Jnana. Die Welt mit den Augen des Geistes suchen
Von Klaus K. Klostermaier (Biografie)
Asien besitzt eine eigenständige intellektuelle Tradition und
eine Lebensweisheit, die uns viel über uns selbst und das
Menschsein im Allgemeinen sagen kann. Das Ideal harmonischer
zwischenmenschlicher Beziehungen als Grundlage der Kultur und ihre
intuitive Tiefe sind Errungenschaften ersten Ranges, die für das
Überleben der Menschheit wichtig sind. Während zugegebenermaßen
diese Ideale nicht immer verwirklicht wurden, bieten sie dennoch
einen echten Maßstab menschlicher Lebensführung im persönlichen,
sowie im gesellschaftlichen Bereich. Indische Traditionen haben mit
Jnana eine echte Alternative zur westlichen Rationalität
anzubieten.
Erwin Schrödinger, der große österreichische
Naturwissenschaftler (Nobelpreis für Physik 1933) leitete einen
Vortrag zum Thema "Der Geist der Naturwissenschaft" (Eranos-Jahrbuch
1946, Seite 491-520) mit einem Zitat aus Schankaras Kommentar zu den
Vedantasutren ein. Er bemerkt, ohne Kritik daran zu üben, dass die
Naturwissenschaften, die das Objekt, das "Nicht-Selbst",
untersuchen, von den indischen Denkern, "welche an Tiefe und
Großartigkeit der Konzeption nicht hinter Plato, Spinoza oder Kant
zurückstehen", vernachlässigt wurden. "Es war ihnen
nicht darum zu tun. Denn vornehmstes Ziel ihres Nachdenkens war das
‚Ich, das aus Denken besteht', das Ich und seine Beziehung zur
Gottheit." (Ebenda, Seite 492. In einer Fußnote zitiert
Schrödinger noch das Buddhawort: "Alles, was wir sind, ist das
Ergebnis dessen, was wir gedacht haben: Es gründet sich auf unsere
Gedanken, es besteht aus unseren Gedanken.)
Der Geist als Wesen der Wissenschaft
In Bezug auf sein Thema meint Schrödinger: "Das Subjekt
jeder Wissenschaft ist immer der Geist, und ... es steckt in ihr nur
so viel echte Wissenschaft, als Geist in ihr steckt." In einem
anderen Zusammenhang hob er hervor, dass die Naturwissenschaften,
dieses Unternehmen, in das die europäische Menschheit seit mehr als
einem Jahrhundert den größten Teil ihrer Energien und Ressourcen
gesteckt hat "zu allem, was unserem Herzen wirklich nahe ist
und was uns wirklich nahe geht, ein beängstigendes Schweigen
bewahrt." (Mind and Matter, University Press, Cambridge 1958)
Unter diesen Dingen, die uns "wirklich etwas angehen" und
zu denen die Wissenschaft schweigt, nennt Schrödinger auch -
"Gott und Ewigkeit".
Schrödinger wünschte sich eine "Blutübertragung von Ost
nach West", um die westliche Wissenschaft vor geistiger Anämie
zu bewahren,
Geistige Mängel im Westen
Die "Geistlosigkeit", die Schrödinger bei den
Naturwissenschaften bemängelte, finden viele andere auch in der
heutigen Philosophie und Religion des Westens. Der von Schrödinger
bewunderte Aldous Huxley edierte und kommentierte eine Blütenlese
von geistigen Autoren aller Jahrhunderte und aller Kulturen, um der
geistigen Dürre der westlichen Gegenwart entgegenzuwirken. Auch er
beginnt seine Ausführungen mit einem Zitat aus den Upanischaden und
bemerkt: "Auf Grund der direkten Erfahrungen derer, die die
notwendigen Bedingungen solchen Wissens erfüllt haben, ist diese
Einsicht am treffendsten in der Sanskrit-Formel tat tvam asi (Dieses
bist du) ausgedrückt, und die eigentliche Bestimmung jedes Menschen
ist es, diese Tatsache für sich selbst zu entdecken,
herauszufinden, was das Ich wirklich ist." (Perennial
Philosophy, Verlag Harper, New York 1973, Seite 2)
Die Wissenschaft hat ihre Grenzen
Während im Allgemeinbewusstsein die Naturwissenschaften immer
noch siegreich voranschreiten auf dem Weg zur vollkommenen
Beherrschung der Natur und viele Menschen "Wahrheit" mit
wissenschaftlichem Befund identifizieren, beginnt sich ein gewisses
Unbehagen unter den führenden Naturwissenschaftern selbst
auszubreiten. Nicht nur haben prominente unter ihnen Gesuche
unterzeichnet, die aus ethischen Gründen eine Einschränkung der
Anwendung bestimmter Forschungsresultate fordern, sondern sie haben
auch auf die Grenzen der Wissenschaft selbst hingewiesen und davor
gewarnt, vorwissenschaftliche oder außer-wissenschaftliche
Einsichten durch Wissenschaft zu ersetzen.
Warnung vor einer totalitären Wissenschaft
Erwin Chargaff, ein ursprünglich österreichischer Biochemiker
von Weltruf, spricht von einem "metaphysischen Ekel",
einem "existentiellen Grauen", das ihn packte, als er von
der Detonation der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki erfuhr.
Er verurteilt die Geistlosigkeit einer Wissenschaft, die seiner
Meinung nach zu einer Art Börsenspekulation entartet ist, und warnt
vor einer totalitären Wissenschaft: "Das große Pendel von
Geburt und Tod, das Dunkel und das Geheimnis der Bestimmung des
Menschen, die großen Ideen, die jahrtausendelang den menschlichen
Geist und mehr noch - das menschliche Herz bewegt haben -
Versöhnung und Liebe, Erlösung und Befreiung - sind sie alle von
der Wissenschaft beiseite gefegt und vernichtet worden? Ich glaube
es nicht. Falls es aber wirklich so wäre, dann hätte die
Wissenschaft eine viel größere Schuld auf sich geladen, als selbst
ihre schlimmsten Gegner behaupten." (Voices in the Labyrinth,
Seabury, New York 1977) Die Naturwissenschaften, erklärte er
andernorts, sind kein Ersatz für Philosophie und Religion - sie
müssen ihre Grenzen erkennen und dürfen nicht versuchen, die
Wirklichkeit zu definieren, sondern sollen sich damit zufrieden
geben, sie zu erforschen.
Zweifel an der Gültigkeit der Wissenschaften
Der amerikanische Physiker Roger Jones geht noch weiter und
behauptet, dass die moderne Naturwissenschaft lediglich ein Gerüst
von ineinandergreifenden Begriffen aufgebaut hat, die ohne Bezug zur
Wirklichkeit sind: "Seit Kopernikus und Bacon haben wir jede
Hypothese, die die Phänomene erklärt, als "Wahrheit"
akzeptiert. Wir begannen die moderne Idolatrie ... Wir haben nicht
nur die Naturwissenschaft entpersönlicht, sondern auch den
Zusammenhang mit dem ganzen Corpus von wissenschaftlichen und
philosophischen Gedanken verloren, das uns mit den mythischen
Anfängen von Religion und Philosophie verbindet." (Roger S.
Jones, Physics as Metaphor, University of Minnesota, Minneapolis
1982) Was der Rationalität der modernen Wissenschaft fehlt, ist
nicht ihre Folgerichtigkeit, sondern der Zugang zur Wirklichkeit in
mehr als einem pragmatischen und kommerziellen Sinn.
Große Menschheitsfragen wurden zur Seite
geschoben
Anstatt dazu beizutragen, die großen Menschheitsfragen zu
beantworten, die am Anfang der westlichen Philosophie und
Naturwissenschaft standen, haben die Naturwissenschaften diese
Fragen beiseite geschoben. Die Physik, die als Wissenschaft
entstand, um die Eigenschaften der Dinge zu erklären, die unsere
Sinne wahrnehmen, verneinte schließlich die Existenz von
Qualitäten. Anstatt Farben zu erklären, reduzierte sie diese auf
eine bestimmte Bandbreite des elektromagnetischen Spektrums. Die
sinnliche Welt hört damit auf, in einer menschlich sinnvollen Weise
zu existieren. Ähnlich entwickelte sich die Biologie, die
ursprünglich die Natur des Lebens erhellen sollte, zu einer
Wissenschaft, die den Begriff Leben ganz aus ihrem Vokabular
verdrängte und sich zum Ziel setzte, alle Lebensäußerungen auf
physikalische und chemische Gesetze zurückzuführen, also die Natur
"durch die Augen eines Toten" zu betrachten. (Theodore
Roszak, Where the Wasteland Ends, Garden City, Doubleday 1973, Seite
143) Dasselbe geschah in der Psychologie. Anstatt die Idee
"Seele" zu erhellen, wie es die großen klassischen
Philosophen taten, verleugnet der Großteil der modernen
Schulpsychologie ihre Wirklichkeit und beschränkt sich auf
quantifizierbare Beobachtungen physiologischer Reaktionen, wiederum
großenteils in physikalischen und chemischen Begriffen.
Die faszinierende Realität des Lebens
Trotz aller modernen Naturwissenschaft umgibt uns die Welt der
realen Dinge wie eh und je. Die allgemeinmenschliche Erfahrung von
Farben und Tönen ist die Grundlage der schönen Künste, ohne die
unser Leben um so viel ärmer wäre. Das Leben ist ebenso
überraschend, erhebend, deprimierend, tragisch und geheimnisvoll,
wie es immer war. Die Seele weigert sich zu verschwinden. Was wir
brauchen, ist offenkundig nicht die Wirklichkeit, die sich der
modernen wissenschaftlichen Rationalität anpasst, sondern eine
Rationalität, die der Wirklichkeit besser gerecht wird. Unser
Wissenschaftsbetrieb - und mit ihm ein Großteil unserer Erziehung
ist wesentlich darauf ausgerichtet, die großen menschlichen Fragen
zu vermeiden, statt sie zu beantworten. Die Reduktion von
Rationalität auf die mathematisch-mechanische Manipulation von
Daten, die im Computer ihren letzten Ausdruck finden, schränkt
nicht nur den Bereich der Wissenschaftlichkeit ein und schließt
Sinnfragen aus, sondern macht auch die Naturwissenschaftler glauben,
dass Sinnfragen "unwissenschaftlich" und es nicht wert
sind, erforscht zu werden. Die moderne Naturwissenschaft lässt
prinzipiell alle Fragen aus, die Ethik, Ästhetik, Spiritualität
betreffen. Niemand, der noch einigermaßen normal denkt, wird
behaupten, dass diese nicht wichtige Gebiete des persönlichen und
öffentlichen Lebens sind.
Erfolge und Schwächen des westlichen
Rationalismus
Der moderne Rationalismus, der die europäische Intelligenzija
seit dem 17. Jahrhundert in ihrem Denken und Handeln geleitet hat,
half Europa, sich vom religiösen, kulturellen und politischen
Diktat der mittelalterlichen Kirche zu befreien. In seinem Wesen war
er individualistisch, humanistisch, akademisch. Er war nicht
imstande, die industrielle Revolution aufzuarbeiten, die gewaltige
soziale und wirtschaftliche Veränderungen bewirkte. Er war auch
nicht fähig, die Folgen der kolonialen Expansion Europas zu
verstehen, und gab sich damit zufrieden, ein
westlich-rationalistisches Bildungssystem zu verbreiten, das
Afrikaner und Asiaten zu farbigen Europäern machen sollte. Der
westliche Rationalismus war auch nicht imstande, die beiden
Weltkriege im 20. Jahrhundert zu verhindern, die effektiv seine
Vorherrschaft untergruben. Er war unfähig, den Aufstieg von
Diktaturen in vielen Ländern Europas zu verhindern; ironischerweise
konnten sich diese Diktaturen auf die Hilfe gerade derjenigen
Institution verlassen, die als die ureigene Schöpfung der
Aufklärung gelten konnte: die moderne westliche Universität. Heute
sehen wir, dass die rational-aufklärerische Tradition nicht
imstande ist, den Zerfall unserer Gesellschaften und die Zerstörung
der natürlichen Umgebung aufzuhalten - sie hat nicht einmal ein
Programm anzubieten.
Bedürfnisse gestillt durch asiatische Kultur
Selbst diejenigen unter den Vertretern dieser modern-westlichen
rationalistischen Tradition, die ihre Schwächen sehen (und
teilweise am eigenen Leib erfahren mussten, wie die Vertreter der
"Frankfurter Schule", Theodor Adorno und Max Horkheimer,
mit ihrem Nachfolger Jürgen Habermas) glauben, dass die einzige
Alternative dazu autoritäre Herrschaft und irrationaler Glaube sein
müssten. Nicht-europäische Alternativen wurden eigentlich nie
ernsthaft in Erwägung gezogen. Im Allgemeinen wird "das
Andere" immer als totale Verneinung des eigenen Selbst gesehen,
ohne dass man sich die Mühe machte, es wirklich zu verstehen.
Diejenigen unter uns, die sich das Studium Asiens als Lebensaufgabe
wählten, taten das meist nicht, weil wir uns von asiatischer Kunst
und Literatur so romantisch berührt fühlten, sondern vielmehr,
weil wir die Notwendigkeit verspürten, unseren intellektuellen
Horizont zu erweitern.
Das Jnana der indischen Tradition
Im Besonderen - und zugespitzt auf das Thema dieses Aufsatzes -
soll der indische Terminus jnana als Alternative zur westlich
rationalistischen Tradition dargestellt werden. Jnana ist weder ein
"Irrationalismus" noch eine Variante der instrumentalen
Vernunft, sondern eine Tiefendimension des Verstehens, ein
Zusammentreffen von Theorie und Praxis. Jnana ist frei von dem
antireligiösen Animus, der die westliche moderne intellektuelle
Tradition charakterisiert und lähmt. Jnana erlaubt uns den Bereich
der Rationalität, der schließlich auf formale Logik und Mathematik
reduziert wurde, wieder auszudehnen. Jnana verbindet Rationalität
mit Realität und könnte die verkümmerte Rationalität des
modernen Westens erneuern, die ihre eigene Quelle verschüttet hat.
Jnana verkörpert das zutiefst Menschliche im Denken und gibt ihm
die Rückverbindung zum Leben, die Kontinuität von Bewusstsein und
Wirklichkeit. Jnana enthält Elemente sowohl von "Glauben"
als von "Wissen" und überhöht und versöhnt beide.
Jnana ist ehrfurchtsvolles Denken
Jnana kommt der Haltung nahe, die der zeitgenössische Philosoph
Henryk Skolimowski "Reverential Thinking"
(Ehrfurchtsvolles Denken) genannt hat. (Henryk Skolimowski, "Reverential
Thinking" in: The Theatre of the Mind,
The Theosophical Publishing House, Wheaton, III. 1984, Seite 76-79)
"Ehrfurchtsvolles Denken", sagt er, "benützt nicht
nur unsere Grauzellen auf eine neue Art, sondern führt auch eine
neue Wertskala ein". Diese Art von Denken sieht das Leben als
einen Wert an sich; es betrachtet Liebe als wesentliche und
unentbehrliche Modalität der menschlichen Existenz; es anerkennt
schöpferisches Denken als wesentlichen Teil der menschlichen Natur
und sieht Freude als Bestandteil unseres täglichen Lebens an.
Skolimoski sieht "objektives" Denken und
"ehrfurchtsvolles" Denken als sich ausschließende
Gegensätze: "Objektives Denken kennt keine Gnade und hat keine
Ehrfurcht vor irgend etwas. Es schafft teilnahmslose Betrachter,
Menschen, die wenig Sorge und Liebe für Gesellschaft oder Menschen
zeigen. Ehrfurchtsvolles Denken macht uns zu aktiven Partnern in
einer Welt, die Mitleid kennt, zu Menschen, die nicht atomisieren
und objektivieren, sondern helfend handeln."
Jnana ist intuitives Verstehen
Die indische Tradition hat immer unterschieden zwischen tarka,
dem analytischen (logischen) Denken, das nötig ist, um logische,
juristische und wissenschaftliche Probleme zu lösen, und jnana, dem
synthetischen, intuitiven Verstehen, das zwar der Logik der tarka
nicht widerspricht, aber sie überragt, und das nötig ist, um mit
den eigentlich menschlichen, existentiellen Fragen fertig zu werden.
Es gibt eine sehr ausführliche und wissenschaftlich hochstehende
indische Logik, die in zunehmendem Maße auch von westlichen
Wissenschaftlern studiert und anerkannt wird. Niemand wird die
Bedeutung dieser Art von Erkenntnis unterschätzen. Die indische
Tradition selbst hat aber beharrlich darauf hingewiesen, dass in dem
Bereich, der laut Schrödinger "unserem Herzen wirklich nahe
ist", jnana zum Einsatz kommen muss.
"Seher" erfahren eine tiefere
Weltsicht
Die indischen Denker haben stets alle rein analytisch-logischen
Argumente gegen die durch Intuition erschauten Wirklichkeiten von
atman und brahman als unzuständig zurückgewiesen. Im selben Sinne
haben sie auch als Quelle und Beweis für die Tiefenschichten der
Wirklichkeit immer nur sruti, "Offenbarung", zugelassen.
Um Missverständnisse zu vermeiden, soll bemerkt werden, dass der
indische Begriff von "Offenbarung" wenig mit dem
traditionell biblischen gemein hat. Sruti wird nicht als verbale
Mitteilung eines höchsten Wesens an (auserwählte) Menschen
angesehen einige Schulen, wie das orthodoxe Mimamsa, sprechen von
einer apauruseya ("unpersönlichen") Quelle, der sruti - ,
sondern als Niederschrift von Aussagen, die in einem höheren
Bewusstseinszustand von besonders befähigten "Sehern" (rsis)
gemacht wurden. Diese Yogis sehen Dimensionen der Welt, die den
normalen Menschen nicht zugänglich sind, die aber den Grund jeder
tieferen Weltsicht bilden und die prinzipiell jedem offen stehen,
der sich um die Voraussetzungen bemüht. Diese Voraussetzungen
wiederum sind nicht rein verstandesmäßig, sondern enthalten auch
Elemente wie Disziplin, ethisches Verhalten, Willensstärke. Jnana
ist nicht nur ein ethisches Wissen. Letztlich ist jnana ein Wissen,
das den Wissenden einfügt in das Ganze des Seins, das ihn freimacht
von den Grenzen der Ichhaftigkeit und Ichbezogenheit.
Die Einswerdung mit brahman
Die indischen Quellen sprechen davon, dass derjenige, der
brahma-jnana hat, eins wird mit brahman, und damit
"erlöst" wird. Auf Grund solcher Texte haben christliche
Theologen die indischen Traditionen beschuldigt, eine
"Selbsterlösung" zu verkünden. Das ist nur bedingt
richtig. Der wahre Punkt daran ist, dass die indischen Traditionen
immer darauf bestanden haben, dass der einzelne Mensch selbst
Verantwortung für seine Taten tragen muss. Der unrichtige Punkt
ist, dass Befreiung von Schuld und Endlichkeit als reines
Menschenwerk angesehen wird. Die indischen Traditionen haben diesen
Übergang immer dem "Höchsten" zugeschrieben, einer
Wirklichkeit, die jenseits des individuellen ich-verhafteten Selbst
liegt. Einer der upanischadischen Merksätze lautet: satyam jnanam,
"die Wirklichkeit ist die Wahrheit". Erkenntnis ist nur
dann wirklich "wahr", wenn sie das Ganze, d.h. alle
Dimensionen des Seins umfasst. Alles andere wäre keine
"wahre", d.h. vollständige Erkenntnis. Was bei jnana
immer mitschwingt, ist eine Intuition des Letzten, Höchsten, von
dessen Perspektive aus die Dinge gesehen werden.
Jnana ist Weisheit und nicht nur reine
Wissenschaftlichkeit
Die indische Tradition geht von der Voraussetzung aus, dass jnana
nicht die angeborene Perspektive aller Menschen ist, sondern dass
wir alle zunächst blind sind gegenüber der Wirklichkeit. Ein durch
karma bedingtes angeborenes "Nicht-Wissen" (avidya) macht
uns glauben, dass die Welt, wie sie durch die Sinne vermittelt wird,
die ganze Realität ist. Es bedarf einer Schulung im
"Unterscheiden" (viveka) zwischen Vergänglichem und
Ewigem, zwischen Schein und Sein, zwischen Innen und Außen,
zwischen Vielfalt und Einheit, um "wirkliche Wirksamkeit"
(satyasa satyam) zu erkennen.
Wissen entsteht durch Verschwinden von
Nichtwissen
Die Lehrbücher des Vedanta beginnen meist mit der Analyse der
avidya ("Unwissenheit"), ausgehend von der Überzeugung,
dass "Wissen" sich einstellt, sobald
"Nichtwissen" vergeht. Das meistgebrauchte Beispiel ist
das Verwechseln eines Stückes Seil mit einer Schlange. Während ein
Wanderer von einer gewissen Entfernung aus nicht erkennen kann, ob
es sich bei einem Gegenstand, der auf dem Weg liegt, um ein Stück
Seil oder eine Schlange handelt, wird er beim Näherkommen sehr
eindeutig erkennen, was er vor sich hat. Falls es sich als ein
Stück Seil herausstellt, muss der Wanderer nicht erst eine Schlange
vertreiben, ehe er seinen Weg fortsetzen kann. Ähnlich muss man
nicht erst "Wissen" erwerben, um es an die Stelle des
"Nichtwissens" zu setzen, sondern es zeigt sich von
selbst, sobald das Nichtwissen verschwindet.
Unterschiede zum westlich-rationalen
Bildungsgedanken
Wenn man die Voraussetzungen betrachtet, die nach Ansicht der
Meister benötigt werden, um ein jnani zu werden, sieht man Ideale
von Bildung angestrebt, die im pragmatisch-rationalen modernen
Bildungswesen vollkommen vernachlässigt wurden. Neben
intellektueller Begabung und Fleiß werden ethisches Streben und
charakterliche Redlichkeit verlangt, ebenso wie Vertrauen, Respekt
und Loyalität. Diejenigen, die sich auf jnana als solches
spezialisieren wollen, müssen zudem von einem metaphysischen Hunger
getrieben werden, einer Überzeugung, dass es im Menschenleben
nichts Wichtigeres gibt als die Erlangung des Zustandes letzter
geistiger Freiheit. Für die meisten Menschen wird es ein Leben lang
beim Versuch bleiben, jnana zu erlangen, jijnasa zu üben, neben den
praktischen Tätigkeiten, die das tägliche Leben ausmachen, eine
Perspektive zu pflegen, die das Vordergründige relativiert.
Es gibt keine Formel für jnana
Die existentielle Natur von jnana macht es unmöglich, es in
einer Formel auszudrücken (obwohl manchmal solche Formeln in Indien
versucht wurden, wie z.B. das berühmte advaitische brahma satyam,
jagat mithya – "Brahman allein ist Wirklichkeit/Wahrheit, die
Welt ist unwirklich/unwahr"). Selbst jemand, der erst auf dem
Weg zu jnana ist, wird sich weigern, die Welt in Fakten und Werte zu
unterteilen, die instrumentale Rationalität als einzige und letzte
anzusehen, zu glauben, es sei belanglos, welches Leben man lebt,
solange man nur die Spielregeln der wertfreien Wissenschaft
einhält. Die Suche nach jnana wird jeder Art von Wahrheitssuche
eine Tiefendimension verleihen und jeder Art von praktischer
Tätigkeit ein Element von letzter Verantwortlichkeit einfügen.
Jijnasa als stets erneuerter Versuch, jnana zu erreichen - ein
Versuch, der von einer gewissen Ahnung inspiriert ist, einem Funken
von Erleuchtung, einer Art spiritueller Schwerkraft getragen - , ist
die Antwort auf neue Herausforderungen und Fragen auf dem Niveau von
Weisheit und nicht nur reiner Wissenschaftlichkeit.
Die brennende Frage "Wer bin ich"
Auch wenn ein Großteil der Literatur, die sich mit jnana
befasst, von philosophisch-religiösen "Spezialisten" für
ebensolche geschrieben wurde, so war es doch immer klar, dass
jijnasa für alle reifen, vernünftigen Menschen gedacht war. In
unserem Zeitalter wären besonders die Naturwissenschaftler dazu
berufen, wie die oben angeführten Beispiele (die beliebig vermehrt
werden könnten) zeigen. Viele von ihnen haben die Grenzen unseres
objektivierbaren Wissens ausgelotet und sind sich der ethischen
Verantwortung der Anwendung ihrer Forschung bewusst geworden. In der
indischen Tradition sind es gerade die Fragen, die die
Naturwissenschaften beschäftigen, die als geeignet erschienen, um
das Verlangen nach jnana zu wecken. Die erste und letzte aller
Fragen jedoch ist die Frage: "Wer bin ich?" Jeder Mensch
wird früher oder später damit konfrontiert. Je nach Einsicht wird
die Antwort auf die Frage verschieden ausfallen. Von der Perspektive
des jnani fällt diese Frage mit der Frage nach der letzten
Wirklichkeit zusammen. Die Antwort ist nicht ein megalomanischer
Egoismus und ein Drang, die Welt bis ins Letzte zu beherrschen,
sondern ein Aufgeben des kleinen Ich-Bewusstseins zugunsten des
universalen Bewusstseins: Das "Du" und das
"Das", das Selbst und das Letzte fallen zusammen, weil es
nur eine Wirklichkeit gibt.
Vorraussetzung für Jnana ist ein reifer Geist
Jnana, wie es die indische Tradition versteht, ist nicht die
Perspektive des "Jedermann". Man nahm an, dass jnana die
Frucht eines langen geistigen und geistlichen Reifungsprozesses ist.
Jnana ist privilegiertes Wissen, wenn man will sogar
"hierarchisches Wissen", wenn auch nicht
"Herrschaftswissen" im Sinne der modernen Soziologie, d.h.
Wissen, das zur Ausbeutung anderer dient. Ethische und
intellektuelle Vorbedingungen müssen erfüllt werden, um jnana zu
erlangen. Schon das Interesse an jnana setzt einen gewissen Adel des
Geistes voraus und verleiht der intellektuellen Suche eines Menschen
eine höhere Dimension. Ein Schankara (788-820) zugeschriebenes Werk
namens Aparoksanubhuti ("Unmittelbare Erfahrung") erwähnt
folgende Voraussetzungen für die Erlangung von jnana: Ehrfurcht vor
Gott, Disziplin, Erfüllung der Standespflichten, Selbstlosigkeit,
Unterscheidungsvermögen, Ethik und Suche nach letzter Freiheit. Nur
jemand, der diese Voraussetzungen mitbringt, kann hoffen,
Wirklichkeit zu verstehen.
Meist werden heute andere Ziele angestrebt
Es ist ziemlich klar, dass nicht alle Menschen diese
Voraussetzungen erfüllen oder auch nur erfüllen wollen. Das
Streben der meisten unserer Zeitgenossen ist auf andere Dinge
gerichtet. Man soll sich dann nicht wundern, wenn deren Ideen dann
nichts dazu beitragen, mit den tieferen Krisen unserer Zeit fertig
zu werden. Es war eigentlich immer klar, dass das Bestreben, ein
bequemes und angenehmes Leben zu führen, nicht zu tiefen Einsichten
oder zu großen Leistungen verhilft. Zweifellos gibt es auch heute,
wie zu allen Zeiten, Menschen, die Höheres anstreben und die
unsicher sind, auf welchem Weg sie es erreichen können. Das heutige
allgemeine intellektuelle Klima in praktisch allen Teilen der Welt
ist nicht dazu angetan, "idealistische" Suche zu
unterstützen. Die menschlichen Qualitäten, die als Vorbedingung
für jnana angeführt wurden, sowie jnana selbst, sind nicht
geeignet, um Profitgier, Großmannssucht und Ehrgeiz aller Art zu
unterstützen. Sie sind auch nicht dazu angetan, eine
"wertfreie Wissenschaft" zu unterstützen. Wissen ist ein
Wert in und an sich und Wissenssuche ist immer von Wertvorstellungen
("Interessen") getragen. Wenn es das nicht ist, ist es
eine Perversion. Jnana, im Gegensatz zur "wertfreien"
Wissenschaft, kann prinzipiell nicht in den Dienst verbrecherischer
Systeme gestellt werden.
Das Beispiel Mahatma Gandhis
Mahatma Gandhi könnte als modernes Beispiel herbeigezogen
werden. Sein Leben, das er in seiner Autobiographie als
"Experimente mit der Wahrheit" beschrieb, war ein
zeitgenössisches jijnasa. Er widmete sein ganzes Leben dem Dienst
an seinem Volk in einem sehr praktischen und realistischen Sinn.
Aber er war sich bewusst, dass sein Dienst davon abhing, dass er
"Wahrheit lebte", in Verbindung mit dem Höchsten stand,
seine Handlungsmotive rein hielt und seine Einzelaktionen ethisch
waren. Der Beweis für eine Wahrheit, die eine echt menschliche
Bedeutung hat, ist nicht die logische Kohärenz der Aussagen,
sondern das Leben dessen, der sie verkündet.
Brahmajijnasa
Brahmajijnasa, als Suche nach menschlich bedeutungsvoller
Wahrheit und als ethische Orientierung, kann nur in lebendigen
Personen verkörpert werden, nicht in Formeln oder Institutionen.
Brahmajijnasa ist keine Entschuldigung, um sich den konkreten
Forderungen der jeweiligen Zeit und Umstände des Lebens zu
entziehen. Ganz im Gegenteil verlangt es ein Engagement in einem
viel tieferen Sinne. Eine auf lange Erfahrung gegründete praktische
Weisheit ließ die alten Inder darauf bestehen, dass nur jemand, der
seine Verpflichtungen gegenüber Familie und Gesellschaft erfüllt
hatte, sich auf brahmajijnasa in einem ausschließlichen Sinne
konzentrieren sollte. Nur auf dem Fundament wirklicher Weltkenntnis
und Welterfahrung kann Wirklichkeitssuche in einem tieferen Sinn
aufgebaut werden. Die "Weisen" sind nicht
"Jenseits-orientiert" in dem Sinne, dass sie in einer
parallelen Phantasiewelt leben, die keinen Zusammenhang hat mit den
Propheten dieser Welt, sondern sie loten die Tiefendimension dieser
Welt aus, die wir alle nur oberflächlich kennen.
Jnana: Spiegel der Religion
Wenn jnana als Alternative zum modernen Rationalismus
hauptsächlich zu einer Kritik der Grundlagen der modernen
Naturwissenschaft führt, die die heutige Herrschaft der
instrumentalen Vernunft verkörpert, so soll nicht übersehen
werden, dass jnarca auch der Religion den Spiegel vorhält. Im alten
Indien kritisierten die jnanis die Ritual- und Formelgläubigkeit
ihrer Zeitgenossen und hielten ihnen die Unzulänglichkeit solchen
Tuns vor. Im modernen Indien - im Zusammenhang mit dem
hinduchristlichen Dialog - kritisieren sie die karma-Haftigkeit
dessen, was ihnen als christliche Offenbarung gezeigt wird und die
Identifizierung des Christentums mit "Kirchentum", aufgespaltet
in eine Vielzahl sich widersprechender Denominationen. Eine
"geistige Bluttransfusion" würde sicher auch dem
Christentum helfen, sein eigenes Selbst besser zu verstehen: nicht
als geistlose Bürokratie und verkalkte Tradition, sondern als
lebendiger Geist. Es gibt seit langem ein "christliches
Yoga" und auch Versuche, christliche Theologie in den
Kategorien indischer Systeme darzustellen. Um nicht nur das
bestehende Christentum in Indien heimisch zu machen, sondern es
weltweit zu erneuern, bedürfte es eines jijnasa, einer Anstrengung
des Geistes und des Herzens, einer Integrität von Denken und Sein,
einer Offenheit für das Geistig/Geistliche und seiner Anerkennung
als das Eigentliche, worum es in der Religion (und überhaupt) geht.
Eine Erneuerung des Geistes im Sinne von jnana könnte
weitreichende Folgen haben und zu einer Überbrückung des immer
noch vorhandenen Zwiespalts zwischen Naturwissenschaft und Religion
führen, zu einem tieferen gegenseitigen Verständnis der Religionen
untereinander und zu einer gemeinsamen Suche nach dem unum
necessarium.
Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn
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