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Die heilsame Vernichtung - Zorn und Gewalt des Gottes Siva

Von Heinrich von Stietencron (Biografie)

 

Wege zum innerem Frieden und zur Überwindung des Todes suchen die Menschen auch in Indien in den Religionen. Aber der Gott Siva scheint alles andere als friedlich zu sein. Will man den Mythen glauben, so bestimmen entweder Kampf, Erotik und Tanz sein Handeln, oder er zieht sich von der Welt zurück, um im lebensfernen Eis des Himalaja härteste Askese und Yoga zu üben. Gewalt gegen andere und Gewalt gegen sich selber - wie stimmt das mit dem Konzept der höchsten Vollkommenheit der anfangslosen Gottheit überein?

Wer sich im Westen mit indischer Religiosität beschäftigt, wird oft von den Lehren des älteren Buddhismus oder von der monistischen Erlösungslehre des Vedanta besonders angezogen. Beide gehen vom Gedankengut der älteren Upanishaden aus und stellen das menschliche Bemühen um Leidvermeidung, Gewaltverzicht und inneren Frieden in den Vordergrund. Auch haben beide das Ziel, jenen Normalzustand des weltlichen Bewusstseins zu überwinden, in dem das Individuum Krankheit, Schmerz und Tod unterworfen und weder allwissend noch allmächtig ist, weil es in seiner Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit durch die Faktoren Zeit, Raum und Kausalität auf einen winzigen Ausschnitt des Weltgeschehens eingeengt bleibt. Ist dieses Bemühen erfolgreich, so soll das Ergebnis die Auflösung des Individuums (im Buddhismus) oder die Beseitigung seiner Begrenzung (im Vedanta) bewirken, so dass sein Bewusstsein dem absoluten, allumfassenden Bewusstsein gleich wird.

Überwindung des eigenen Bewusstseins

Überwindung der Begrenzung des Bewusstseins bedeutet jedoch Anstrengung. Es bedeutet Kampf gegen die eigene physische Kondition, Kampf gegen Rastlosigkeit des Denkens und der Sinne, es bedeutet Yoga und Askese als Mittel der Selbstdisziplinierung und der Bündelung aller Willenskräfte auf ein selbst gesetztes Ziel. Die Hindernisse, die sich einem solchen Vorhaben in den Weg stellen, sind vielfältig und groß. Wir wissen das nicht nur aus den indischen, sondern auch aus allen anderen asketischen und kontemplativen Traditionen der Menschheit. Es treten Versuchungen auf, Ablenkungen, körperliche und geistige I Störfaktoren verschiedenster Art, welche die Konzentration unterbrechen. Dieser Weg ist daher gar nicht so friedlich, wie es beim äußeren Anblick eines Meditierenden den Anschein haben mag. Auch die psychische Welt erweist sich als ein Schlachtfeld, auf dem Kämpfe ausgetragen und oft verloren werden. Nur selten gelingt ein Sieg, und dann ruft er sogleich neue stärkere Gegner auf den Plan.

Probleme bei Selbstüberwindung

Sowohl in der weiteren Entwicklung , des Buddhismus (in den Lehren des Mahayana und des Vajrayana) als auch in den auf die Gottesliebe (bhakti) gegründeten theistischen Religionen der Hindus, die mit ähnlichen Problemen, der Selbstüberwindung und Selbstverwaltung zu kämpfen haben, nimmt daher in den Texten die Beschreibung von Konflikten eher zu als ab. In der Sprache des Mythos nehmen die destruktiven Kräfte Gestalt an und konkretisieren sich als Götter oder Dämonen. Und wir werden sehen, dass dabei die destruktiven Kräfte nicht immer die Dämonen sind, denn diesen sind die weltlichen Genüsse gerade recht. Auch Götter besitzen destruktive Kräfte, und die Bewertung des zerstörenden Potentials als gut oder böse, heilsam oder verderblich ist stets abhängig von der Perspektive, aus der man sie betrachtet. Deutlich ist, dass sich besonders in den tantrisch-esoterischen Kulten der Muttergöttinnen Indiens und im tantrischen Sivaismus eine Sprache durchsetzte, die mit Bildern extremer destruktiver Gewalt operiert - selbst da, wo sie sozusagen im gleichen Atemzug von einer liebenden Mutter spricht. Die alles gebärende Mutter ist auch die alles verschlingende. Das potentiell Gefährdende ist auch das potentiell Erlösende.

Gewalt zur Durchsetzung der Ordnung

In den Hindu-Religionen wird der Bereich der theologisch reflektierten und als unvermeidbar verstandenen Gewalt in der Götterwelt auf mehrere Akteure verteilt. Da ist für die ältere Zeit der Götterkönig Indra, dessen Aufgabe es ist, mit seiner Götterschar die Weltordnung zu beschützen und gegen die diese störenden Dämonen zu kämpfen. Hier wird also bereits in der Götterwelt Gewalt eingesetzt, um eine Ordnung zu sichern, die für das Gedeihen der Lebewesen unerlässlich ist. Es geht um die Balance der Kräfte von Licht und Finsternis, Ordnung und Chaos. Denn die Ordnung, welche den Lauf der Gestirne, den Ablauf der Jahreszeiten, den Wechsel von Tag und Nacht regelt und auch die moralischen Werte setzt, bleibt nicht unangefochten. Schon ein Zuviel an Sonne oder an Regen kann schreckliche Folgen für die betroffenen Wesen haben. In dieser Ordnung werden allen Wesen, von den Göttern bis zu den Pflanzen, ihre spezifischen Aufgabenbereiche zugewiesen.

Götter teilen sich die Aufgaben zur Ordnungserhaltung

Indras Bedeutung tritt in der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends v. Chr. allmählich zurück, als neue Hochgötter aufsteigen und die Hoffnung der Menschen sich nicht mehr auf ein Paradies in Indras Himmel, sondern auf Erlösung aus dem Kreislauf der Geburten richtet. Die Aufrechterhaltung der kosmischen Ordnung und der gesellschaftlichen Werte übernimmt nun der Gott Visnu in seinen Inkarnationen. Den Kampf gegen die Dämonen nehmen er selber und vor allem auch Siva oder Sakti, die große Göttin, auf. Und unter den drei großen Göttern Brahma, Visnu und Siva ist es etwa seit dem 3. Jh. n. Chr. explizit Siva, welchem die Rolle des Weltzerstörers zufällt. Dass diese Rollenzuweisung nicht ganz unpassend ist und auf eine frühe Wesensbestimmung dieses wilden und fremden Gottes seitens der vedischen Arier zurückgeht, zeigen die Mythen und der rituelle Umgang mit diesem Gott, der zunächst wohl außerhalb des vedischen Pantheons stand. Mit seinen wilden Scharen, den Bäume entwurzelnden Stürmen, hauste er in den Schluchten der Berge: ein wilder, fast nackter unzivilisierter Jäger, der vom Opfer ausgeschlossen war und den man doch mit abseits niedergelegten Opferresten befriedigen musste, weil man seine Krankheiten bringenden Pfeile fürchtete, die vor allem die Rinderherden dezimierten.

Verschiedene Namen für Siva

Der Tatsache, dass man ihm die Macht über Tierkrankheiten zuschrieb, verdankt er vermutlich den Namen Pasupati, was nur "Herr der Zuchttiere" bedeuten kann, und nicht "Herr der Wildtiere", wie manche Forscher meinten, die diesen Gott mit einem Industal-Sigel in Verbindung bringen wollten.

Sein wichtigster Name aber war Rudra, eine Bezeichnung, die schon die altindischen Etymologen als "Heuler" (von der Wurzel rud), als "Roter" (von rudira = Blut) oder als "Bäumebrecher" (drudra für darudra) zu deuten versucht haben. Erst in dem relativ späten Mantrabrahmana taucht auch der Name Virupaksa auf, der "Schiefäugige" vielleicht weil das in späteren Darstellungen um 90 Grad gedrehte, senkrecht über der Nasenwurzel stehende dritte Auge dieses Gottes schon damals bekannt war.

Die Geschichte von Rudra

Wie dem auch sei, der wilde Gott war mächtig und musste irgendwie integriert werden. Die Mythographen taten es unter anderem, auf folgende Weise: Als Brahma-Prajapati, der Herr der Geschöpfe, beschlossen hatte, die Welt mit Lebewesen zu bevölkern, da erschuf er zuerst vier geistgeborene Söhne (Sanaka, Sananda, Sanatana und Sanatkumara), die den Auftrag erhielten, die Schöpfungsarbeit auszuführen. Diese Söhne aber waren so weise und so vedakundig, dass sie ihr ganzes Denken sogleich auf das Brahman richteten, um in yogischer Versenkung mit dem Einen Urgrund allen Seins zu verschmelzen, An der grobstofflichen Welt hatten sie nicht das geringste Interesse. Als Brahma sah, dass sie nicht bereit waren, seinen Auftrag auszuführen, stieg mächtiger Zorn in ihm auf, der dann in Gestalt des schrecklichen Rudra aus seiner gerunzelten Stirn hervortrat. Der Gott Brahma aber war nun wieder ruhig, und er erschuf, je nach Quelle, 6, 7, 10 oder sogar 21 weitere Söhne, die das Schöpfungswerk ausführten, zu Prajapatis, d.h. zu Herren der Geschöpfe, wurden und die Vielheit der Lebewesen hervorbrachten.

Zorn ist das Wesen Rudras

Zorn also ist nach diesem Mythos das Wesen Rudras - vom Schöpfer Brahma extrapolierte und personifizierte Wut. Interessanterweise entsteht diese Wut, weil Brahmas Schöpfungsplan fehlschlägt. Seine Söhne machen nicht mit, sondern denken sogleich an Erlösung, und Brahma ist frustriert, weil dadurch sein Verlangen nach der Welt nicht, wie gewünscht, in Erfüllung geht. Schon ganz am Anfang der Schöpfung erweist sich also die Wunschstruktur von Brahmas weltbezogenem Denken und Handeln sowohl als Quelle des Begehrens als auch als Quelle des Zorns. Mit diesem, der sich in der Gestalt des Gottes Rudra manifestiert, tritt diejenige Göttergestalt ins Dasein, deren Aufgabe es sein wird, die Welt schließlich wieder zu zerstören. Schöpfung und Zerstörung entspringen also, wie man sieht, aus der gleichen Quelle.

Komplexität des Unternehmens Weltschöpfung

Mehr noch, die Zerstörung wird mit Rudras Geburt bereits sichergestellt, ehe noch die Schöpfung sich realisieren kann. Und es wird auch die strukturelle Komplexität deutlich, die von Anfang an mit dem Unternehmen "Weltschöpfung" verbunden ist. Denn das kreative Bedürfnis des Gottes, die Welt zu erschaffen, ruft als allererstes eine für die indische Religiosität charakteristische Gegenbewegung hervor, nämlich das Streben der erstgeborenen Söhne nach befreiender Rückkehr in das ungeteilte absolute Bewusstsein. Damit ist auch das Endziel des Schöpfungsgeschehens bereits vorweggenommen, nämlich die Erlösung der Seelen. Sie aber erfordert den Sieg über alle Wünsche, die Abkehr von der Vielfalt, und sie gewinnt am Ende ein unwandelbares Glück.

Mythen zu Rudras Zorn

Die vernichtende Macht von Rudras Zorn kommt in einer Reihe von Mythen zum Ausdruck, die diesem Gotte gewidmet sind, z.B. bei der Zerstörung des Opfers, das sein Schwiegervater Daksa ausrichten wollte. Dieser hatte alle anderen Götter dazu eingeladen, seinen aschebeschmierten, unzivilisierten Schwiegersohn jedoch nicht. Aus Empörung darüber und um die Ehrverletzung ihres Gemahls zu sühnen, stürzte sich Daksas Tochter Sati in das Opferfeuer ihres Vaters und verbrannte, woraufhin sich der Zorn Sivas (nach einigen Quellen in Gestalt des Virabhadra) mit seinen wilden Horden auf die gesamte Opfergesellschaft stürzte, den Daksa köpfte, die anderen Götter übel malträtierte und auf dem Opferplatz eine verheerende Verwüstung anrichtete.

Der Vernichtungsaspekt des Gottes Siva

Siegreiche Kämpfe gegen mächtige Dämonen sind ebenso Beweis von Sivas unwiderstehlicher Vernichtungsmacht wie die ihm beigegebenen Namen Kala und Mahakala, welche ihn in wörtlicher Bedeutung als "Gott der Zeit", in übertragener Bedeutung als "Gott der Vergänglichkeit und des Todes" charakterisieren. Als Kalabhairava (Schreckenerregende Zeit) oder Mahakala (Große Zeit) wird Siva in Gestalt einer gewaltigen, vielarmigen, schwarzen Figur dargestellt, deren alles verschlingendes Maul scharfe Stoßzähne aufweist. Als Schmuck trägt dieser Gott sowohl in der von Flammen umgebenen Haarkrone als auch am Gürtel menschliche Totenschädel und aus Schädeln besteht auch seine lange, von den Schultern bis zu den Knien herabhängende Girlande und seine Bettelschale. In kämpferischer Angriffsstellung, mit zorngeröteten runden Augen und mit zahlreichen Waffen in den Händen steht er auf einem Leichnam und bietet ein furchterregendes Bild des Verderbens.

Vier Arten der Vernichterrolle des Gottes

Mahakala ist die große, alles überwältigende Zeit, der alles verschlingende Tod. In dieser Form kommt Sivas Rolle als Weltvernichter besonders deutlich zum Ausdruck, da der Zeit alles Lebendige zum Opfer fällt. Die indische Tradition unterscheidet aber zwischen vier Arten oder Phasen, in denen sich die Vernichterrolle des Gottes realisiert. Es sind dies die ständige (nitya), die periodische (naimittika), die die gesamte Natur umfassende (prakrta) und die schon in diesem Leben endgültige Auflösung (atyantika-pralaya).

Täglich eintretende Dunkelheit und Vernichtung von Teilen der Welt

Die erste von diesen vier Formen (nitya) betrifft das tägliche Verschwinden der Welt in der Dunkelheit der Nacht, zugleich auch die tägliche Vernichtung von Lebewesen aller Art, sei sie verursacht durch Alter, Krankheit, Unfall oder Gewalt. Die zweite, weit umfassendere, aber nur gelegentlich in großen Zeitabständen eintretende Vernichtung eines Teils des Weltgebäudes und all seiner Insassen (naimittka-pralaya) findet statt, wenn sich der Gott Brahma am Abend eines Brahma-Tages - der 4320 Millionen Menschenjahren entspricht zum Schlafe niederlegt. Zu dieser Zeit nimmt Brahma die Lebensseelen (jiva) aller Wesen in sich auf, zieht also alle Wesen in sich zurück, wozu es nötig ist, dass ihre Körper alle sterben. Dies tödliche Geschäft besorgt Rudra mit Feuersbrunst und Wasserflut. Festzuhalten ist, dass alle Himmelsbewohner von Indras Himmel aufwärts dieser periodischen Zerstörung entgehen. Damit werden sie zugleich dem Kreislauf der Geburten entzogen. Die Nacht Brahmas dauert ebenso lange wie sein Tag. Danach sind die Unterwelten, die Erde und die beiden unteren Himmel wieder gereinigt, und alle Wesen werden wieder aus Brahma entlassen, um einen neuen Zyklus zu beginnen. Diese Wesen sind also dem Kreislauf der Geburten nicht entronnen. Sie haben aber alle in früheren Geburten angehäuften karmischen Befleckungen abgestreift.

Völlige Weltauflösung als dritte Phase der Vernichtung

Erst am Ende eines Lebens des Gottes Brahma erfolgt die völlige Weltauflösung (prakrta- pralaya) - die dritte Phase der Vernichtung. Dies ist - nach sivaitischer Interpretation - der Moment, wenn außer Siva und seiner Sakti nichts mehr übrigbleibt. Wenn, wie schon vorher geschildert, die Welten einschließlich der Götterwelt zu Asche geworden sind und der Gott Siva-Mahakala sich mit den ausgebrannten Schädeln der Götter geschmückt hat, beginnt er, vor den Augen seiner Gemahlin den Tandava-Tanz zu tanzen. Zu dieser Zeit wird auch die Göttin in den Körper Sivas absorbiert, wonach dieser seinen Tanz beendet und die Aul7ösung der Elemente beginnt. Das Element Erde löst sich nun in das Element Wasser, das Wasser in Feuer, das Feuer in Wind, der Wind in Äther oder Raum auf. Dieser wird von dem Individuationsprinzip ahamkara absorbiert, das seinerseits im Großen Bewusstsein (mahat, buddhi) und weiter in Brahman aufgeht. Alles Seiende ist wieder in seinen Ursprung zurückgekommen. Und nun löst Siva Mahadeva auch die Verbindung zwischen der Urnatur (pradhana) und dem reinen Bewusstsein (purusa) und beendet damit die schöpferische Selbsttätigkeit der als Maya, d.h. als eine die Lebenswelt schaffende und letztlich doch illusionäre Macht, aufgefassten Natur. Damit ist für alle Wesen verwirklicht, was sonst nur den Yogins möglich ist, nämlich die Loslösung des Bewusstseins von den Fesseln der Materie und folglich die endgültige Befreiung, das höchste Ziel aller Wesen. (An dieser Stelle des Kurma Purana setzt deren Autor offenbar das brahman mit der prakrti des Samkhya Systems gleich.)

Weltzerstörung ist von Beginn an vorgesehen

Die Schilderung dieses Vorgangs liegt in vielen Versionen vor und ist in Details und Bewertung je nach Quelle verschieden. Die vorgelegte Fassung stammt aus dem Kurma Purana (II, Kap. 45-46). Der gleiche Bericht aus einem visnuitischen Text würde sagen, dass mit dem Tode Brahmas auch Siva stirbt und Visnu es ist, der die gesamte manifeste Welt in sich zurücknimmt, um auf den kosmischen Urwassern bis zum Beginn einer neuen Emanationsphase auszuruhen. Wichtig ist in unserem Zusammenhang nur, dass die Weltzerstörung von vornherein vorgesehen ist, dass sie zum Heilsplan der Welt gehört und dass dafür eigens einer der größten Götter zuständig ist. Was im Text als furchterregendes Geschehen geschildert wird, scheint zwar schrecklich und leidvoll - und wird in dem Moment, in dem es erlitten wird, auch so empfunden -, es bewirkt aber das höchste Gut für alle Wesen, gewinnt das endgültige Heil. Vernichtung ist hier also positiv, befreiend, sie löst die Fesseln, die die menschliche Seele binden.

Zyklische Struktur des Weltgeschehens

Vergleichen wir diese, auf zyklische Wiederkehr angelegte Endzeitvision mit derjenigen der ebenfalls von Gewalt und Zerstörung geprägten Apokalypse, wie sie im linearen Geschichtsbild der jüdisch-christlichen Tradition entwickelt wurde, so unterscheidet sich das Bild vor allem in zwei Punkten deutlich. Erstens findet eine Scheidung von Gerechten und Verdammten nur im periodischen Auflösungsprozess (naimittika-pralaya) am Ende eines Brahma-Tages statt. Sie bringt den Guten, die sich schon in einem der Himmel befinden, Befreiung aus dem Kreislauf der Geburten. Die Schlechten aber werden nicht vernichtet. Vielmehr werden sie in die Gottheit zurückgenommen und können den Weg ihrer weltlichen Existenz, der sie zur Befreiung führen soll, noch einmal unter den guten Startbedingungen einer von allem Übel gereinigten Welt von neuem versuchen. Die zyklische Struktur des Weltgeschehens eröffnet ihnen neue Chancen. Vernichtungen sind nur temporär und jeweils mit der Konsequenz, dass die Ausgangslage für die Heilsgewinnung wieder verbessert wird.

Keine Ausrottung des Bösen durch Weltvernichtung

Zweitens führt auch die große oder vollständige Weltvernichtung nicht zu einer Ausrottung des Bösen, sondern hier wird das geistige Prinzip (atman) in allen Seelen, auch in den bis dahin karmisch befleckten, wieder in Purusa, in das reine Bewusstsein, aufgenommen und von allen Bindungen an die Materie befreit. Es ist diese Bindung des Bewusstseins an den Leib, welche die Leiderfahrung bewirkt. Der Körper alleine würde nichts empfinden. Ebenso wenig leidet das Bewusstsein, wenn es frei ist von jeder, auch feinstofflichen Körperlichkeit. Sowohl das Leid als auch die Gewalt sind ausschließlich in jenem Bereich angesiedelt, in dem sich Geist und Materie verbinden.

Der yogische Aspekt Sivas

Obwohl hier also das abstrakte theologische Denken eine Trennung vornimmt, die dem Leid seine Bedeutung nehmen soll, bleibt doch die explizite Präsenz von vernichtender Gewalt in einer der höchsten Gottheiten beunruhigend und erscheint manch einem als abstoßend. Es bedarf eines weiteren Schrittes, um die Bedeutung des Vernichtungsaspekts des Gottes Siva richtig zu verstehen. Zu diesem Zweck wenden wir uns nun einem anderen Charakterzug des Gottes zu, nämlich der ihm zugeschriebenen außerordentlichen Kraft des Yoga, mit welcher er, jahrhundertelang in der eisigen Bergwelt des Himalaja sitzend, in tiefer Meditation alle Spuren der Vielheit dieser Welt aus seinem Bewusstsein auslöscht. Auch dieser yogische Aspekt Sivas wird in den Mythen immer wieder ausgemalt. Siva ist der große Asket, der in tiefer Versenkung die Welt vergisst und seine Aufgabe, die Dämonen zu bekämpfen, so lange vernachlässigt, dass diese an Macht gewinnen, die Götter aus ihren Wohnsitzen vertreiben, allerorts für Unruhe und Chaos sorgen und schließlich die den Göttern zugedachten Opfergaben der Menschen selber verzehren.

Der Mythos vom Schicksal des Liebesgottes Kama

Wenn solche Situationen auftreten, wenn die Götter hungrig und machtlos werden und die Ordnung der Welt bedroht ist, dann wird es Zeit, Siva aus seiner Versenkung zu erwecken. Dass dies nicht einfach und zugleich auch gefährlich ist, zeigt der Mythos vom Schicksal des Liebesgottes Kama. Dieser hatte es auf Wunsch der Götter unternommen, durch die Verbindung von Siva mit der Göttin Parvati für die Geburt eines Kriegsgottes zu sorgen, der in der Lage wäre, selbst den starken Dämonenfürsten Taraka zu vernichten, welcher zu jener Zeit die Götter vertrieben und an die Enden der Welt verbannt hatte. Parvati war bereit, aber Siva, in seine Meditation versunken, nahm keine Notiz von ihr, obwohl Kama mit Hilfe seiner Liebespfeile bereits die Eiswüste um ihn her in eine blühende und duftende Frühlingswiese verwandelt hatte. So blieb denn Kama nichts anderes übrig, als den letzten Pfeil auf den großen Gott selbst zu richten und ihn auf diese Weise etwas unsanft zu wecken. Der Pfeil traf ins Herz, aber der mutige Schütze wurde augenblicklich vom Zornesblick Sivas zu Asche verbrannt. Dann erst tat der Pfeil seine Wirkung. Sivas Blick fiel auf die liebliche Parvati und das Komplott der Götter führte schließlich, wenn auch erst nach weiteren Verzögerungen, zum ersehnten Ergebnis.

Siva wird zum Opfer

Siva, der in einer meditativen Übung begriffen ist und sich um Auslöschung der Vielheit aus seinem Bewusstsein bemüht, ist es nun selbst, der Gewalt erleidet. Ihn trifft der Pfeil der Begierde - denn Kama, der Liebesgott, ist die Begierde nach Lust - und reißt ihn aus seiner Versenkung, macht also all seine Bemühungen zunichte. Das ist genau das, was viele Yogis immer wieder zurückwirft, dass nämlich irgend ein äußerer oder innerer Störfaktor in ihre mühsam aufgebaute Konzentration einbricht, das zum Schweigen gebrachte Denkorgan und die Sinne wieder weckt und dadurch das erhoffte Ziel wieder weit entrückt. Siva, der im Yoga alle Wünsche besiegen will, wird hier seinerseits von den Wünschen besiegt. Da hilft es nichts, dass sein zorniger Blick den Liebesgott verbrennt: Zwar zerstört Sivas Yogakraft den Kama, aber dennoch hat Kama gesiegt, und mit ihm die Strategie der Götter. Triumphiert hat in diesem Fall die Erhaltung der Welt über die Zerstörung der Welt. 

Wiederkehrendes Werden und Vergehen

Es lohnt sich, den Verbindungslinien nachzugehen, die diesen Mythos mit dem vorher kurz berichteten Schöpfungsmythos verknüpfen. Dort war es Brahma, der sein Ziel der Schöpfung nicht erreichte und aus Zorn den Rudra erschuf. Jetzt ist es Rudra, der sein Ziel der Auslöschung der Welt nicht erreicht und aus Zom den Kama, den Repräsentanten der geschlechtlichen Reproduktion des Lebens, verbrennt. Weil aber Rudra-Siva sich nun der Liebe und - nach einiger Verzögerung auch der Zeugung eines Kriegsgottes zuwendet - und damit übrigens auch den Liebesgott wiederbelebt - , wird er zum Retter der Welt, die er eigentlich vernichten wollte. Ebenso wie Brahma, der die Welt zu erschaffen beabsichtigte, zuerst deren Zerstörer erschuf Noch einmal wird also die strukturelle Ambivalenz von Werden und Vergehen, von Erschaffen und Vernichten deutlich. Die großen Götter sind nicht reine Repräsentanten einer einzigen Funktion, sondern sie tragen die Spannungen der Gegensätze in sich selbst.

Erreichen der Verschmelzung von Subjekt und Objekt durch Yoga

Aus diesem Mythos ist auch abzuleiten, dass Siva nicht nur, wie im vorigen Mythos geschildert, die Welt in kosmischen Zyklen physisch vernichtet, sondern dass er sie - auch während sie noch besteht - innerlich in seinem eigenen Bewusstsein auslöscht. Eben i dies ist die Aufgabe der Disziplin des Yoga, dass sie die Sinnesorgane und das Bewusstsein von den Dingen zurückzieht, so dass die durch die Sinne gegebene oder vorgegaukelte Vielheit der Welt verschwindet. Erstrebt wird die Konzentration der Aufmerksamkeit auf einen einzigen Punkt, auf ein einziges Objekt der Meditation. Gelingt es, dass Subjekt und Objekt in der meditativen Konzentration gänzlich miteinander verschmelzen, dann - so behaupten zahlreiche und recht unterschiedliche Quellen - bricht machtvoll und als beglückendes, lichthaftes Ereignis jene Einheitserfahrung auf, die schon in den Upanishaden als höchstes Ziel propagiert wurde: die Erfahrung der Nicht-Zweiheit (advaita), der Identität von individuellem und absolutem Bewusstsein, von atman und brahman.

Die endgültige Auflösung

Auch als Yogin also zerstört Siva die Welt, aber der Ort dieser Vernichtung ist nicht die Außenwelt, sondern das individuelle Bewusstsein. Damit sind wir beim Thema der vierten und höchsten Form von Sivas weltvernichtender Aktivität, der endgültigen Auflösung (atyantika-pralaya) - endgültig deshalb, weil sie die vollständige Erlösung bewirkt und am höchsten bewertet, weil dies schon in diesem Leben und nicht erst am Ende eines großen Weltzyklus geschieht.

Der Mythos von der Vernichtung des Dämonen Andhaka

Ein weiterer Mythos soll diesen Aspekt von Sivas vernichtender Gewalt noch verdeutlichen und dabei zugleich auch die Rolle des Bösen bzw. der Laster beleuchten. Es ist der Mythos von der Vernichtung des Dämonen Andhaka, den ich in gekürzter Form aus Informationen des Epos Mahabharata sowie des Vamana-, Kurma- und Sivapurana zusammenstelle. Einst war Siva hoch im Himalaja wiedereinmal in Meditation versunken, als die Göttin Parvati in spielerischer Laune von hinten an ihren Gemahl herantrat und ihm mit beiden Händen die Augen zuhielt. Da erlosch mit einem Mal alles Licht. Es wurde stockfinster in der Welt, und alle Freude wich aus den Herzen der Wesen. Es war, als ob es keine Sonne mehr gäbe, als die Augen des Herrn aller Wesen so verdunkelt wurden, Angst breitete sich aus, und ein furchtbares Getöse erscholl, als ob die wogenden Wasser des Weltuntergangs bereits ihr Vernichtungswerk begönnen.

Ein drittes Auge erscheint

Gleich darauf aber verschwand die Finsternis wieder. Eine lodernde Flamme brach aus Sivas Stirne hervor und ein drittes Auge erschien, das leuchtete mit so gewaltiger Glut, dass die ganze Umgebung in Flammen geriet und sogar der mächtige Berg Himavat zu schmelzen begann. Alle Tiere flüchteten aus dem brennenden Wald und suchten Schutz bei Siva. Parvati, die Tochter des Berges, war entsetzt und zog erschrocken die Hände von den Augen Sivas zurück. Da wurde die Welt wieder hell, und der Gott zog die weltvernichtende Glut seines dritten Auges wieder zurück. Ein freundlicher Blick Sivas stellte die Schönheit des Berges und seiner Pflanzen wieder her. Die Berührung der zarten Finger der Göttin hatte aber eine Erregung in dem großen Asketen bewirkt und ihn einen Schweißtropfen treiben lassen, der von seiner Stirne hinabrann zum nunmehr geschlossenen Stirnauge und sich dort erhitzte. Daraus entstand eine schreckliche, schwarze, augenlose Gestalt von großer Hässlichkeit und Kraft. Dieses schwarze Wesen, das in blinder Finsternis geboren worden war, wurde Andhaka, "der Blindling" genannt. Und da zu dieser Zeit der kinderlose König der Dämonen, Hiranyanetra, mit großer Willenskraft Askese übte, um endlich einen Sohn zu bekommen, schenkte ihm Siva diesen Andhaka als Sohn. Keiner außer mir selber wird ihn besiegen können, so sagte er zu dem Dämonenkönig.

Zehnjährige Askese Andhakas

Andhaka wurde groß und stark. Weil er aber blind war, wurde er nach dem Tode seines Vaters bei der Nachfolge in der Herrschaft über die Dämonen übergangen. Hiranyakasipu und später dessen Sohn Prahlada wurden Herrscher der Dämonen. Da ging Andhaka in die Einsamkeit und übte dort fastend, mit erhobenen Armen auf einem Bein stehend, eine zehntausendjährige Askese. Als dies nichts nützte, begann er sich täglich ein Stück Fleisch aus dem Leib zu schneiden und dies in seinem Opferfeuer darzubringen, bis er nur noch aus Knochen und Sehnen bestand. Angesichts dieser überaus großen Willenskraft bekamen es die Götter mit der Angst zu tun, und Brahma erschien, um ihm einen Wunsch zu erfüllen, damit er von dieser schrecklichen Askese ablasse. Andhaka wünschte sich dreierlei: die Herrschaft über die Dämonen; das göttliche Auge, das alles sieht; und dass er nicht getötet werden könne von Göttern, Dämonen, Halbgöttern, Menschen und Schlangen, auch nicht von Visnu oder Siva. Brahma erwiderte, er könne das alles haben, aber kein Wesen sei unsterblich, und so solle er wenigstens eine Todesursache akzeptieren.

Listig wählt Andhaka seine Todesursache

Andhaka überlegte ein wenig und wählte dann folgende Todesursache: Die beste Frau aller Zeiten, auch der zukünftigen, werde er wie eine Mutter verehren, sei sie eine reife Frau, eine junge Frau oder sogar ein Kind. Sollte er sich aber ihr gegenüber begehrlich oder unziemlich verhalten, dann möge ihn das Verderben ereilen. Diese Todesursache war geschickt gewählt, denn die Wahrscheinlichkeit, der besten aller Frauen überhaupt zu begegnen, war gering. Wer weiß schon, ob nicht in Zukunft noch eine Bessere geboren wird? Auch hatte er nicht die Absicht, einer solchen Frau gegenüber nicht galant zu sein. Brahma stimmte zu. Und durch seine Berührung regenerierte er auch Andhakas Leib, der nun wieder schön und stark und mit leuchtenden Augen versehen war. Andhaka wurde nun zu einem Helden unter den Dämonen. Die Herrschaft konnte ihm niemand streitig machen. Selbst die Götter vermochten ihm nicht zu widerstehen und gerieten in große Not. Zahlreiche schöne Frauen aus den drei Welten umschwärmten ihn. Deshalb war er stolz. Sein Hochmut kannte keine Grenzen, er zwang die Könige der Erde in seinen Dienst und quälte die drei Welten.

Anhaka begehrt aber die Göttin Parvati

Eines Tages erblickte Andhaka, als er in der Welt herumstreifte, die liebliche Göttin Parvati, wie sie sich auf dem Berg Mandara mit ihren Gespielinnen ergötzte, und entbrannte in Begierde nach ihr. Fortan setzte er alles daran, sie zu besitzen. Zwar sagten ihm seine Ratgeber, dass Siva sein Vater, Parvati also so gut wie seine Mutter sei. Sie warnten ihn dringend davor, sich auf solch ein Abenteuer einzulassen. Aber Andhaka war nicht aufzuhalten. Zunächst sandte er seine Leute aus, sie sollten Parvati rauben. Siva selber war gerade abwesend, und der Moment schien günstig. Die Dämonen hatten aber nicht damit gerechnet, dass der Torhüter Viraka und der elefantenköpfige Gott Ganesa, der Sohn der Parvati, so überaus starke Gegner waren. Sie verteidigten erfolgreich die Wohnstätte der Parvati und jagten die Dämonen schmählich in die Flucht.

Andhakas Kampf mit Siva

Nun wurde Andhaka wütend. Er sandte einen Boten zu Siva, um Parvati von ihm zu fordern. Die Antwort lautete, da müsse er schon Parvati selber fragen. Schließlich sei sie frei zu entscheiden, wie es ihr beliebt. Er wandte sich also direkt an die Göttin und erhielt zur Antwort, sie könne nur dem Stärksten gehören. Wer mächtiger sei, Siva oder er, das müssten die beiden unter sich ausmachen. Nun rüstete Andhaka sein Heer und machte sich bereit für den großen Kampf mit Siva. Und auch Siva zog, mit Schlangen geschmückt und den Dreizack in der Hand, von seinen Heerscharen und den Göttern gefolgt, gegen den Dämon Andhaka in die Schlacht. Der Kampf begann und Siva gelang es, Andhaka mit einem Pfeil zu verwunden. Nun blutete Andhaka, aber jeder Tropfen seines Blutes produzierte einen neuen Andhaka, sobald er die Erde berührte. Tausende von Andhakas kämpften nun gegen Siva, alle von gleicher Kraft. Siva wurde bedrängt, er erwehrte sich der Dämonen nur mit Mühe.

Mit vereinten Kräften wird Andhaka besiegt

Der Name Andhaka bedeutet blind. Zwar konnte er nun dank der Gabe Brahmas durchaus sehen, aber das half noch nicht viel. Die geistige Blindheit war ihm geblieben, die Unwissenheit in Bezug auf metaphysische Wahrheit, und diese ist es, gegen welche Siva hier kämpft. Sie aber reproduziert sich tausendfach, zeugt fortwährend neue Unwissenheit. Sivas Kampf scheint aussichtslos. Da durchbohrt er den Dämon mit seinem Dreizack, hebt ihn hoch und beginnt zu tanzen, während der Gott Visnu gleichzeitig mit seinem Diskus die sekundären Andhakas alle vernichtet. Um das Blut aufzufangen, das noch immer aus Andhakas Wunde tropft und nicht mehr auf die Erde fallen soll, benutzt Siva zunächst seine Bettelschale. Als diese aber nicht ausreicht, bringt er aus den Flammen seines Mundes eine Sakti hervor, nämlich die Göttin Yogesvari, die Herrin des Yoga. Sie ist eine Form der Göttin Kali und gerät in einen wahren Blutrausch. Mit lang heraushängender Zunge leckt sie die Blutstropfen auf, welche vom aufgespießten Andhaka zur Erde fallen. Auch die anderen großen Götter entsenden ihre Saktis, sodass nun sieben Muttergöttinnen Siva beistehen. Sie alle sind damit beschäftigt, das Blut des Dämons der Blindheit zu schlürfen. Sie fangen es auf, ehe es die Erde berührt und verhindern dadurch das Entstehen neuer Andhakas. So verblutet der Dämon, auf Sivas Dreizack aufgespießt, ohne sich weiter reproduzieren zu können.

Laster helfen die Dämonen zu vernichten

Wer sind diese Mütter, die das Blut des Dämons der Blindheit trinken und dadurch seine Reproduktion verhindern? Man könnte erwarten, dass es besondere Erkenntniskräfte oder Tugenden seien. Aber das Gegenteil ist der Fall. Es sind, wie uns der Mythos selber weiter berichtet, verkörperte Laster, welche den Göttern entspringen. Wie ist das möglich? Was soll das heißen? Wieso tragen Laster zur Vernichtung des Dämons der Blindheit bei? Mythen sind voller Paradoxe, aber diese haben immer einen Sinn. Sieben der Mütter, so berichtet uns das VamPurana, repräsentieren die Laster Stolz, Zorn, Überheblichkeit, Habgier, Neid, Tadelsucht und Geschwätzigkeit. Die achte, aus Siva selbst entstandene Yogesvari, übergreift alle anderen und repräsentiert die Begierde, die eigentliche Hauptursache allen Übels und aller Haftung am Kreislauf der Geburten ... Diese Laster leben von der Blindheit des Menschen. Herrschte Erkenntnis vor, so würden sie dahinsiechen. Sie fressen also gierig das Blut - d.h. die Essenz, das Wesen - des Dämons der Blindheit. Damit geht aber die Reproduktionskraft der Blindheit, des Nicht-Erkennens (avidya), in die Begierde und in die Leidenschaft ein und kann in diesen, wenn man nur will, kontrolliert werden. Sie ist nicht mehr allgegenwärtig, sondern kanalisiert.

Umlenkung der Energie von Lastern

Leidenschaft und Begierde sind negativ und erkenntnishemmend, aber sie enthalten zugleich göttliche Energie, die bewegt, die vorantreibt. Werden die Leidenschaften durch Selbstzügelung beherrscht, so geht ihre Energie nicht verloren, sondern wird umgelenkt auf die Steigerung der Erkenntniskräfte. Die mit Blindheit gespeiste, blutschlürfende Begierde erweist sich, wenn ihre Energie auf das Eine gerichtet wird, als Yogesvari, als Herrin des Yoga, und somit als eine der heilsträchtigsten Gottheiten überhaupt ...Die blutdürstige Erscheinung dieser Göttin, ihre offenkundige Vernichtungswut, ist auf dieser Ebene nichts anderes als eine bildhafte Metapher für die im Yoga sich vollziehende Auflösung aller Erscheinungen und aller Bindungen an diese Erscheinung. Die Objekte werden vom Subjekt absorbiert und verschwinden. In ähnlicher Weise absorbiert Yogesvari die potentielle Vielzahl von Andhakas.

Dreizack Sivas als Symbol der Erkenntnis

In gewisser Weise ist es also die Welt selbst, bzw. die im individuellen Bewusstsein präsente Welt in ihrer vordergründigen Vielheit, welche da, auf der Spitze von Sivas Dreizack hängend, ausblutet. Der Dreizack selbst gilt als Symbol der Erkenntnis und entspricht dem dritten Auge Sivas, welches ebenfalls die höchste Erkenntnis darstellt, mit deren Hilfe die Welt in ihrer Vordergründigkeit vernichtet wird. Sie erinnern sich, dass die Welt sofort zu verbrennen anfing, als Siva dies Auge öffnete. Leichtsinnig hatte Parvati, die verliebte Göttin, seine beiden Augen, Sonne und Mond, im Spiel verdunkelt und damit die Welt in Finsternis gestürzt. Sie werden sich aber auch erinnern, dass in dieser Situation eine Andeutung von Lust auftritt, eine Andeutung von Erregung des asketischen Gottes unter der sanften Berührung der Frauenfinger, welche jenen Tropfen schöpferischer Flüssigkeit zur Erscheinung bringt, der dann, über das wieder geschlossene, aber noch heiße dritte Auge rinnend, sich erhitzt und den Dämon Andhaka hervorbringt.

Siva erlöst seinen Sohn vom Dämonendasein

Es ist also Sivas eigener, in einem Moment der Dunkelheit lustgeborener Sohn, den er bekämpft und überwindet. Er muss ihn erschaffen, um ihn bekämpfen zu können, denn das Lichte und das Dunkle entstammen der gleichen göttlichen Quelle. Er lässt ihn übrigens am Ende des Mythos nicht einfach qualvoll sterben, sondern erlöst ihn zugleich von der undankbaren Aufgabe, Dämon zu sein, und holt ihn zu sich in sein göttliches Gefolge.

Deutung des Mythos: Blindheit und Gier kennzeichnen die Welt

Was hier im Mythos geschieht, ist ein Vorgang, den man in knappen Stichworten auch so erzählen könnte: Das lichthafte Eine erschafft die Welt als eine Hülle, hinter der es sich verbirgt. Blindheit und Gier kennzeichnen das zyklisch fortschreitende Leben in dieser Welt. Die Blindheit sieht nicht den Geist (Siva), der alles belebt, sondern dessen Maya, die selbstschöpferische, wandlungsfähige, sich selber als Materie zu unzähligen Gestalten formende Natur, die sich als schöne Göttin verführerisch zeigt. In ihrer Begierde versucht die Blindheit, diese Produktivkraft der Materie in ihre Gewalt zu bekommen, um dadurch das eigene Machtbedürfnis zu befriedigen. Das ist ein uraltes Streben der Menschheit. Es ist heute so aktuell wie eh und je. Aber der Versuch scheitert, weil die Maya ein Produkt und Partner des Geistes ist, die nur für diesen aktiv wird. Da nützt es auch nichts, wenn sich die Blindheit endlos reproduziert und in verschiedene Formen des Lasters ausdifferenziert. Der Blindheit geht es wie dem durch ein Ich-Bewusstsein geprägten individuellen Bewusstsein: Sie sieht nur eine Vielheit von Dingen, die von dem erkennenden Ich verschieden sind. Die dahinter verborgene transzendente Einheit vermag sie nicht zu erkennen. Und so hilft nur eines: die Blindheit durch Erkenntnis zu vernichten, die Welt als Vielheit aus dem individuellen Bewusstsein zu löschen, damit es sich mit dem absoluten Bewusstsein zu vereinigen vermag.

Notwendigkeit, die Blindheit zu besiegen

Wer also diesen Kreislauf des Lebens in Blindheit durchbrechen und zum Einen zurückfinden will, der muss das tun, was der Gott in diesem Mythos tut, nämlich den Dämon der Blindheit besiegen. Zu diesem Zweck muss er Siva auf den Weg der Askese und des Yoga folgen. Wenn es ihm dabei nach hartem Kampf gelingt, die eigene Blindheit mit dem Spieß der Erkenntnis zu durchbohren und seine Laster und Begierden zu Kräften der Heilsgewinnung zu transformieren, so durchbricht er den Kreis der Geburten und die Begrenzungen der materiellen Welt. Wie der ausgeblutete Dämon Andhaka, gelangt auch er dann in die zeitlose Gegenwart Sivas.

Gewalt kann auch heilende Wirkung haben

Gewalt ist ein Strukturprinzip weltlichen Daseins, das auf der physischen und psychischen Ebene gleichermaßen vorhanden und nötig ist. Ohne sie könnte die Weltordnung nicht gesichert werden. Ohne sie wäre es aber auch nicht möglich, aus dem weltlichen Leben auszubrechen und Befreiung zu finden. Ihre generelle Bewertung als negativ ist daher kurzsichtig. Vielmehr hängt die Bewertung von Ziel und Ergebnis des Einsatzes von Gewalt ab. Geschieht er unter dem Einfluss der Begierde, so führt dies zu tieferer Verstrickung in den Fesseln der Materie. Geschieht er dagegen im Dienste höherer Erkenntnis, welche allein das individuelle Bewusstsein aus seiner Begrenztheit zu lösen und gleich dem absoluten Bewusstsein grenzenlos und zeitlos weit zu machen vermag, so ist dies heilsam und führt zur Befreiung.

Siva bekämpft eine Welt des Scheins und der Vergänglichkeit

Das gilt insbesondere für die vernichtende Gewalt des Gottes Siva. Alle Schilderungen zeigen ihn als Außenseiter der Gesellschaft, der mit ihren Regeln nicht konform geht, ja diese verachtet. Als Aussteiger, der alle Konventionen missachtet, mag er Furcht oder Abscheu hervorrufen. Aber was er bekämpft und verachtet, ist eine Welt des Scheins und der Vergänglichkeit, ein kontinuierlicher Kreislauf des Werdens, der zu immer neuen Toden führt. Der Weg, der aus diesem Kreislauf herausführt, ist ein Weg des Yoga und der Erkenntnis. Er durchbricht die Strukturen des vom Ich geprägten Bewusstseins, lässt Pluralität, Raum, Zeit und Kausalität hinter sich und gewinnt die Omnipräsenz des transzendenten Bewusstseins, das keinerlei Bindungen mehr unterliegt.

 

Gekürzt und Bearbeitet von Ernst Pohn

 

>> Überwindung des eigenen Bewusstseins

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>> Zyklische Struktur des Weltgeschehens

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>> Zehnjährige Askese Andhakas

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>> Andhakas Kampf mit Siva

>> Mit vereinten Kräften wird Andhaka besiegt

>> Laster helfen die Dämonen zu vernichten

>> Umlenkung der Energie von Lastern

>> Dreizack Sivas als Symbol der Erkenntnis

>> Siva erlöst seinen Sohn vom Dämonendasein

>> Deutung des Mythos: Blindheit und Gier kennzeichnen die Welt

>> Notwendigkeit, die Blindheit zu besiegen

>> Gewalt kann auch heilende Wirkung haben

>> Siva bekämpft eine Welt des Scheins und der Vergänglichkeit

 
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