Mystik und Gottesliebe am Beispiel der Bhagavadgita
Innerhalb der einzelnen Hindu-Religionen lassen sich in großen
Zügen zwei Typen von Mystik unterscheiden, nämlich die
"philosophische Mystik" und die "emotionale Mystik',
die sogenannte Bhakti oder Gottesliebe. Wenn dabei eine Wertung
erlaubt ist, so kann man erstere als eine "Elite-Mystik"
und zweitere als "Popular-Mystik" bezeichnen. Beides
findet sich in der Bhagavadgita, einem Text des Vishnuismus. Dieser
scheint durchaus repräsentativ für Ausführungen hinsichtlich
hinduistischer Mystik und damit verbunden dem Streben nach der
Überwindung der Folgen des Karma in der Wiederverkörperung.
Mystik ist ein Bereich der Religionsgeschichte, der Erfahrungen
des transzendenten Heils bereits in die jetzige Lebenswelt
hereinholt. Dadurch ist mystische Erfahrung jeweils eine subjektive
Erfahrung, die nur ansatzhaft von Außenstehenden nachvollzogen
werden kann. Will man daher über Mystik im hinduistischen Kontext
sprechen, so liegen uns zwar schriftlich festgehaltene Erfahrungen
von Mystikern vor, die das Bild von Mystik prägen, die aber nur
äußerliche Phänomene erfassen können. Da Mystik zugleich eine
individuelle Erfahrung ist, kann man nicht von der hinduistischen
Mystik schlechthin sprechen, doch lassen sich mit M. von Brück
(1996, S. 5) drei Merkmale hervorheben: Sie zeigt ein Gespür für
die Einheit der Phänomene der Wirklichkeit und die Erkenntnis, dass
Gott in allem und alles in Gott ist. Sie strebt als höchste
Seligkeit und als Ziel des Lebens die Vereinigung mit Gott an. Sie
setzt voraus, dass - wenigstens ansatzhaft - diese Vereinigung
bereits auf Erden erfahrbar wird, wobei eigenes Tun (wie
Yogatechniken oder philosophische Erkenntnis) oder göttliche Gnade
zu dieser Erfahrung führen kann.
Ursprung der Bhagavadgita
Im heutigen Kontext ist die Bhagavadgita (=Bhg.) im Mahabharata,
dem großen Epos vom Kampf zwischen den Pandavas und den Kauravas,
im 6. Buch an jener Stelle eingeordnet, als Arjuna den Mut als
Krieger zeitweilig verliert: Er sieht sich seinen Verwandten und
Lehrern gegenüber, gegen die er kämpfen müsste. In dieser
scheinbar aussichtslosen Situation zwischen dem dharma
("Standespflicht") des Kriegers, und dem Versuch, den
Verwandtenmord zu vermeiden, belehrt Krishna, der als Arjunas
Wagenlenker fungiert, den Helden. Diese Belehrung ist der
Hauptbestandteil der Bhg., und sie zerstreut alle Zweifel Arjunas.
Die ursprüngliche - selbständige - Bhg. dürfte bereits im
4./3.Jh. v. Chr. entstanden sein, ehe sie wohl im 2.Jh. n. Chr. ins
Mahabharata eingefügt wurde (von Glasenapp 1985, Seite 166-168).
Die runde Zahl von 700 Versen dürfte die gute Erhaltung des Textes
gefördert haben.
Besondere Stellung der Bhagavadgita unter den
Hindu Schriften
Insgesamt fügt sich die Bhg. mit ihrem vielfältigen Inhalt in
die großen Traditionsstränge der älteren Upanishaden ein, etwa
wenn die Identität von Brahman und Atman stillschweigend
vorausgesetzt, aber nicht besonders hervorgehoben wird, weil das
höchste Prinzip theistisch - und zwar als Krishna - aufgefasst
wird. Eine Besonderheit der Bhg. - und darin liegt eine Ursache
dafür, dass dieser Text gerade ab der Hindu-Renaissance in der 2.
Hälfte des l9.Jhs seine hervorragende Stellung unter dem
Hindu-Schrifttum gewonnen hat kann darin gesehen werden, dass in ihr
Krishna unterschiedliche Wege zum Heil lehrt, die eng miteinander
verbunden sind und sich gegenseitig auch stützen; insofern liefert
dieser Text - besser als andere - ein religiöses
"Angebot", aus dem man - je nach individueller Neigung -
das für die eigene Entwicklung angemessene auswählen kann, ohne
das Gefühl zu haben, einem (subjektiven) Eklektizismus zu
verfallen.
Die Bhagavadgita als "mittlerer" Weg
zur Erlösung
Man kann die Bhg. als einen "mittleren" Weg zur
Erlösung betrachten, der nicht nur insofern ein mittlerer Weg ist,
als Extrempositionen vermieden werden, sondern auch deswegen, weil
zwischen den einzelnen Positionen vermittelt wird. Schon eine erste
äußerliche Gliederung lässt dies erkennen, wenn die Kapitel 1-6
den Wert der (pflichtgemäßen) Tat und des Wissens, die Kapitel
7-12 den Wert der Gottesliebe und schließlich die Kapitel 13-18 den
Wert aller drei Bereiche darlegen, ohne dass man karman (Tat,
Werke), Jnana (Wissen) und bhakti (Hingabe) strikt voneinander
trennen darf. Vielmehr ist es aufschlussreich, dass es der Bhg.
gelingt, die "philosophische" und die
"emotionale" Mystik gemeinsam zu propagieren, auch wenn
Präferenzen für letztere anklingen.
Bhakti als Summe von Karman und Jnana
Allerdings wird - im Vergleich zu späteren Bhakti-Texten - der
Vorteil von Bhakti nie ausdrücklich auf Kosten anderer Wege
dargestellt, obschon sie am Ende der Bhg. als "Summe" von
Karman und Jnana steht (Bhg. 18, 47.49.53-55, zit. nach Schreiner
1991, Seite 134fJ: "Besser ist des eigenen Standes Ordnung,
auch wenn sie keine Vorzüge hat, als des fremden Standes Ordnung,
gut erfüllt. Wenn jemand jene Tätigkeit ausübt, die ihm von Natur
vorgegeben ist, erlangt er keinen Makel. Wer die Bewusstheit
losgelöst hat in jeder Beziehung, wer sein Selbst ersiegt hat, wem
Ehrgeiz vergangen ist, der nähert durch Entsagung sich jener
höchsten Vollendung, die Freiheit von jeglichem Tun bedeutet. Wenn
er Ichdünkel, Macht, Stolz, Lust, Zorn und Raffgier losgelassen
hat, frei von Besitzgefühl, befriedet ist, so ist er bereit für
die Seinsweise des Urgrunds (brahman). Wer mit dem Urgrund eins
geworden ist, und sein Selbst abgeklärt hat, der leidet nicht und
der begehrt nicht; indem er allen Wesen gegenüber gleich ist,
erlangt er die höchste Teilhabe (bhakti) an mir. Durch Teilhabe
erkennt er mich, wie ich in ganzem Umfang wirklich bin. Danach,
nachdem er mich der Wirklichkeit gemäß erkannt hat, geht er ohne
Zwischenstufen in mich ein."
Entwicklung zur Erkenntnis erfolgt schrittweise
Geht man von dieser Zusammenfassung aus, so wird deutlich, dass
der Mystiker sich schrittweise von der richtigen Einschätzung der
Werke und dem entsprechenden Handeln zur Erkenntnis entwickelt (vgl.
4,38-42); diese Erkenntnis beseitigt nicht nur die Folgen der Taten,
sondern führt auch zur Einheit mit dem unpersönlichen Absoluten.
Allerdings überschreitet die persönliche Hingabe an den personalen
Gott auch noch diese Erkenntnis. Damit ist - nicht nur am Ende der
Bhg. in der Zusammenfassung - wie ein roter Faden durch den Text
hindurch (vgl. z.B. 6,30f) eine Besonderheit der Mystik der Bhg.
verdeutlicht: Das höchste Brahman, das das Ziel der mystischen
Vereinigung des individuellen Atman ist, ist der personale Gott, der
Ishvara. Dieser hat seinen Sitz in allen "Herzen" und ist
Objekt von Liebe und Verehrung durch die Gläubigen. Dass es dabei
die Mystik der Bhg. allerdings vermeidet, in einem ausschließlichen
"entweder - oder" das unpersönliche Brahman gegenüber
dem persönlichen Ishvara auszuspielen, ist eine der Stärken des
Textes. Einerseits heißt es nämlich sehr konkret, dass derjenige,
der die einzelnen Geburten und Gestalten Krishnas kennt, in keine
Wiedergeburt mehr eingeht (4,7-9); andererseits lesen wir aber
zugleich, wie derjenige, der Krishna verehrt, alle Qualitäten und
Gestalten hinter sich lässt, d.h. ein solcher Gläubiger ein
Brahmanwesen wird (14,26f). Dass Krishna innerhalb der Vision seiner
Erscheinungsformen auch als Brahman identifiziert wird, wie schon
die "alten Weisen" gesagt haben (10,12), fügt sich
ebenfalls in dieses Gemeinsame der unterschiedlichen Formen der
Mystik ein.
Jnana - die philosophische Mystik
Das Wort Jnana bedeutet "Wissen, Erkenntnis",
allerdings nicht primär intellektuelle Erkenntnis, sondern die
innere Erkenntnis transzendenter Zusammenhänge, die zwar nicht ohne
Studium bzw. einen Guru erzielt werden kann, sich aber auch nicht
darin erschöpft. Versteht man Jnana in einem solchen Sinn, so
liegen die Anfänge dieser Mystik in den Upanishaden (vgl. von
Glasenapp 1985, Seite 148-166; Meisig 1996, Seite 3948). Die
Upanishaden sind dabei die ersten in dieser Hinsicht relevanten
"Dokumente, die mit abstrakten Begriffen das Umfassen oder
Übersteigen alles Endlichen andeuten, die ausdrücklich, durch
Andeutung, durch ein bestimmtes Verhalten auf eine Erfahrung
hinweisen, die eine Vorwegnahme des endgültigen Heils ist"
(Vetter 1994, Seite 175).
Erhöhter Grad an philosophischer Abstraktion
Meditative Versenkung hat es zwar schon in der älteren vedischen
Zeit gegeben. Was aber für unsere Fragestellung relevant ist, das
ist die Tatsache, dass es hier erstmals zu einem hohen Grad an
philosophischer Abstraktion gekommen ist, bei der der Atman (das
Selbst) immer stärker in den Mittelpunkt der Versenkung - und
Spekulation - gerückt worden ist. Das Besondere auf dem Weg zur
Mystik ist dabei, dass der Atman in der Meditation und Innenschau
durch den Mystiker immer stärker als geistige Komponente des
Menschen aufgefasst wurde, eine Bedeutungsentwicklung, die
bemerkenswert ist, denn ursprünglich bezeichnete der Atman den
Körper/Rumpf des Menschen. Einer der frühesten Texte, die dafür
interessant sind, findet sich in der Chandogya-Upanishad (ChU 3,14);
die Meditation über das Selbst führt hier ausdrücklich zur
Formulierung, dass letztlich der Atman mit dem Brahman vereinigt
werden will. Gleichzeitig gewinnt man auch insofern eine
Umschreibung der Eigenschaften des Selbst, als dies nicht mehr an
den Raum gebunden, sondern nur noch geistiger Natur und Zentrum
aller Erkenntnis- und Willensakte ist.
Erkenntnis der notwendigen Vereinigung von Atman
und Brahman
Damit haben wir eine doppelte Charakterisierung: Die
philosophische Mystik besteht in der Erkenntnis (Jnana), dass Atman
und Brahman vereinigt werden müssen, um den Dualismus zu
überwinden, und aus der Einsicht, dass Atman und Brahman letztlich
eins sind. Wer eine solche besitzt, ist ein Elite-Mystiker und
erfährt höchste Seligkeit, was sich auch äußerlich zeigt, denn
ein solcher Mystiker wird friedvoll, entsagend und geduldig (vgl.
Brihadaranyaka-Upanishad [= BAU] 4,4,22f). Dass solche Merkmale
Ergebnisse - und nicht, wie spätere Texte vermehrt betonen,
Voraussetzungen - der mystischen Erfahrung sind, ist wert,
ausdrücklich hervorgehoben zu werden (vgl. Vetter 1994, Seite 180)
Der Weg zur Vereinigung durch die entsprechende
Belehrung
Die so erlangte mystische Erfahrung setzt also die Erkenntnis der
wesenhaften Einheit der Phänomene der Welt und der Überwelt
voraus. Um diese Erkenntnis jedoch zu erlangen, ist eine Belehrung
notwendig, d.h. die Erfolgsaussicht dieser Art von Mystik ist mit
dem eigenen Bemühen verbunden, sich auf den Weg der Mystik führen
zu lassen. Einige Stellen aus der Chandogya-Upanishad illustrieren
dabei nicht nur die Notwendigkeit der entsprechenden Belehrung durch
einen Guru, sondern zeigen zugleich, dass die Erfahrung der
abstrakten Einheit von Atman und Brahman sich auf Bilder berufen
kann, die durchaus anschaulich sind und dem normalen Leben
entspringen; durch sie kann die philosophisch-spekulative Lehre
konkret verständlich gemacht werden.
Gleichnisse dienen zur Belehrung
Anhand des Bildes vom Schlaf belehrt Uddalaka seinen Sohn
Svetaketu (ChU 6,8,1): Wenn ein Mensch schläft, so hat er sich mit
dem Brahman vereinigt. Der Tief schlaf ist wohl ein Bild äußerster
Ruhe, bei dem auch die geistige Substanz des Menschen, der Atman,
völlig zur Ruhe gekommen ist; insofern ist das Bild des Schlafes
durchaus geeignet, die Überzeugung auszudrücken, dass in diesem
Zustand die Einheit mit dem Brahman erreicht ist; in Analogie wird
daraus weiter abgeleitet, dass man auch im Tod mit dem Ur-Seienden
wieder eins werden kann (vgl. Vetter 1994, Seite 176 und 185).
Obwohl Schlaf oder Tod natürlich nicht Ausdruck mystischer
Versenkung ist, so sind es doch diese Überzeugungen, ohne die die
Annahme der Vereinigung des Selbst des Mystikers mit dem Brahman
nicht möglich wäre. Auch eine andere Stelle aus derselben
Upanishad ist hier anzuführen, die als eine der bekanntesten der
upanishadischen Literatur gelten kann; wiederum wird Svetaketu
belehrt (ChU 6,13,1-3): "'Tue hier Salz in das Wasser und
stelle dich früh bei mir ein.' Er tat so. Der sprach zu ihm. 'Bringe
mir das Salz, das du abends in das Wasser getan hast.' Er tastete
danach und fand es nicht, da es zergangen war. 'Koste von dieser
Seite. Wie schmeckt es?‘ - 'Salzig.‘ - 'Koste von der Mitte. Wie
schmeckt es?‘ - 'Salzig.‘ - ... 'Wirf etwas hinzu und stelle
dich bei mir ein.‘ Er tat so. ... Der sprach zu ihm: 'Das Seiende
wirst du hier nicht gewahr, (dennoch:) hier ist es. Dieser feinste
Stoff durchzieht dieses All, das ist das Wahre, das bist Du,
Svetaketu.‘"
Wer Brahman erkennt, wird zu Brahman
Im letzteren Gleichnis wird das Salz, das zwar nicht mehr
sichtbar ist, wenn es sich im Wasser aufgelöst hat, aber trotzdem
als feinstoffliche Substanz das Wasser durch und durch bestimmt, mit
dem Atman verglichen, der nicht materiell, aber dennoch hier ist.
Der diese Stelle (und einige andere) abschließende berühmte Satz:
"Das bist du!" (tat tvam asi) besagt dabei ursprünglich
konkret, dass Svetaketus Atman wie das Salz im Beispiel ist, zwar
nicht zu ergreifen, aber dennoch das Wesentliche (vgl. Vetter 1994,
Seite 176). Erst die spätere Deutung ab Shankara (8.Jh. n. Chr.)
geht einen (mystischen) Schritt weiter, indem man in diesem Satz die
Einheit von Svetaketus Atman mit dem universellen Brahman ausgesagt
findet. Shankara sagt dabei sogar ausdrücklich, dass derjenige, der
Brahman erkennt, zu Brahman wird, wobei er eine diesbezügliche
Aussage der Mundaka-Upanishad aufgreift (MU 3,2,9). In dieser
Hinsicht erreicht die philosophische Mystik im advaitischen
(nichtdualistischen) Vedanta ihren Höhepunkt, indem durch die
mystische Erfahrung die traditionellen Überlieferungen nochmals
reflektiert werden (vgl. auch von Brück 1996, Seite 20-23; Meisig
1996, Seite 87-90). Denn die vom advaitischen Vedanta betonte
Einheit von Brahman und Atman ist ja nicht substantiell neu, sondern
nur ein konsequentes Festhalten und Betonen von Erfahrungen, die
schon in den Upanishaden rund ein Jahrtausend früher formuliert
wurden.
Durch Yoga zur Vereinigung von Atman und
Brahman
Vor diesem Hintergrund ist es nun zu sehen, wenn auch die Bhg.
Jnana als Wert auf dem Weg zur Erreichung der Einheit von Atman und
Brahman hinstellt (vgl. von Glasenapp 1985, S. 175-179), wobei dem
Mystiker auch Techniken des Yoga hilfreich sind. Es ist daher kaum
zufällig, dass gerade die ersten Kapitel der Bhg. den Jnana-Yoga
als einen mystischen Weg zur Erlösung beschreiben. Wer nämlich in
yogischer Versenkung seinen Geist zügelt und von den
Sinneseindrücken abzieht, wird nicht nur von allen Taten und ihren
Wirkungen frei, sondern überwindet auch Leidenschaften. Damit wird
sein Geist, in Weisheit und Versenkung gefestigt, zufrieden im Atman
und durch den Atman und erreicht somit den Brahman-Zustand, aus dem
er auch nach dem Tod nicht mehr zurückkehren wird (vgl.
2,53-56.71-72). Dass dabei - im Unterschied zu den Upanishaden -
Jnana in der Bhg. meist auf ein theistisches Objekt gerichtet ist,
wurde schon gesagt. Den Höhepunkt in diesem Zusammenhang stellt
dabei zweifellos die große Vision der Selbstoffenbarung Krishnas in
Kapitel 10 dar, wenn der Gott sich in allen Formen kundtut. Dennoch
ist es schwierig, selbst in diesem theistischen Kontext Krishna
vollkommen zu erkennen (vgl. 7,1-7), da die Menschen meist nur die
niedrige Natur des Gottes erkennen, nicht aber die höhere, die im
Lebensprinzip besteht, aus dem alles stammt und das die Welt
erhält. Aber nur wer dies erkennt, erlangt die Einheit mit Gott
(7,17-19).
Anerkennung von Wissen und Erkenntnis in der
Bhagavadgita
Trotz der Betonung von Wissen/Erkenntnis darf man diese als
mystischen Weg nicht gegen die Gottesliebe ausspielen, wie Bhg. 12,1
zeigt: Denn als Arjuna fragt, ob diejenigen, die Krishna liebend
verehren, oder aber jene, welche das unzerstörbare und verborgene
Brahman verehren, also das bessere Wissen haben, gibt Krishna zur
Antwort, dass er diejenigen, die ihn voll Glauben hingebungsvoll
verehren, als die ihm ergebensten ansieht; allerdings betont er
ausdrücklich, dass die Mühsal derer, die das Denken auf das
unzerstörbare und
verborgene Brahman richten, noch größer ist; denn ein
verborgenes Ziel wird von körperhaften Wesen ja nur schwer erreicht
(12,2-5). Damit kann die Stellung zu Jnana als Weg zur mystischen
Einheit in der Bhg. etwa wie folgt zusammengefasst werden: Die Bhg.
(aner)kennt durchaus die Bedeutung von Jnana, wie diese in den
Upanishaden hervorgehoben wird, durch die man die Einheit von Atman
und Brahman erlangen kann, wie Krishna sagt (13,12.15.17f,)
Bhakti - die emotionale Mystik
Unter emotionaler Mystik ist jene Erscheinung der
Hindu-Religionen zu verstehen, die als Bhakti bezeichnet wird. Das
Wort bedeutet wörtlich die "Teilhabe" des Menschen an
Gott und die Teilhabe Gottes an den Menschen, d.h. Bhakti ist die
auf Gegenseitigkeit beruhende Liebe zwischen Gott und den Menschen
(vgl. von Brück 1996, Seite 16; Meisig 1996, S. 125-128). Daraus
ergibt sich, dass Bhakti in allen Richtungen des
"Hinduismus" grundsätzlich möglich und tatsächlich
vorhanden ist, wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen.
Textlicher Ursprung von Bhakti
Die schwerpunktmäßige Ausprägung hat Bhakti im Vishnuismus
erfahren. Allerdings ist es bezeichnend, dass die (zufällig)
älteste Belegstelle für das Wort Bhakti in der Svetashvatara
Upanishad vorkommt. In diesem Text identifiziert Svetashvatara, der
Weise, von dem die Upanishad ihren Namen hat (SvetU 6,21-23), den
Gott Rudra-Shiva mit dem Höchsten, d.h. - entsprechend jüngerer
Kategorisierung - der Text steht dem Shivaismus nahe. Der Akzent des
Textes liegt dabei nicht auf Brahman als dem Absoluten, sondern auf
dem persönlichen ishvara (Herr), der als allwissend und allmächtig
betrachtet wird und in dem das Brahman manifest wird. Damit finden
wir bereits in diesem ersten Text über Bhakti im Kern einige
Wesensmerkmale angedeutet, die die emotionale Mystik und Gottesliebe
ausmachen: Sie ist - im Unterschied zur philosophischen Mystik -
theistisch ausgeprägt; ferner ist sie auf die Gnade Gottes - und
weniger auf die eigene Leistung und Anstrengung, die allerdings
nicht völlig fehlt- ausgerichtet.
Ursprünge von außerhalb brahmanischer Kreise
Dadurch überschreitet sie leichter als die philosophische Mystik
die sozialen Begrenzungen, die durch das Kastensystem und die
Lebensstadien gesetzt sind. Vielleicht darf man annehmen (vgl.
Schneider 1989, Seite 159f), dass diese Strömung der indischen
Religionsgeschichte ihren Ursprung außerhalb von brahmanischen
Kreisen hat, wobei es aufgrund der Bedeutung von Krishna als dem
Bhakti-Gott schlechthin nahe liegt, den Ursprung dieser religiösen
Ausdrucksform in Kriegerkreisen zu suchen. Dazu passt durchaus, dass
auch die Bhg. mit ihrer Bedeutung für die Bhakti im Milieu des
Krieges angesiedelt ist. Allerdings scheint auch der frühe
Buddhismus einen gewissen Einfluss darauf ausgeübt zu haben, dass
man einen Weg zur Erlösung suchte, der weder am Opferkult noch an
der (philosophischen) Erkenntnis orientiert ist. Jedenfalls wird man
festhalten müssen, dass Bhakti erst nach dem 5.Jh. v. Chr.
entstanden ist, d.h. diese Form der Mystik ist jünger als die
vorhin skizzierte philosophische Mystik.
Jedem kann die Gottesliebe zuteil werden
Die Bhg. kann mit Recht als ein Lehrgedicht der Gottesliebe
bezeichnet werden, wobei immer wieder das Stichwort Bhakti
auftaucht. Dieses persönliche Verhältnis Gott-Mensch macht dabei
diesen Text so anziehend. In der göttlichen Liebe zu den Menschen
werden alle Unterschiede aufgehoben, gleichgültig, ob jemand ein
gelehrter Brahmane, eine Frau, ein Vaishya oder ein Shudra ist
(9,32f); selbst ein Bösewicht wird dadurch, dass er Anteil an
Krishna als dem Höchsten findet, schnell tugendhaft und gelangt zum
ewigen Frieden (9,30f). Damit werden nicht nur die durch die Geburt
bedingten - Schranken überwunden, sondern wird auch die Kausalität
des Karman durch die Liebe Gottes gnadenhaft abgebrochen. Deshalb
kann derjenige, der sich auf die Liebe Gottes einlässt, höher
gelten als ein Yogi, der sich durch seine eigene Anstrengung der
Gottheit nähert (6,46). Die Größe der Gottesliebe, die Krishna an
Arjuna verkündet, übersteigt z.T. menschliches Fassungsvermögen,
so dass letztlich die Bhg. ein Geheimnis bewahrt, allerdings eines,
das demjenigen, der sich ganz der Gottheit ergibt, verkündet werden
soll (18,64-68).
Erforderlich ist die Bereitschaft Gott zu
lieben
Damit ist zweifellos der Höhepunkt der Bhg. erreicht: Mystische
Gottesliebe führt jeden Menschen - trotz eigener Schlechtigkeit -
zur Erlösung (moksha), vorausgesetzt, der Mensch ist bereit, die
Gottheit zu lieben. Wer Gott nicht liebt und daher auch die
dharmagemäßen Überlieferungen nicht befolgt, der wird von Krishna
im Kreislauf der Wiederverkörperungen von einem zum nächsten
dämonischen Mutterschoß geführt, was in der völligen Gottferne
am Tor der Hölle endet (16,19-24). Gläubige Liebe an die Gottheit
entbindet den Menschen somit nicht von der Verpflichtung, seinem
Dharma gemäß zu leben und letztlich ein Gleichgewicht zwischen
Jnana und Bhakti anzustreben, so dass der Mensch immer seine
(kleinen) Schritte auf dem Heilsweg selbst gehen muss.
Die Entwicklung von Bhakti in Südindien
Sehr bedeutend ist - gerade für die Volksreligiosität bis in
die Gegenwart – eine Entwicklung, die etwa ab dem 6./ 7.Jh. sowohl
im sanskritisierten Nordindien als auch im dravidischen Südindien
sichtbar wird. Der Süden geht - zunächst im shivaitischen Kontext
- einen eigenen Weg, der einerseits gegen die Ritualisierung
gerichtet ist, weshalb auch die bewusste Überwindung sozialer
Bindungen angestrebt wird, was sich z.B. im Genuss von Alkohol und
im Stellenwert der Sexualität niederschlägt, die als Vereinigung
mit Shivas Shakti (d.h. seiner Energie) gesehen wird. Andererseits
finden wir aber hier bereits die totale Hingabe (bhakti) an Shiva,
die alles andere - d.h. auch Kasten und Normen - sekundär macht.
Aber genauso werden südindische Götter vom
nordindisch-vishnuitischen Krishna beeinflusst, so dass gegen Ende
des 1. Jahrtausends n. Chr. deutliche gegenseitige Beeinflussungen
greifbar werden. Darüber hinaus sind die eigenständigen mystischen
Traditionen Südindiens hervorzuheben, die in der Poesie der Alvars
ab der Mitte des 1. Jahrtausends n. Chr. die Liebe zu Gott als
Heilsweg schlechthin verherrlichen (vgl. von Brück 1996, Seite 15).
Die Entwicklung von Bhakti in Nordindien
Für die nordindische Entwicklung der Bhakti-Frömmigkeit ist
v.a. das Bhagavat-Purana wichtig: Krishna wird darin als Hirtengott
geschildert, der eine erotische Seite in die Mystik bringt. Wenn das
Purana recht unverblümt die Liebe Krishnas zu den (verheirateten)
Hirtinnen (gopis) und v.a. zur verheirateten Radha schildert, was
grundsätzlich alle Schranken überschreitet, so wird dies in der
mystischen Betrachtung allegorisch zum Abbild der Liebe der Seele zu
Gott, ja ihrer Vereinigung mit Gott. Die emotionale Seite dieser
Liebesvereinigung einer Seele mit einer personalen Gottheit wird
dabei von (volkstümlicheren) Texten und Richtungen, die in der
Nachfolge des Bhagavat-Purana entstehen, als höchster Heilsweg
angesehen, der dann endgültig die Elite der
"Erkenntnis-Mystiker" überflügelt und die Vereinigung
mit dem Göttlichen für breite Schichten erschließt. Die manchmal
doch eher abstrakte göttliche Liebe der Bhg. wird dadurch
konkretisiert, dass das Bhagavat-Purana (und verwandte Traditionen)
als Erklärung und epische Ausformulierung des Lehrgedichtes gesehen
wird.
Neue Kommentare kommen ergänzend zur
Bhagavadgita hinzu
Die Bedeutung der Bhg. bis in die Gegenwart ist ungebrochen
geblieben, obschon festzustellen ist, dass etwa zwischen dem 13. und
der Mitte des l9.Jhs. der Text etwas in den Hintergrund gerückt
war, um dann z.T. auch mitbewirkt durch die europäische
"Entdeckung" der Bhg., die ihrerseits nach Indien
zurückgestrahlt hat - zu einer wesentlichen Urkunde des
Hindu-Bewusstseins auf zurücken. Eine Fülle von neuen
Kommentierungen ist entstanden, die - je nach dem philosophischen
Hintergrund des Kommentators - meist Präferenzen für Jnana oder
Bhakti zeigen. Damit wird an jene Traditionen der indischen
Kommentare angeschlossen, die ebenfalls meist einen dieser Wege
hervorheben.
Jnana und Bhakti als mystische Wege zur
Gottheit
Als erster dieser klassischen Kommentare ist die sogenannte
"Anugita" zu sehen, die innerhalb des Mahabharata
(14,16ff) überliefert ist und frühestens ins 3.Jh. n. Chr. zu
datieren sein dürfte; darin wird deutlicher als in der Bhg. die
Rolle von Jnana als Mittel, die Erlösung zu erlangen,
hervorgehoben. In der Nachfolge dieser inhaltlichen Akzentsetzung
steht der Kommentar von Shankara (8.Jh.), der am advaitischen
Vedanta orientiert ist; obwohl für ihn Jnana im Mittelpunkt steht,
verbindet er - und insofern bleibt er dem Original durchaus treu -
häufig auch Bhakti mit Jnana; Bhakti ist für ihn zwar kein Weg zur
Erlösung, aber sie führt zum erlösungsnotwendigen Wissen, so dass
Bhakti nie völlig negiert werden kann. Auch ein anderer großer
Kommentator des Mittelalters, Ramanuja (11. Jahrhundert), verbindet
in seinem Kommentar Bhakti und Jnana, ordnet dabei allerdings -
gerade umgekehrt gegenüber Shankara - Jnana der Bhakti unter. Dabei
hebt Ramanuja hervor, dass Bhakti intellektuell und
emotional-hingebungsvoll ist. Ramanujas Bhakti-Orientiertheit
entspricht dabei ferner, dass für ihn das Höchste Brahman in
gewisser Weise auch Eigenschaften/Qualitäten besitzt; anders
formuliert kann man sagen, dass Ramanuja dadurch den Theismus der
Bhg. in sein philosophisches System des modifizierten Advaita (Vishishtadvaita)
integrieren kann.
Bhagavadgita - Für den Mystiker ein Wegweiser
zu Gott
Diese kurzen Andeutungen sollten abschließend zeigen, dass seit
fast 2000 Jahren die Bhg. ein Text der indischen Religionsgeschichte
ist, in dem man Antworten auf die Frage nach den Möglichkeiten, das
Transzendente zu erreichen, suchte und fand. Jeder Mystiker, der
seine persönliche Erfahrung auf dieser Suche erlebt, kann dabei -
auch den eigenen, subjektiven Vorlieben entsprechend - den einen
oder anderen Aspekt stärker betonen, ohne dass er dabei
Wissen/Erkenntnis oder Gottesliebe völlig negieren darf, weil nur
beides gemeinsam letztlich zu Gott führt (18,55).
Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn
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