke. Dass die Gond keine menstruierende Frau berühren dürfen, weil sonst "die Ernte vernichtet würde", könnte wohl auf hinduistische Einflüsse zurückgehen.

Weitere Tabus für Frauen

Bei Stämmen, die Pflugbau betreiben, ist Frauen oft das Berühren des Pfluges untersagt. Sehr strenge Tabu-Regeln gibt es beim kleinen, aber sehr bekannten Stamm der Toda in den südindischen Nilgiri-Bergen. Im Zentrum der Toda-Religion steht der Büffelkult. Alles, was mit der Büffelmilch und deren Verarbeitung zu tun hat, wird als heilig angesehen und ist strikte den Männern vorbehalten. Frauen ist sogar der Zugang zu jener Zone verboten, in der die Milch gesammelt und verarbeitet wird. Der "Milchmann" ist gleichzeitig Priester. Er muss ein komplexes Initiations-Ritual über sich ergehen lassen, das letztlich einer Reinigungszeremonie entspricht. Hat er sein Amt angetreten, so muss er sein Leben nach strengen Regeln gestalten, z.B. darf er nur manchmal in seinem Wohnhaus schlafen, und er darf keiner Totenfeier beiwohnen (St. Fuchs, The Aboriginal Tribes of India, New Delhi 1973, Seite 286). Trotz dieser "Ausgrenzungen" sind Toda-Frauen stolz und unabhängig und sich ihrer guten Position innerhalb ihrer matrilinear organisierten Gesellschaft bewusst. Frauen können sogar aufgrund angeblicher Eigenschaften von manchen Dingen ausgegrenzt werden. Ghurye berichtet vom Stamm der Santals, dass geheime Namen von Familiengottheiten vom Vater an den Sohn weitergesagt werden, dass diese Namen aber vor den Frauen geheimgehalten werden, weil Frauen angeblich kein Geheimnis bewahren können. (G. S. Ghurye, The Scheduled Tribes, Bombay 1959, Seite 261)

Frauen als Beschützerinnen und als Künstlerinnen

Frauen können als potentielle Hexen oder böse Geister gefährlich werden. Andererseits meinen auch viele adivasi-Männer, dass Frauen das Leben der Stammesmitglieder sicherer, schöner und angenehmer machen können. Oft verstehen sich Frauen auf die Herstellung von Schutzamuletten gegen böse Einflüsse. Sie kennen Lieder, um Segen für Brautleute oder neugeborene Kinder zu erwirken, sie kümmern sich um junge Mütter und deren Babys und halten durch magische Praktiken (z.B. durch das Aufmalen von Götterbildern an den Hauswänden) Unheil von ihnen fern. Oft wird den Frauen einer Kommunität mehr ästhetisches Empfinden als den Männern der Gruppe nachgesagt, denn viele künstlerische Tätigkeiten werden eher von Frauen ausgeübt: ob das nun kunstvolle Bemalungen von Hauswänden sind, das Herstellen komplizierter Schmuckstücke aus einfachen Materialien, die Erzeugung von Holzkämmen und Haarnadeln. All das bereichert die Gemeinschaft und macht ihr Leben angenehmer.

Frauen in matrilinearen Kommunitäten

Man kann diesen Artikel nicht abschließen, ohne auf einige Sonderfälle unter den Stammespopulationen hinzuweisen, in denen die Frauen eine ganz andere Positionen haben als unter den übrigen Gruppen. Es sind das Kommunitäten, in denen "Mutterrecht" herrscht bzw. herrschte. Sicher geht man mit dem Begriff Matriarchat heute viel vorsichtiger um als früher. Der Terminus impliziert nämlich nicht nur, dass die Abstammung in mütterlicher Linie gerechnet wird, sondern auch, dass Frauen die Macht in der Gesellschaft ausüben. Nun gibt es aber in Indien keine Gesellschaft, die eine "matriarchalische Ordnung" im Sinne dieser Definition kennt, denn selbst in matrilinearen/matrilokalen Gesellschaften üben Männer meist die politische Macht aus und verwalten oft auch den Landbesitz.

Ausbreitung matrilinearer Gesellschaftsordnungen

Stammespopulationen, die eine matrilineare Gesellschaftsordnung kennen, finden sich in verschiedenen Landesteilen, vor allem in den Himalaya-Vorbergen, in manchen Zonen Südindiens und auf den Lakshadweep-Inseln. Wegen ihrer Sozialstruktur am bekanntesten sind Stämme im indischen Bundesstaat Meghalaya ("Wolkenland"). Neben vielen kleinen Stammesgruppen gibt es auch drei große Stammesverbände, die Khasi, Jaintia und Garo. Zusammen bilden sie etwa 80 Prozent der nicht ganz 1,8 Millionen Menschen zählenden Gesamtbevölkerung des Staates. Bei allen drei Stämmen ist die Verwandtschaftsrechnung matrilinear. Die Kinder gehören zum Clan der Mutter und führen deren Namen weiter. Der Familienbesitz wird von den Frauen weitergegeben, meist von der Mutter an die jüngste Tochter.

Bei den Khasi ist Religion in Hand der Frauen

Bei den Khasi führen viele Clans ihre Existenz auf eine gemeinsame Vorfahrin zurück, deren Namen in manchen Fällen bekannt ist, oder die sonst als kiaw, d.h. "Großmutter", bezeichnet wird. Die Religion liegt bei den Khasi großteils in der Hand der Frauen. Am wichtigsten ist die jüngste Tochter. In ihrem Haus versammeln sich alle zu Familienfeiern, sie führt die Familienzeremonien aus und beschwichtigt die Vorfahren. Vor allem führt sie auch die Begräbnisrituale für die Verstorbenen durch: Ein Verstorbener wird von den Angehörigen seines Mutterclans verbrannt, später werden die Gebeine eingesammelt und unter Auf sicht der jüngsten Tochter im Knochenhaus der Familie bestattet. Nur wenn diese Rituale ordnungsgemäß durchgeführt wurden, kann ein Verstorbener zu den Ahnen eingehen. Früher dürften Frauen auch die politische Macht ausgeübt haben und zeitlich begrenzt Verwaltungsaufgaben an Männer übernagen haben. Heute steht ein Mann einer Sippe einem Verwaltungsbezirk vor, die weibliche Sippenvorsteherin amtiert als "Hohepriesterin". In jedem Bezirk agieren sechs männliche Priester, die jeweils von einer Priesterin begleitet werden, und außerdem gibt es eine Ratsversammlung aus männlichen "Anführern" von jeweils 24 Matri-Clans. Man sieht also, dass selbst bei diesen Extrembeispielen matrilinear organisierter Stämme in der Praxis die Männer sehr viel Macht ausüben.

Weibliche Gottheiten überwiegen

Bei den Gottheiten der Khasi überwiegen (noch?) die weiblichen, vor allem die Schöpfergöttin Ka mei, die "immer existierte". Es gibt auch weibliche Kulturbringerinnen. So erfand eine gewisse Ka Jaw Jaw die Eisenbearbeitung und führte die Schweinezucht ein. Seit einiger Zeit werden Gottheiten zunehmend als "zweigeschlechtlich" gesehen, und häufig wird bereits einem männlichen Schöpfergott der Vorzug gegeben. Möglicherweise gab es früher bei viel mehr Gruppen matrilineare Traditionen. Als Überrest davon wird die "Dienstehe" angesehen, die unter vielen Stammeskommunitäten nicht unüblich ist und die vor allem dann praktiziert wird, wenn in einer Familie kein Sohn ist: Ein Bursche, der ein Mädchen heiraten will und keinen Brautpreis zahlen will oder kann, zieht zu seiner Frau ins Haus. Er arbeitet auf den Feldern, die seine Frau nach Ableben ihres Vaters erben wird. Manchmal bekommt der ins Haus eingezogene Schwiegersohn bei Ableben seines Schwiegervaters alles außer dem Land der Vorfahren, das offiziell an die Tochter des Hauses vererbt wird. Solche Dienstehen finden sich bei vielen Stämmen.

 

Gekürzt und bearbeitet von Ernst Pohn

 

>> Die Rolle der Frau

>> Rigorose Ordnung gilt nicht für alle

>> Verbreitung der adivasi

>> Keine klare Trennlinie zwischen Stammesreligionen und Hinduismus

>> Stellung der Frau in niederen Kasten oft höher

>> Unsicherer Status der Frau

>> Allgemeine Aussagen zur Stellung der Frau kaum möglich

>> Arbeitsteilung der Geschlechter

>> Priester und Priesterinnen

>> Aufgaben der Priester

>> Darbringung von Opfern

>> Männer töten, Frauen versöhnen

>> Die Zeremonie der Opfergebung

>> Seuchen zur Steigerung der Fruchtbarkeit der Erde

>> Männer als Krankenheiler

>> Frauen als Hexen

>> Die Beweisdarlegung zur Feststellung einer Hexe

>> Weitere Praktiken zum Nachweis einer Hexe

>> Frauen als böse Geister

>>Tabus für Frauen aufgrund der Menstruation

>> Weitere Tabus für Frauen

>> Frauen als Beschützerinnen und als Künstlerinnen

>> Frauen in matrilinearen Kommunitäten

>> Ausbreitung matrilinearer Gesellschaftsordnungen

>> Bei den Khasi ist Religion in Hand der Frauen

>> Weibliche Gottheiten überwiegen

>> Bei den Khasi ist Religion in Hand der Frauen

 
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