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Reinkarnation und Karma in der religiösen Vorstellung des Hinduismus

Von Bettina Bäumer (Biografie)

 

Die Lehre von Karma und Reinkarnation ist zum unerschütterlichen Glaubensinhalt der Religionen hinduistischer Tradition geworden. Die Übertragung dieser Lehre in den Kontext einer abendländischen Weltanschauung führt oft zu groben Missinterpretationen. Es gilt daher den Bewusstseinshorizont der Karma und Reinkarnationslehre in seinem ganzen Ausmaß zu begreifen. Es geht dabei nicht um übersetzbare und so verpflanzbare Begriffe, sondern um Lebenshaltungen, Erfahrungen und Motivationen, die einer ganz bestimmten Kultur entstammen.

Die erste Frage, auf die Karma und Wiedergeburt im indischen Kontext als Antwort auftaucht, ist die Frage: Was geschieht mit dem Menschen nach dem Tod? Denn "die ganze Welt ist Nahrung für den Tod" (Brhadaranyaka Upanishad=BU III, 2, 10) - und in dieser Stelle der Brhadaranyaka Upanishad geht es um die Überwindung des "wiederholten Todes" (punar mrityu), nicht der Wiedergeburt. Dieser in seiner Deutlichkeit älteste Text der BU über dieses Thema, in dem Artabhaga den Weisen Yajnavalkya über das Geheimnis von Leben und Tod befragt, lautet dann: "‘Yajnava'Ikya‘, sprach er, ,wenn die Stimme eines Toten ins Feuer eingeht, sein Atem in den Wind, seine Augen in die Sonne, sein Verstand in den Mond, sein Gehör in die Himmelsrichtungen, sein Leib in die Erde, seine Körperhaare in die Pflanzen, seine (Kopf) Haare in die Bäume, sein Blut und sein Same ins Wasser, was wird dann aus diesem Menschen?‘ ‚Artabhaga, mein Lieber, nimm meine Hand. Nur wir beide sollen dies wissen, das ist nicht für alle Leute.‘ Die beiden gingen fort und berieten sich (im Geheimen). Was sie redeten, war das Werk (Karma), was sie priesen, war das Werk (Karma). Man wird gut durch gute Werke und schlecht durch schlechte Werke. Darauf schwieg Jaratkarava Artabhaga" (BU III, 2, 13).

Das Karma als Geheimnis

Karma und Reinkarnation sind nicht einfach kausale Theorien, sondern letztlich ein Geheimnis, nicht rationale, sondern religiöse Aussagen. An die Öffentlichkeit dringt nur das Wort Karma und das Gesetz, dass man durch gutes Werk gut wird, und durch schlechtes Werk schlecht. Das heißt, das Werk des Menschen und seine Wirkung oder Rückwirkung sind untrennbar verbunden. Der älteste Kommentar zu den Yoga-Sutren sagt es ausdrücklich: "Der Verlauf (gati) des Karma ist geheimnisvoll und schwer zu erkennen" (Vyasabhasya II, 13). Das beweist unter anderem auch die Tatsache, dass die rationalistischen und materialistischen Denksysteme in Indien, die keine übersinnliche Wirklichkeit in irgendeiner Form anerkennen, die Lehre von Karma und Reinkarnation geleugnet haben. Hingegen wurde sie von allen religiösen Schulen und Systemen angenommen, wenn auch verschieden interpretiert.

Zwei Wirkungen sakralen Handelns

Im Veda kann man zwischen zwei Weisen der Auswirkung sakraler Handlung unterscheiden: einer subjektiven und einer objektiven. Subjektiv hinterlässt jede Handlung Spuren in der Psyche, aber auch in Körper und Geist des Handelnden. Das meint die Upanishad, wenn sie sagt, dass man gut durch gutes Werk wird und schlecht durch schlechtes. D. h. der Mensch macht sich selbst, er wird zu dem, was er tut oder denkt. Die "objektive" Wirkung der Handlung ist die Spur, die sie in der Welt hinterlässt, einschließlich ihrer Wirkung auf andere Menschen. Im Kontext des Ritus sind es oft sehr konkrete Dinge, wie z. B. das Hervorbringen von Regen usw..

Die Isa Upanishad

Betrachten wir eine der ältesten Upanishaden in Bezug auf Karma, vor der Kristallisation der Lehre von der Reinkarnation: Isa Upanishad. Es gibt hier anscheinend nach dem Tod nur zwei Möglichkeiten: l. das Eingehen in "blinde Finsternis" für diejenigen, die "Töter des Selbst sind" (atmahah, Isa 3) und die sich in der Unwissenheit befinden bzw. sich für weise halten (9,12); 2. die Unsterblichkeit für diejenigen, die "alle Wesen im eigenen Selbst sehen und das Selbst in allen Wesen" (6), die zur Einheit gelangt sind mit allen Wesen (7) und die durch wahre Weisheit sowohl das Wissen wie das Nichtwissen überstiegen und so den Tod überwunden haben (11). Bedingung dafür ist jedoch, dass ihnen keine Werke "ankleben", auch wenn sie 100 Jahre leben und Werke tun (2). Der erste Vers gibt den Kontext, in dem allein der Mensch sich erkennen und handeln muss, um nicht in Karma verstrickt zu werden: "Von Gott durchdrungen ist diese ganze Welt, alles was sich bewegt. Wer ihr entsagt, genießt wahrhaft, strebe nicht nach fremdem Gut" (Isa 1). Was geschieht nun in der Stunde des Todes? Der Sterbende betet, dass ihm das Angesicht der Wahrheit, das verborgen ist, offenbart werde. Nach dieser verklärenden Vision (16) folgt die Annahme des Todes: "Möge dieses Leben in den unsterblichen Wind eingehen, dann kann dieser Körper zu Asche werden. OM, o Geist, gedenke der Tat, o Geist, gedenke der Tat!" (17)

Keine einheitliche Lehre von Reinkarnation und Karma

Wie immer die Entwicklung in Veden und Upanishaden verlaufen sein mag, es kommt der Moment, in dem die Lehre von Karma und Reinkarnation (punarjanma) zum unerschütterlichen Glaubensinhalt der indischen Religionen geworden ist. Die indische Tradition ist selbst oft den Gefahren einer Simplifizierung und Entstellung der Lehre von der Reinkarnation erlegen. Oft war es diese vereinfachte Vorstellung, die vom Westen übernommen - oder widerlegt worden ist. Es gilt, sich bewusst zu machen, dass es keine einheitliche oder eindeutige Lehre gibt. Sogar im großen Epos Mahabharata, das gerade als Musterbeispiel für diese Lehren zitiert wird, treffen wir die verschiedensten Begriffe und existentiellen Haltungen an.

Karma und Wiedergeburt als Bindeglied zwischen Gegenwart und Vergangenheit

Karma und Wiedergeburt erklären Vergangenheit und Gegenwart jedes Menschen bzw. der Menschheit und auch aller anderen Lebewesen. Die Ungleichheit der Geburt, der Lebensumstände und des Schicksals jedes einzelnen wird durch das Karma erklärt, das sie von früheren Existenzen als "Erbe" mitgebracht haben. Positiv an dieser Einsicht ist die Tatsache, dass kein Mensch in ein bzw. aus einem Vakuum geboren wird. Die Faktoren, die sein Wesen und sein Schicksal bestimmen, können nicht bloß als das Ergebnis der Erbmasse und der äußeren Umstände erklärt werden. Die Gefahr dieser Überzeugung besteht u. a. in einer Minimisierung des Leidens; d. h. jede Art des Leidens wird als Buße für Sünden im früheren Leben angesehen. Obwohl diese Haltung leicht zu Fatalismus führt, birgt sie doch auch die Möglichkeit einer willigen Annahme des Leidens als Läuterung. In den indischen Religionen sind es vor allem erleuchtete und heilige Menschen (wie der Buddha), die ihre früheren Leben "kennen". Diese Tatsache sollte uns aufmerksam machen auf die Frage nach dem Subjekt der Wiedergeburt. Ferner gibt es Menschen, die durch Träume oder Erlebnisse des Wiedererkennens sich an frühere Existenzen erinnern.

Hoffnung für die Zukunft

In Bezug auf die Zukunft kann die Lehre von der Reinkarnation sowohl Hoffnung wie Furcht wecken: Hoffnung, weil die Chance besteht, wenn wir die Erlösung in diesem Leben nicht schaffen, in einem oder mehreren zukünftigen Leben so weit zu kommen, unser Karma aufzubrauchen oder unsere Sünden abzubüßen. Obwohl die meisten geistlichen Meister darauf drängen, dass wir dieses gegenwärtige Leben voll für unser Heil nützen sollen, gibt es auch durchaus spirituelle Menschen, die von vornherein damit rechnen, wiedergeboren zu werden, um dann intensiver nach Erlösung zu streben. Jeder intensive spirituelle Weg fordert eine gewisse Dringlichkeit - doch braucht der Hindu oder Buddhist nie die Angst zu haben, seine Chance endgültig zu verpassen, was ihm eine gewisse Gelassenheit gibt.

Angst vor der Zukunft

Jedoch hat der Hinduismus mit der Aussicht auf unzählige Geburten seinen Gläubigen sehr oft Furcht eingejagt. Vor allem im Kontext der religiösen Gesetzbücher (dharmasastra) wurde die Reinkarnation zu einem Drohmittel, um die Menschen zu moralischem Handeln und zum Einhalten der Gebote zu bringen - eine negative Funktion, wie sie die Angst vor Fegefeuer und Hölle im Christentum bis vor nicht allzu langer Zeit erfüllte. Dies führte so weit, dass es in den dharmasastras ausführliche Listen gibt, in denen aufgeführt wird, für welche Sünde man in welcher Existenzform wiedergeboren wird. In einer einfachen Form heißt es z. B., dass man als Folge von sündhaften Gedanken in einer niederen Kaste, als Folge von sündhaftem Reden als Tier und als Folge von sündhafter Handlung als lebloses Wesen (Pflanze, Stein usw.) wiedergeboren wird.

Folgen von Denken und Handeln auf das Karma

Die Theorie, hinter den Konsequenzen im nächsten Leben ist, dass die individuelle Seele (bhutatman, wörtlich das "Elementenselbst") Leid und Freude erleben muss und dass sie die Handlungen tut, die sie jeweils verstricken oder befreien. Es ist aber ein transzendentes, erkennendes Selbst (ksetrajna, Manu 12, 12-23), das die Handlungen verursacht oder ermöglicht. Doch genügt die wahre Einsicht in das Wesen der Dinge und die Erkenntnis dieses in Wahrheit handelnden Selbst, um den Folgen des eigenen Karma zu entgehen und daher von Wiedergeburt befreit zu werden (Manu 6, 74). Trotz der Karikaturen, die es von diesem System gegeben hat und noch gibt, ist es wichtig, den ethischen Impuls nicht zu unterschätzen. Sein Hintergrund liegt in der Einsicht, dass unser Denken, Reden und Handeln (Karma schließt immer die beiden ersten ein) nie beliebig oder willkürlich sein können. Sie sind einerseits schon bedingt durch das, was wir (geworden) sind. Unser früheres Karma muss sich aber bewusst sein, dass jede Regung des Denkens, jede Geste oder gering erscheinende Handlung weitreichende Folgen hat. Im Gesetz der kosmischen Zusammenhänge gibt es keinen Zufall und auch keine Entschuldigung. Es ist ein Gesetz kosmischer Verantwortung.

Bereiche von Karma und Wiedergeburt

Der ursprüngliche Kontext der Lehre von Karma und Wiedergeburt ist zunächst ein religiöser, und weder eine naturwissenschaftliche noch eine psychologische Erklärung wird dieser Lehre gerecht (obwohl es Entsprechungen und Auswirkungen auf diesen Ebenen gibt). Sie hat mit dem Streben zu tun, das Leiden zu überwinden und die Befreiung aus der Bedingtheit, die durch das Handeln entsteht, zu erlangen. Karma und punarjanma sind nicht primär weltimmanente Erklärungen, sondern sozusagen Sprungbrett für die Erlösung. Auch die Ethik, die sie betonen, ist eine notwendige Stufe auf dem Weg zur Erlösung, denn gerade weil Karma wirksam ist, kann man keine Stufen überspringen. Die Einsicht, dass wir sind, was wir tun (bzw. getan haben), und dass wir tun, was wir sind, ist eine religiöse Einsicht, die nicht nur den physischen Körper (sthula sarira), sondern vor allem den subtilen Seelenkörper (suksma sarira) betrifft, bis hin zu der subtilsten Stufe des karana sarira ("Ursache-Körper").

Karma ist einer individualistischen Lebensauffassung entgegengesetzt

Der Kontext ist weiter der eines Bewusstseins vom Eingebettet sein in kosmische Zusammenhänge. Dieses Bewusstsein setzt eine mythische Offenheit für den Kosmos und eine große Sensibilität für die unsichtbaren Ströme voraus, die in den Menschen und in der Welt wirksam sind. Das Karma ist damit einem individualistischen Weltbild und Lebensgefühl völlig entgegengesetzt ist. Vor dem Hintergrund einer individualistischen Lebensauffassung und eines linearen Zeitbegriffs wird Karma zu einer geraden Linie, die sich durch verschiedene Existenzen derselben Person hindurchzieht. Karma ist aber gerade ein dichtes Gewebe aus vielen sich kreuzenden Fäden. Die ganzheitliche Vision der Karmalehre geht dabei verloren.

Das Subjekt von Karma und Wiedergeburt

Wer ist das Subjekt von Karma und Wiedergeburt? Diese Frage wurde in den indischen Traditionen immer wieder gestellt und verschieden beantwortet, und an ihr scheiden sich die spirituellen und philosophischen Wege (Buddhismus: kein Ich; pluralistische Schulen: viele Subjekte; Advaita: nur ein Ich). Doch wie groß auch die philosophischen Differenzen im indischen Kontext sein mögen, es ist immer klar, dass das individuelle Ich (wir wollen es lieber Ego nennen), wenn es überhaupt existiert, überwunden werden muss, aus seiner atomaren Existenz (anu) oder seinem tierischen Zustand (pasu) herausbrechen und seine wahre Identität (wieder-) erkennen muss (vgl. Upanishaden, Sivaismus von Kashmir). Sicher kann es nicht mein begrenztes Ego sein, das nach dem Tod weiterlebt und wiedergeboren wird. Doch wer oder was ist dann der Träger "meines" Karma? Man kann verkürzt nur sagen: es gibt eine Kontinuität, und der Mensch ist wie ein Gefäß (patra), ein Kanal, durch den der Strom des samsara fließt, oder wie kommunizierende Gefäße.

Es gibt nur einen der wiedergeboren wird

Die erste und letzte Antwort des Hinduismus auf diese Frage gibt aber Sankaras Advaita, der die ganze vedisch-upanischadische Tradition zusammenfasst: "In Wahrheit, es gibt keinen anderen, der wiedergeboren wird, als den Herrn." (satyam nesvarad anyah samsari, Brahma Sutra Bhasya I, 1, 5; siehe Coomaraswamy, On the One and only Transmigrant, Journal of the American Oriental Society 1944). Die individuellen Seelen sind nur "Inkarnationen" des Herrn, Manifestationen Gottes, letztlich sein Spiel (lila). Die einzige Person (Purusa) ist der Herr, daher der einzige Handelnde in allen Wesen. Wir sind alle Teile seines Leibes. Doch wenn wir zu dieser Einsicht gelangt sind, sind wir schon von unserem Karma befreit, auch wenn wir das zu reifen begonnene Karma (prarabdha), das unser gegenwärtiges Leben ausmacht, noch zu Ende führen müssen.

Die Ebene des Geistes und der Materie

Wir entdecken also zwei Ebenen, die nicht getrennt, aber unterschieden sind: auf der Ebene des wahren Ich (aham), des Geistes (purusa, atman), sind wir schon aus dem samsara befreit, sobald wir es nur erkennen (oder "erkannt werden, wie wir sind" in christlichen Begriffen). Auf der Ebene der Materie (prakriti, maya) gibt es einen nichtendenden Kreislauf von Geburt und Tod, denn so wie Energie nicht zerstört werden kann, geht auch die karmische Energie, die die konkreten Lebewesen konstituiert, weiter: "Was die Metapher von Karma und punarjanma in uns erwecken will, ist die Erkenntnis, dass, wenn wir dem Gesetz der Materie folgen (d. h. wenn wir nur aus unseren [vom Karma bedingten] Wünschen und Abneigungen heraus handeln), wir der Materie gleich sein werden und immer wieder geboren werden." (Francis D' Sa, Karma: Work for liberation and means of pondage. Towards a Hindu Theology of Work, Manuskript, Seite 12)

Unvereinbarkeit mit den westlichen Begriffen für Individualität und Geschichte

Es ist klar, dass der westliche Individualitätsbegriff (seit Descartes) unmöglich auf die Lehre von der Reinkarnation angewendet werden kann, weil dabei das genaue Gegenteil herauskäme: Statt das Ego zu relativieren und in seine kosmisch-menschlichen Bezüge einzufügen, würde es vielmehr ausgedehnt auf mehrere Geburten. Wie ein "nicht-egozentrisches Verständnis der karmischen Existenz" aussieht, ist einerseits eine gelassenere Haltung dem Schicksal gegenüber, sowohl den Leiden wie den Freuden, eine Relativierung der eigenen Person, aber gleichzeitig ein "Gefühl der kosmischen Verantwortung, denn das ganze Universum hängt von dem positiven Umgehen mit dem Karma ab, das mir zur Verfügung steht. Ich bin das Verbindungsglied zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen mir und den anderen..." (R. Panikkar, Myth, Seite 379). Ähnlich verhält es sich mit dem abendländischen Geschichtsbegriff, der als Hintergrund für das Verständnis von Reinkarnation nur dann geeignet ist, wenn man unter Geschichte nicht eine Ansammlung von (faktischen) Ereignissen versteht. Geschichte im Sinn der Integration der kollektiven Vergangenheit könnte aber durchaus mit dem Karma-Begriff in Entsprechung gesetzt werden.

Karma als Basis zur Befreiung

Karma und Wiedergeburt reflektieren weltenbezogene Strukturen, sie sind der Inbegriff des samsara. Deshalb scheint es oft, als würden sie automatisch funktionieren, ohne Bezug auf einen Gott. Doch gibt es religiöse Schulen, in denen das Karma Gott untergeordnet ist, so dass seine Gnade auch gegen das Karma eines Menschen wirken kann. Meist wird aber vorausgesetzt, dass der Mensch sich bemühen muss, sein angesammeltes Karma abzutragen wie eine Schuld. Er darf kein neues schaffen (etwa durch sündige Werke) oder "gegen den Strom schwimmen", um sich - mit oder ohne göttliche Gnade - ganz vom Karma zu befreien. Die Erkenntnis des Karma und seine Annahme sind also das Material, das dem Menschen zur Verfügung steht, um sein Heil zu erwirken, sie sind Sprungbrett zur Befreiung (moksa).

Zwei mögliche Heilswege

Es gibt nach der indischen Tradition zwei Richtungen, die der handelnde Mensch einschlagen kann: Die eine, die aktive (pravritti), schwimmt mit dem Strom der Handlung; die andere, der Weg des Verzichtes, der Passivität, der Kontemplation (nivritti), schwimmt gegen den Strom des Karma. Die Aktivität (pravrittam karma) wird auch beschrieben als Handeln, um Wünsche in dieser oder der nächsten Welt zu erfüllen, also motiviertes Handeln, während die "losgelöste Handlung" (nivrittam karma) ohne Wunsch und Begierde ist, was wahre Erkenntnis voraussetzt (vgl. Manu 12,88-90). Pravritta trägt zur Fortsetzung der Welt bei (auch im positiven Sinn), während nivritta die weltliche Existenz übersteigt, bzw. rückgängig macht (wörtlich).

Die Bhagavadgita als Beispiel für einen Heilsweg

Die Quintessenz der Lehre Krishnas an Arjuna in der Bhagavadgita ist, dass es nicht das bloße Nichthandeln ist, was den Menschen befreit. Nicht eine Flucht vor der eigenen Pflicht (svadharma) wird hier gepredigt, sondern der Mensch muss handeln, doch hängt es davon ab, wie und mit welcher inneren Einstellung er handelt, ob ihn sein Handeln in den samsara verstrickt oder daraus befreit. Ein Handeln, das sich bewusst von den Bindungen befreien will, wird karmayoga genannt, wir könnten es übersetzen als spirituelle Übung, integrierte Handlung, disziplinierte Aktion. Der Unterschied zwischen bindendem und befreiendem Karma wird nirgends so deutlich geoffenbart wie in der Gita: "Deine Angelegenheit ist nur das Werk allein, nie aber dessen Frucht (Ergebnis, Lohn), lass dich nicht von der Erwartung des Lohnes leiten, hänge dich aber auch nicht an Untätigkeit" (47). "Tu deine Werke, im Yoga (geistigen Übung, Hingabe, Integration) feststehend, gib alle Anhänglichkeit auf, o Siegreicher. Bleibe gleichmütig bei Gelingen oder Misslingen (Erfolg oder Misserfolg), denn Gleichmut wird Yoga genannt" (48). Nicht der Verzicht auf das Handeln bringt Befreiung aus dem samsara, sondern der Verzicht auf die Ergebnisse des Handelns. Mit anderen Worten: Es ist das selbstlose Tun, das uns selber und die Welt erlöst, ein Tun, das die Gita auch mit einem Opfer gleichsetzt (3,9). Sowohl das Opfer als auch die selbstlose Tat ist ein Tun, das gegen den Strom des samsara schwimmt. Nur das Handeln mit Begehren, Anhänglichkeit und Erwartung eines Lohnes führt zur Wiedergeburt und verzögert so die Erlösung. Verzögern bedeutet aber wieder die Schaffung von unnötigem Leid, für sich und für andere.

Patanjali’s Yoga Sutren

Der klassische Yoga Patanjalis versucht, die psychischen Abläufe und Mechanismen, die zur Bildung von Karma führen, zu durchschauen und durch Übungen zu läutern und rückgängig zu machen. Alle acht Stufen des Yoga sind letztlich ein Weg dieser Läuterung von den Bedingtheiten, der zu der unterscheidenden Schau der Wirklichkeit (viveka-khyati) führen soll, die allein den Menschen befreit. Im II. Kapitel, das der Übung (kriyayoga) gewidmet ist, werden die subtilen psychischen Vorgänge aufgezeigt, die zur Verfestigung des Karma führen und die es zu durchschauen und zu überwinden gilt. Wir müssen auch hier vereinfachen: II, 2: Das Ziel des Yoga ist die Erlangung des samadhi (Versenkung), was das Reduzieren der Befleckungen oder leidvollen Spannungen (klesa) voraussetzt. (Der Yoga ist hier ganz realistisch, indem er nicht von einem Beseitigen, sondern Verringern spricht.) II, 3: Was sind diese Befleckungen (klesa)? Nichtwissen, Ichverhaftung, Begierde, Hass und Selbsterhaltungstrieb. Schließlich sind es diese Befleckungen (klesa), die die Wurzel der Ansammlung von Karma sind (II, 12) und die als Frucht die Geburt (schon negativ verstanden), die Lebensdauer und die leid- oder freudvollen Lebenserfahrungen tragen (II, 13). In dieser Geburt reifen die Früchte von Freude oder Leid, je nach den guten oder schlechten Werken, die man tut (II, 14). Die Ablagerungen der Werke in der Psyche sind die samskaras, die das weitere Handeln aus dem Unterbewussten bedingen. Es ist aus diesem ganzen Ablauf heraus klar, dass nur die Beseitigung der Ursache zu einer Überwindung des Karma führt, was wieder voraussetzt, dass man diese Vorgänge - in sich selbst, nicht abstrakt - durchschaut und erkennt (vgl. I, 51, II, 26).

Karma als der "Wille Gottes"

Es gibt eine Reihe von existentiellen Haltungen, die von der Lehre von Karma und Reinkarnation geprägt sind, und wie sie bei traditionellen Hindus und auch bei manchen modernen Ausprägungen des Hinduismus zu finden sind. Die erste dieser Haltungen könnte man zu dem analog setzen, was im Christentum "der Wille Gottes" genannt wurde. Schicksalsschläge, Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Krankheit, Erfolg oder Misserfolg nimmt man an und trägt sie, so gut es geht, mit Gelassenheit in dem Bewusstsein, dass man nur sein eigenes Karma "auszutragen" hat. Man neigt daher weniger als im Westen dazu, andere Menschen oder sogar Gott für das eigene Schicksal zu beschuldigen. Das Leiden ist deshalb nicht weniger real, doch das innere Aufbegehren, das Sich-zur-Wehr-Setzen, das oft die spontane Reaktion des westlichen Menschen ist, fällt weg oder wird zumindest gedämpft.

Das Karma ist in jedem Detail erkennbar

Als zweite Haltung könnte man nennen, dass der Mensch, der im Karmabewusstsein lebt, nichts für Zufall hält. Er ist aufmerksam auf die geringsten Zeichen, auf Begegnungen und Ereignisse, weil sie für ihn "karmische" Bedeutung haben - im positiven oder negativen Sinn. Z. b. die Tatsache, dass einem manche Menschen sympathisch und andere unsympathisch sind, wird durch Karma erklärt. Warum gibt es z. B. Begegnungen, die zu dauerhaften Beziehungen führen und solche, die vorübergehen und völlig indifferent bleiben, und wieder andere, die zu Feindschaft führen? Der Hindu ist überzeugt davon, dass sich diese Beziehungen nur durch früheres Karma befriedigend erklären lassen.

Karma als Motivation zu moralischem Handeln

Als dritte Haltung kann man sagen, dass da, wo das Karma-Bewusstsein noch intakt ist, auch die Motivation zu moralischem Handeln stark ist. Auf der durchschnittlichen Ebene der Religion muss man sich bemühen, seine Pflicht, auch die rituelle, zu erfüllen, um Verdienste (punya) zu erwerben und so die Wirkungen des schlechten Karmas früherer Geburten abzudämpfen oder auszuschalten. Gläubige Hindus erklären die moralische Dekadenz vor allem unter der Jugend damit, dass diese nicht mehr an Karma glaubt und daher nicht die Auswirkungen und Strafen ihrer Taten fürchtet. Wenn diese moralische Motivation nicht nur formalistisch ist, sondern gepaart mit Spiritualität, so bringt sie oft die feinfühligsten und aufmerksamsten Menschen hervor. Im spirituellen Bereich, d. h. bei Menschen, die bewusst einen spirituellen Weg gehen, spielt die Motivation, dass man sein Heil nicht auf unzählige Geburten hinausschieben, sondern womöglich in diesem Leben erreichen will, eine große Rolle. Der sannyasa, d.h. das Mönchtum, bedeutet eigentlich den Verzicht auf alles Karma, d. h. das "Verbrennen" des Karma und so die höchste Freiheit.

Interpretation von Karma und Reinkarnation im christlichen Kontext

Das Verständnis von Karma und Reinkarnation (wie jede religiöse Aussage) hängen erstens ganz davon abhängt, auf welcher Ebene des Bewusstseins wir diese Aussagen interpretieren. Zweitens hängt unsere Interpretation wesentlich von der Antwort ab, die wir auf die Frage "Wer bin ich?" geben (vgl. Kausitaki Up.), um zu wissen, wer das Substrat, das Subjekt ist.

Karma und Reinkarnation haben wieder als existentielle Haltungen - und nicht als "Dogmen" - eine Reihe von Berührungspunkten mit dem Christentum, da ja beide Traditionen auf dieselben menschlichen Grunderfahrungen Antwort geben und den Menschen aus seiner karmischen oder sündhaften Bedingtheit befreien wollen. In beiden Traditionen ist das Handeln des Menschen nie neutral und nie von der Motivation zu trennen. Im Christentum haben ein übertriebenes Sündenbewusstsein und die Drohung mit Höllenstrafe zu einer Reaktion geführt, die alle Moral abgeschafft hat. Was das Leben nach dem Tode betrifft, so würde die Reinkarnation im christlichen Kontext mehr dem Fegefeuer entsprechen als der Auferstehung - einer Zeit der Läuterung, bis die Seele wieder aufsteigen kann. Die Auferstehung ist die Überwindung auch des Karma der Welt, also moksa entsprechend. Von Menschen, die schon ihre wahre Identität gefunden haben und daher schon in diesem Leben erlöst sind, heißt es, dass sie "nicht mehr wiederkehren".

 

Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn

 

>> Das Karma als Geheimnis

>> Zwei Wirkungen sakralen Handelns

>> Die Isa Upanishad

>> Keine einheitliche Lehre von Reinkarnation und Karma

>> Karma und Wiedergeburt als Bindeglied zwischen Gegenwart und Vergangenheit

>> Hoffnung für die Zukunft

>> Angst vor der Zukunft

>> Folgen von Denken und Handeln auf das Karma

>> Bereiche von Karma und Wiedergeburt

>> Karma ist einer individualistischen Lebensauffassung entgegengesetzt

>> Das Subjekt von Karma und Wiedergeburt

>> Es gibt nur einen der wiedergeboren wird

>> Die Ebene des Geistes und der Materie

>> Unvereinbarkeit mit den westlichen Begriffen für Individualität und Geschichte

>> Karma als Basis zur Befreiung

>> Zwei mögliche Heilswege

>> Die Bhagavadgita als Beispiel für einen Heilsweg

>> Patanjali’s Yoga Sutren

>> Karma als der "Wille Gottes"

>> Das Karma ist in jedem Detail erkennbar

>> Karma als Motivation zu moralischem Handeln

>> Interpretation von Karma und Reinkarnation im christlichen Kontext

 
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