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Allah ist gerecht und barmherzig

Von Anton Wessels (Biografie)

 

Das Thema Leid gehört zweifellos zu den wichtigsten Fragen islamischer Theologie. Die koranische Deutung des Leids ist der Versuch, menschliches Leid nicht zu verdrängen, sondern ihm entgegen aller augenscheinlichen Sinnlosigkeit dennoch einen Sinn abzugewinnen. Nach islamischer Auffassung hat das Leiden einen zweifachen Sinn: Verdiente Strafe für die Sündhaftigkeit der Menschen und eine von Gott auferlegte Prüfung. In der Hinwendung zu Gott durch Umkehr und Buße wird es möglich, das Leid zu bewältigen.

Wort des Propheten: Beim Betreten der Moschee spreche der Gläubige: "O Gott, öffne mir die Pforte deiner Barmherzigkeit!" Beim Verlassen der Moschee soll er dann sagen: "O Gott, ich flehe dich um deine Güte an!"'

Islamische Theologie

Der Ort der Theologie ist im Islam ein anderer als im Christentum. `Ilm al-kalam ist die Wissenschaft vom Wort, das heißt vom Wort Gottes (oder besser: von der Beweisführung). Der Koran, das heilige Buch der Muslime, wird als kalam Allahs ausgedeutet. Theologen heißen mutakallimun, verständlich Redende, loquentes - wie im Lateinischen ihre christlichen Counterparts bezeichnet werden. Während das Hadith, die Überlieferung des Propheten, einen apodiktischen Charakter hat, lebt der kalam, die Literaturgattung, die die rationale Durchdringung und Entfaltung theologischer und metaphysischer Aussagen trägt, von der Austragung entgegengesetzter Standpunkte. Theologie wird umschrieben als ´ilm al-tawhid wa'l sifat, als die Wissenschaft über die Einheit (Gottes) und die Attribute Gottes bzw. der Verkündigung dieser Attribute. Denn eine der zentralen Fragen der islamischen Theologie ist die: Worin besteht das Verhältnis zwischen dem Wort Gottes und seinem Attribut des Sprechens?

Wirkung des kalam

Der große islamische Denker und Theologe, der im lateinischen Westen bekannte al-Ghazzali (1059 - 1111) - er beschrieb in seiner Autobiographie, ähnlich wie Aurelius Augustinus in seinen Confessiones, den eigenen Weg aus dem Zweifel zur Gewissheit des Glaubens - , hat insbesondere den apologetischen Charakter und die heilende Wirkung des kalam unterstrichen. Kalam ist das Gegengift, das antidotum, gegen Zweifel und Ketzerei. Seine Wirkung besteht dann darin, den Glauben durch polemisches Räsonieren gegen die Angriffe der Skeptiker und Agnostiker zu verteidigen. Nach al-Ghazzalis Meinung kann die Ausfechtung entgegengesetzter Standpunkte durch theologische Argumentationen wohl befriedigen, aber den wirklichen Durst nach Wahrheit kann sie nicht stillen. Al-Ghazzali hatte es sich zur Lebensaufgabe gestellt, eine theologische Lehre auszuarbeiten, die zur Belebung des Glaubens und zur Stärkung der Frömmigkeit beiträgt.

Islamische Theologie bedeutet Verteidigung der Glaubenswahrheiten

Die theologische Reflexion im Islam ist bemüht, die "Grundlagen der Religion" (usul al-din) herauszuarbeiten und gegen Angriffe mit einer überzeugenden Beweisführung (nämlich kalam) zu verteidigen. Je nach theologischer Schule wird bei der Argumentation der Akzent auf die Tradition oder die Vernunft gelegt. Islamische Theologie - und hier liegt der Unterschied zur christlichen Theologie - ist in erster Linie Apologetik, Verteidigung der Glaubenswahrheiten, während christliche Theologie mehr Erhellen, Durchdringen, Sich-Vertiefen in das Mysterium des Glaubens ist (Vgl. Louis Gardet).

Die neunundneunzig "schönen Namen" Gottes

Der Koran verweist auf die schönen Namen Gottes: "Sag: Ihr mögt zu Gott beten oder zum Barmherzigen. Wie ihr ihn auch nennt, ihm stehen die schönen Namen zu" (Sure 17,110). "Gott (ist einer allein). Es gibt keinen Gott außer ihm. Ihm stehen die schönen Namen zu" (Sure 20, 8). "Er (allein) ist Gott, der Schöpfer und Gestalter. Ihm stehen die schönen Namen zu. Ihn preist (alles), was im Himmel und auf Erden ist. Er ist der Mächtige und Weise " (Sure 59,24). Im Laufe der Zeit gelangten die Muslime zur Auffassung, es gebe "neunundneunzig Namen Gottes". Die Liste dieser Namen ist allgemein bekannt und wird für Zwecke der Andacht benutzt. (Auf die Frage, warum das Kamel so stolz aus den Augen blicke, wird gesagt, dass es den hundertsten Namen kenne) Sie werden meditiert, überdacht, erinnert (dhikr). Mit der Wiederholung der Namen lässt man den aus neunundneunzig (oder dreimal dreiunddreißig) Perlen bestehenden Rosenkranz (subha) durch die Finger gleiten. Nach islamischer Theologie ist das göttliche Wesen (al-dhat) über alle Beschreibungen und Definitionen erhaben. Aber Gott besitzt auch Namen, die Aspekte seiner Natur vergegenwärtigen, seine Attribute zur Sprache bringen. Folglich ist jeder der Namen ein Symbol einer Eigenschaft Gottes. Und doch steht Gott über allen Namen und Eigenschaften. Es ist üblich, diese neunundneunzig Namen zu unterscheiden in solche, die sich auf seine Majestät (al jalal) und solche, die sich auf seine Schönheit (aljamal) beziehen. Nachdem man im Islam kalam, die rationale Theologie, entwickelt hatte, gab es über die Attribute (sifat) Gottes, d. h. über die Eigenschaften, die den Namen entsprechen, zahllose Erörterungen.

Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

Die Attribute Barmherzigkeit und Gerechtigkeit zählen zu den "schönen Namen". Was ist nun die Bedeutung dieser beiden Eigenschaften, und wie gestaltet sich ihr Verhältnis zueinander? Ich möchte die Bemerkung, die der ungarische jüdische Islamgelehrte Ignaz Goldziher einmal zu Beginn eines Vortrags über islamische Dogmatik machte, als kritischen Reflex voranstellen: "Propheten sind nicht Theologen". Golziher führte aus, wie "dogmatische Theologen" Antworten geben auf Fragen, die der Stifter niemals in den Kreis seiner Erwägungen gezogen hat, Widersprüche ausgleichen, die ihn selbst nicht beunruhigt haben, spröde Formeln ersinnen und einen breiten Wall von Gedankenreihen errichten, mit dem sie diese Formeln vor inneren und äußeren Angriffen sicherzustellen wähnen. Die Summe ihrer in festgegliederte Ordnungen gefassten Lehrsätze leiten sie dann aus den Worten des Propheten, nicht selten aus deren Buchstaben, her (Ignaz Goldziher, Vorlesungen über den Islam, Heidelberg 21925, Seite 71).

Gerechtigkeit für die Armen und Unterdrückten

Obgleich es kaum möglich ist, die Predigt des Korans zu systematisieren, hat die islamische Theologie immer wieder auf die eine oder andere Weise versucht, gerade das zu tun. Will man der Dynamik des Auftritts Muhammads gerecht werden, dann wird man niemals den konkreten Kontext vergessen dürfen. Die Sendung Muhammads durch Gott ist von Anfang an mit Barmherzigkeit verbunden: " Und Wir haben dich nur deshalb (mit der Offenbarung) gesandt, um den Menschen in aller Welt Barmherzigkeit zu erweisen " (Sure 21, 107). Daraus ergibt sich, dass die Begriffe Gerechtigkeit und Barmherzigkeit im Koran konkret gemeint sind. Wenn man dem Koran folgt, wird deutlich, dass der Auftrag lautet: Gerechtigkeit den Armen und Unterdrückten zu bringen. Der Koran greift ungerechten Handel, Betrug und Ausbeutung an: "Wehe jedem Stichler und Nörgler, der (viel) Geld und Gut zusammenbringt und es (immer wieder) zählt. Und meint, es würde ihn unsterblich machen " (Sure 104, 2f). Wenn der Mensch einmal von der Gier nach Reichtum erfasst ist, dann will er nur noch mehr haben. Diese Sucht lenkt ihn von jedem höheren Streben ab. Hingegen entbehrten die Schwachen, Armen und Waisen alles: "Nein! Ihr seid (eurerseits) nicht freigebig gegen die Waise und haltet euch nicht gegenseitig dazu an, dem Armen (etwas) zu essen zu geben. Ihr zehrt vielmehr das Erbe (eurer Schützlinge) vollständig auf und liebt Hab und Gut über alles" (Sure 89,17-20). Über die Priester und Mönche der Christen sagt der Koran, dass sie nicht stolz sind (weil sie nicht hochmütig sind) (Sure 5, 82), und anerkennt, dass sie Barmherzigkeit tun: " Und Wir liegen im Herzen derer, die sich ihm (Jesus) anschlossen, Mitleid Platz greifen, Barmherzigkeit und Mönchtum" (Sure 57, 27).

Almosen als soziale Verpflichtung

In Reaktion auf soziale Missstände legte Muhammad die Grundlage für eine neue Gesellschaft. In Medina setzte er den Anfang mit einem Gemeinwesen, das von Gerechtigkeit getragen sein sollte. Durch das Almosengeben (zakat) sollten die Anhänger des Propheten ihrer sozialen Verpflichtung nachkommen. Zakat ist einer der Grundpfeiler des Islams geworden. Die spirituelle Verpflichtung, das Verrichten des rituellen Gebetes (salat), und die soziale Verpflichtung werden im Koran öfters in einem Atemzug genannt. Die Erfüllung dieser Pflichten dient schließlich auch den Eigeninteressen der Glaubensgenossen: " Und verrichtet das Gebet, gebt die Almosensteuer und gehorchet dem Gesandten! Vielleicht werdet ihr (dann) Erbarmen finden " (Sure 24, 56). In der Ausübung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit vollzieht sich die Nachfolge von Gottes Barmherzigkeit und Gerechtigkeit durch den Menschen.

Versuch Namen und Attribute Gottes zu systematisieren

Die islamische Theologie hat nun versucht, in abstrahierender Weise die Namen und Attribute Gottes zu systematisieren. Der Name al-Rahman, der Barmherzige, kommt außerhalb der Fatiha, der Eröffnenden - alle Suren des Korans, mit Ausnahme der neunten, beginnen mit der Formel: Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen - im Koran noch einhundertachtmal vor. Es scheint, dass er nicht allein ein Attribut Gottes ist, sondern auch ein selbständiger Name Gottes (Allahs). Dieser Gottesname war in der vorislamischen Periode in Süd-Arabien bekannt, wie aus Inschriften, die man im Jemen gefunden hat, deutlich wird. Dieser Gottesname, und das ist wichtig zu sagen, war bei Juden und Christen üblich. Es ist darum nicht verwunderlich, dass, wenn im Koran über Jesus und Maria gesprochen wird, gerade dieser Gottesname verwendet wird (Sure 19). Die Kombination der Namen "der Barmherzige" und "der Erbarmer" findet sich ebenfalls außerhalb der Fatiha: "Es ist als Offenbarung herabgesandt und kommt von dem Erbarmer, dem Barmherzigen" (Sure 41, 2). "Euer Gott ist einer allein. Es gibt keinen Gott auf3er Ihm, dem Erbarmer, dem Barmherzigen " (Sure 2, 163). "Er ist Gott, außer dem es keinen Gott gibt, (Er ist es) der über das, was verborgen und was allgemein bekannt ist, Bescheid weiß. Er ist der Erbarmer, der Barmherzige"(Sure 59, 22). In der koranischen Predigt benachdruckt dieser göttliche Name die absolute Barmherzigkeit des einigen Gottes. "Was auch im Koran über den Barmherzigen gesagt wird, wird auch über Gott ausgesagt" (J. Jomier).

Barmherzigkeit übertrifft den Zorn Gottes

Eine wichtige Frage, die sich nun stellt, ist die nach dem Verhältnis zwischen diesen beiden Attributen Gottes: Ist Gott in gleichem Maße barmherzig wiegerecht? In ihrer Diskussion über die Qualen der Hölle, die der Koran wiederholt ausmalt, kamen muslimische Denker schlussendlich auf den Gedanken der Priorität der Barmherzigkeit Gottes über seinen Zorn. Sie wiesen darauf hin, dass die Anzahl der Namen seiner Barmherzigkeit die seines Zornes übertreffen - zumindest im Verhältnis von fünf zu eins. Der Name Rachsucht beispielsweise scheint einmal auf, ihr Gegensatz "Vergebung" hingegen hundertmal! Derartige Überlegungen erklären, warum nach einigen islamischen Theologen die Hölle nicht ewig sein kann. Für den Mystiker Ibn `Arabi (geboren 1164) ist es durch Gottes Erbarmen, dass den Ungläubigen die Strafe in der Hölle erlassen wird. Gemäß einer Tradition steht auf Gottes Thron geschrieben: "Wahrlich meine Barmherzigkeit überwindet meinen Zorn". Nach einer hadith qudsi heißt es: "Meine Barmherzigkeit übertrifft meinen Zorn". Der Gottesname der Barmherzigkeit übertrifft den des Zorns, weil die Barmherzigkeit Gottes dem Wesen Gottes gemäß ist, sein Zorn jedoch erst in Verbindung mit seinen Geschöpfen zur Sprache kommt. Schon im Koran heißt es von Gott: "Mit meiner Strafe treffe ich, wen ich will. Aber meine Barmherzigkeit umfasst alles" (Sure 7, 156). Er sagte nicht: Mein Zorn umfasst alles. Er schuf alle Dinge aus seiner Barmherzigkeit.

Barmherzigkeit ist das Attribut Gottes Wesens

Barmherzigkeit ist das Attribut seines Wesens, aber nicht der Zorn: "Wenn einer von euch in Unwissenheit Böses tut und dann später umkehrt und sich bessert (findet er Gnade). Gott ist barmherzig und bereit zu vergeben" (Sure 6, 54). "Denen gegenüber, die in Unwissenheit Böses getan haben und dann später umkehren und sich bessern, (ihnen gegenüber) ist dein Herr schließlich, nachdem das (alles) geschehen ist, barmherzig und bereit zu vergeben" (Sure 16, 119). "Sie sind die (wahren Frevler), ausgenommen diejenigen, die danach umkehren und sich bessern. Gott ist barmherzig und bereit zu vergeben " (Sure 24, 5). "Er ist barmherzig und bereit zu vergeben. Wenn einer umkehrt und rechtschaffen handelt, wendet er sich bußfertig Gott wieder zu" (Sure 25, 71). Untersuchungen des Korans zeigen, dass man nicht von einem Gleichgewicht zwischen den Attributen der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit sprechen kann. Gimaret hat in seiner gründlichen Studie über die Namen Gottes gezeigt, dass die Namen seiner Barmherzigkeit über denen der Gerechtigkeit stehen (Daniel Gimaret, Les noms divins en Islam. Exegese lexicographique et theologique, Edition Cerf, Paris 1988)

Leid als Strafe

Nach islamischer Auffassung hat das Leiden einen zweifachen Grund: als verdiente Strafe für die Sündhaftigkeit der Menschen und als von Gott auferlegte Prüfung. In Sure 74 werden die Übeltäter gefragt: "Was hat euch ins Höllenfeuer getrieben?" Und es folgt eine Aufzählung von all dem, was Strafe für den Mensch nach sich zieht: 1. wenn er das Gebet nicht verrichtet (salat); 2. nicht einem Bedürftigen gibt (zakat); 3. eitel spricht über religiöse Dinge; 4. Gott und die letzte Stunde zu Lügen erklärt (Sure 74, 43-47). Wiederholt erklärt der Koran, dass alle, die Übles tun, Strafe erhalten für ihre Taten in dieser und der kommenden Welt. Diese Aussagen werden mit Nachdruck mit der vollkommenen Gerechtigkeit Gottes am Tag des Urteils verbunden. Sündenstrafen, die Leiden mit sich bringen, haben eine pädagogische Funktion, um den Ungläubigen die Wahrheit von Gottes Wort zu zeigen. Der fehlende Glaube ist die Wurzel allen Übels und zieht Leid nach sich. Oftmals beteuert der Koran, dass Gott die Ungläubigen nicht ungerecht behandle, sie fügten sich vielmehr selber Böses zu: " Und wenn einer Böses tut oder (indem er sündigt) gegen sich selber frevelt und hierauf Gott um Vergebung bittet, wird er finden, dass Gott barmherzig ist und bereit zu vergeben" (Sure 4, 110). "Diejenigen, die, wenn sie etwas Abscheuliches getan oder gegen sich selber gefrevelt haben, Gottes gedenken und (ihn) um Vergebung für ihre Schuld bitten - und wer könnte den Menschen ihre Schuld vergeben außer Gott? Und (die) in dem, was sie an Sünde getan haben, nicht beharren - deren Lohn besteht in Vergebung von ihrem Herrn " (Sure 3, 135). " Wenn aber einer, nachdem er gefrevelt hat, umkehrt und sich bessert, wendet Gott sich ihm (gnädig) wieder zu. Gott ist barmherzig und bereit zu vergeben" (Sure 5, 39). Der Ungläubige verurteilt sich selber zum Leiden, denn schließlich ist der Unglaube das größte Leiden: das Leiden der Seele. Gott tut kein Unrecht, seine Diener tun Unrecht (Helmut Ritter, Das Meer der Seele, Leiden 1955, Seite 62).

Warum leiden auch Kinder ?

Eine der brennendsten religiösen Fragen ist immer wieder die nach dem Warum des Leids, insbesondere des Leidens der Gerechten und der Kinder. Seine Deutung als Strafe für Sünde ergibt keine hinreichende Erklärung. Kinder unter einem bestimmten Alter sind nicht dem islamischen Gesetz unterworfen. Trotzdem wird deren Leid Gott zugeschrieben. Es scheint, als ob Gott Unrecht täte. Die theologische Schule der Mu'taziliten, die sich als Verteidiger des Glaubens mit dem Mittel der rationalen Beweisführung versteht, entwickelte Erklärungshypothesen: Das Argument von Bishr ibn al-Mu'tamir etwa war dahingehend, dass Kinder bestraft werden, weil sie als Erwachsene ungläubig würden und Strafe verdienten. Diese Erklärung ist unbefriedigend, aber sie wurde dennoch angewandt. Ein weiterer Lösungsvorschlag war, dass Gott gestattet hat, dass Kinder leiden, um Erwachsene zu warnen. Sie werden jedenfalls im Paradies ihren Lohn empfangen (W.M. Watt, The Formative Period of Islamic Thought, The University of Edinburgh Press, Edinburgh 1973, Seite 240). Die Mu'taziliten halten es für ausgeschlossen, dass Gott Kinder in der künftigen Welt straft. Strafe ist notwendigerweise die Folge eines Vergehens, und das ist einem Kind nicht möglich. Gott kann nicht ungerecht sein. Das Leiden der Kinder muss kompensiert werden im künftigen Leben. Nach al-Ashari hingegen hat Gott das Recht, Kinder leiden zu lassen in der kommenden Welt. Wenn er es tut, ist er nicht ungerecht (Gimaret, a. a. O., Seite 440).

Jeder Mensch hat Kummer

Gott ist sowohl gerecht als auch barmherzig. Einerseits ist er der gestrenge König, der über die Taten urteilt und das Böse straft, weil er das Gute belohnt. Andererseits ist er der Barmherzige, der denjenigen vergibt, die seine Vergebung suchen. Der Muslim geht seinen Weg, schwankend zwischen Gottes Strenge und seiner Barmherzigkeit, in der Furcht vor Gottes Strafe und vertrauend auf seine Vergebung. Oder wie die Mystiker es ausdrücken: Die treulose Welt ist ein Gasthaus voll Kummer und Plage. Ich kenne keinen Menschen ohne Kummer. Das ist ein Erbteil vom Urvater Adam. Wenn Adam nicht das Weizenkorn gegessen hätte, dann hätten die Menschen kein Korn Kummer (Ritter, a. a. O., Seite 58).

Leid als Prüfung

Neben der Interpretation des Leidens als Strafe für die Sünde steht im Islam auch die Sicht des Leidens als Prüfung des Glaubens. Der wahre Muslim hält an seinem Glauben trotz des Elends, das ihn trifft, fest. Leiden gehört zur Beschaffenheit des menschlichen Seins (condition humaine). Es ist von Gott so verfügt, dass der Fromme leiden muss. Gott verhängt selbst über seine Propheten wie Adam, Noah, Abraham, Ishmael, Jakob, Josef, Hiob, Jonas, Mose, David, Salomo, Zacharias, Johannes und Jesus Leiden, Verfolgung und Martyrium. Muhammad, der den Verfolgungen der Mekkaner ausgesetzt war, hat sich mit dem Schicksal der früheren Propheten getröstet. Als Jakob beständig den Namen des ihm entrissenen Josef im Munde führt, lässt Gott ihm sagen, er werde ihn aus der Liste der Propheten streichen, wenn er sich nicht in Geduld übe. Daraufhin schweigt Jakob. Er kann sich aber nicht eines Seufzers erwehren, als er Josef im Traum sieht. Daraufhin hält ihm Gabriel vor, dass er das Reuegelöbnis gebrochen habe. Zu dem schwer geprüften Hiob sagt Gabriel: Was hältst du an dich? Klage nur aus kummervoller Seele! Wenn du auch in jedem Augenblick den Tod erleiden musst, kümmert das Gott nicht. Dein geduldiges Ertragen des Schmerzes ist zwecklos. Der Prophet Hiob wurde so viele Jahre von Würmern geplagt, nur, damit er einen Wehlaut ausstoßen sollte. Als er das tat, erlöste ihn Gott von der Qual. So verlangt Gott von dem einen Schweigen und von dem anderen Klagelaute.

Die Geschichte von Abrahams Opfer

Im Koran findet sich die Geschichte von Abrahams Opfer (Genesis 22). In ihr wird ausdrücklich von einer Prüfung gesprochen: "Abraham sagte: Mein Sohn! Ich sah im Traum, dass ich dich schlachten werde. Überlege jetzt (und sag), was du (dazu) meinst! Er sagte: `Vater! Tu, was dir befohlen wird! Du wirst, so Gott will, finden, dass ich (einer) von denen bin, die (viel) aushalten können.' Als nun die beiden sich (in Gottes Willen) ergeben hatten und Abraham seinen Sohn auf die Stirn niedergeworfen hatte (um ihn zu schlachten) ... Und Wir riefen ihn an: `Abraham! Du hast (durch deine Bereitschaft zur Schlachtung deines Sohnes) den Traum (den du gehabt hast) wahr gemacht.' So vergelten wir denen, die fromm sind. Das ist die offensichtliche Prüfung (die wir Abraham auferlegt haben) und wir lösten ihn mit einem gewaltigen Schlachtopfer aus"(Sure37,102-107). Darum heißt `id al-adha, das Opferfest, das große Fest, weil es an Abrahams Bereitschaft zum Opfer erinnert. Was in der koranischen Fassung auffällt, ist, dass der Sohn dem geplanten Opfer zustimmt. Der Gehorsam spielt eine zentrale Rolle. Vom Propheten Muhammad ist überliefert, dass er gesagt hat: Bei dem, in dessen Hand meine Seele ist, die Welt wird nicht vergehen, bevor nicht ein Mann an einem Grab vorbeigeht, sich im Staube wälzt und sagt: `Ach, wäre ich statt seiner in diesem Grabe!' Und das sagt er nicht aus Frömmigkeit, sondern weil er auf die Probe gestellt wird (Raven, a. a. O., Seite 761)

Die Bewältigung des Leides durch Geduld

Geduld (sabr) ist eine Haupttugend im Islam. Vollkommene Geduld ist, anzunehmen, was auch immer von Gott kommt. Der Koran beschreibt sie als Haltung Hiobs, Jakobs und Jonas (Annemarie Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus, Köln 1985, Seite 183). Von den ersten Anhängern des Propheten in Mekka und von Muhammad selbst wird viel Geduld gefordert: " Und wir werden euch sicher mit ein wenig Furcht (vor den Feinden) und Hunger und (mit) Verlust an Vermögen, an Leib und Leben und (Mangel) an Früchten (die ihr zum Lebensunterhalt nötig habt) (gewissen) Prüfungen aussetzen und bring denen, die geduldig sind, gute Nachricht (von der Seligkeit, die sie im Jenseits zu erwarten haben)! (Ihnen) die, wenn sie ein Unglück trifft, sagen: `Wir gehören Gott, und zu ihm kehren wir (dereinst) zurück.'" (Sure 2, 155f).

Liebe schöpft aus dem Leiden Freude

Die Mystiker (Sufis) sprechen über die Liebe, die aus dem Leiden Freude schöpft. Der persische Märtyrer-Mystiker al-Hallaj (922 hingerichtet), der die Entwicklung der islamischen Mystik zutiefst beeinflusst hat, wurde im Laufe der Zeit zu einem Symbol für leidende Liebe. Die Geschichte, die Attar erzählt, erhellt das Geheimnis von Hallajs Leben, Liebe und Tod: Als Hallaj im Gefängnis war, fragte ihn ein Derwisch: "Was ist Liebe?" Er sprach: "Du wirst es heute sehen und morgen sehen und übermorgen sehen!" An jenem Tage töteten sie ihn, am nächsten Tage verbrannten sie ihn, und am dritten Tage gaben sie seine Asche dem Wind...

Im Zusammenhang mit al-Hallaj heißt es: "Derjenige, der durch meine Liebe getötet wird, für den werde ich (=Gott) Blutgeld sein". Der Märtyrer der Liebe wird von Gott selbst belohnt. Je mehr Gott jemanden liebt, umso mehr wird er ihn auf die Probe stellen, indem er von ihm auch die letzte Spur irdischer Tröstungen nimmt, sodass der Liebende sich einzig und allein auf ihn stützt. Gott prüft besonders die, die er am meisten liebt. (Vgl. die biblischen Texte "Mein Sohn, achte nicht gering die Züchtigung des Herrn und verzage nicht, wenn du von ihm gestraft wirst. Denn, wen der Herr liebt, den züchtigt er..." - Hebr 12,5f "Wen ich liebe, den strafe und züchtige ich." - Offb 3,19).

Das schlimmste Leiden ist das religiöse Unglück

Von einem Mystiker wird berichtet, dass er systematisch das Leiden übte, indem er täglich ins Krankenhaus ging, auf die Gräberfelder und auf die Richtplätze, wo Menschen gefoltert, verstümmelt und hingerichtet wurden. Schlimmer als körperliche Leiden oder materielle Verluste ist das religiöse Unglück, das jemanden treffen kann. Ein bitterarmer Koranleser wird im Traum gefragt: Möchtest du, dass Wir dich die Sure al-An'am vergessen lassen und dir dafür 1000 Dinare geben? Er antwortet: Nein! Vielleicht die Sure Hud? Nein. Vielleicht die Josefsure? Nein! So zählt die Stimme eine Reihe von Suren auf, und der Koranleser lehnt jedes Mal den Tausch ab. Da sagt die Stimme: Du besitzt also einen Wert von 100 000 Dinaren und beklagst dich immer noch? Der Koranleser wacht getröstet auf (Schimmel, a. a. O., Seite 100).

So schwindet auch das Ärgernis, das darin besteht, dass es dem Ungläubigen gut geht, dem Gläubigen hingegen schlecht. Auf den Ungläubigen wartet schließlich die jenseitige Strafe, und all sein Gut und sein Glück helfen ihm nichts.

Leiden ist Strafe für begangene Sünden

Das Leiden ist die zeitliche Strafe für begangene Sünden. Durch das Leiden werden diese Sünden gesühnt. Ein Tag Fieber sühnt die Sünden eines Jahres, heißt es. Gott straft nicht zweimal. Wenn der Sünder hier durch Leiden bestraft wird, wird er im Jenseits nicht noch einmal bestraft werden. Es ist besser, hier bestraft zu werden als dort. Wenn Gott mit seinem Knecht Gutes vorhat, dann straft er ihn für seine Sünden im Diesseits. Es ist sogar bedenklich, wenn jemand keine Krankheit kennt. Sie ist der Anteil des Gläubigen am Höllenfeuer. Die hier Leidenden werden dort reichlich entschädigt, sodass sie ihre Leiden vergessen. Für das Leiden bzw. für die im Leiden bewiesene Geduld wird dem Menschen großer Lohn zuteil. Wenn jemandes Verwandter gestorben ist, so sagt man zu ihm: "Gott schenke dir große Belohnung" (nämlich für das geduldige Ertagen deines Leides). Ungerechtfertigtes Leid verhilft zur Märtyrerkrone. So wie der Traubensaft durch ständige "Aufregung", nämlich Fermentation, geläutert wird, bis er Wein ist, und wie der Weizen gemahlen und geknetet wird, bis er Brot wird, so kann die Menschenseele nur durch Leiden reifen. Und wenn die Asketen Gottes Vergebung und Milde (rahma) suchen, so suchen die Liebenden seine Qual (zahma) - ein sinnreiches Wortspiel der persischen Dichter. Leiden und Heimsuchung sind für die Mystiker "das schnellste Ross, das den Menschen zur Vollkommenheit bringt" (wie Meister Ekkehart zur selben Zeit, gleich vielen der großen Sufis, feststellte) (Schimmel, a. a. O., Seite 199f).

Leid in schiitischer Auslegung

Bedingt durch ihre Leidensgeschichte, die mit der Ermordung der zwei Söhne des Kalifen Ali, Hassan und Imam Hossein, durch die Omayaden in Karbala am 10. Moharram 680 (diese Passion wird alljährlich am "Ashura"-Fest wie ein Mysterienspiel aufgeführt) einen Höhepunkt erreicht hatte, haben die Schiiten eine beachtenswerte Reflexion über das Leiden und seine Heilswirkung entwickelt. Für die Zwölfer-Schiiten sind alle Imame - bis auf den zwölften - als Märtyrer oder Zeugen eines gewaltsamen Todes gestorben: erschlagen, vergiftet oder im Kerker zugrunde gegangen. Dieses Leiden der Imame, vor allen Hosseins und seiner Angehörigen und Gefährten, nimmt geradezu den Charakter eines Selbstopfers an: Die "Sündelosen" nehmen freiwillig einen Teil der Strafe auf sich, die eigentlich den sündigen Menschen gebührt. Ihr stellvertretendes Leiden erspart es der Menschheit, von der vollen Gerechtigkeit Gottes getroffen zu werden. Das Selbstopfer befähigt den Märtyrer zudem, eine Mittlerrolle bei Gott einzunehmen und mit seiner Fürsprache bei Gott einzutreten.

Vorstellung einer Erbsünde ist dem Islam fremd

Dieser Glaube an das stellvertretende Leiden kommt christlichen Vorstellungen sehr nahe. Allerdings dürfen die Unterschiede nicht verwischt werden: Die Vorstellung von einer existentiellen Sündhaftigkeit, einer "Erbsünde", von der die Menschheit erlöst werden müsse, ist der Schia - wie dem Islam überhaupt - fremd. Die Passion der Imame gibt lediglich die Strafe ab, die der Gläubige durch individuelles Verschulden auf sich geladen hat. Seine Dankesschuld gegenüber den Imamen kann der Mensch nur auf zweierlei Weise abtragen: durch das Weinen an ihren Gräbern und durch die Bereitschaft, auch seinerseits das Martyrium willig auf sich zu nehmen.

Imam Hossein als Märtyrer und Held

Um zu zeigen, wie in der Gegenwart das Drama von Karbala gesehen und

gefeiert wird, sei der Text eines Weihespiels aus dem Kairo des Jahres 1970 zitiert. Imam Hossein tritt als revolutionärer Held und großer Märtyrer au£ Im Finale richtet er seine Botschaft an die Gläubigen: "Gedenke meiner nicht durch das Vergießen des Blutes anderer, sondern gedenke meiner, indem du versuchst, die Wahrheit zu retten aus den Klauen der Lüge. Gedenke meiner in deinen Tränen, wenn Schwache und Kleine unterdrückt werden. Gedenke meiner, wenn die Religion zur Ideologie gemacht wird und korrupte Führer die Verantwortlichkeit über den Glauben der Menschen an sich reißen. Gedenke meiner, wenn das Lied der Brüderlichkeit verstummt, wenn die Armen klagen und sich die Taschen der Reichen füllen... Wenn du aber still bist, Lüge und Erniedrigung akzeptierst, dann werde ich aufs neue erschlagen. Ich werde tagtäglich tausendmal getötet. Ich werde totgeschlagen, so lange als Menschen unterworfen und erniedrigt werden. Ich werde getötet, so lange als der eine oder andere Yazid über sie regiert und tut, was er will. Dann aber wird die Wunde des Märtyrers für immer dich fluchen, weil du nicht das Blut der Märtyrer gerächt hast. Räche das Blut der Märtyrer!" (Mahmoud Ayoub, Redemptive Suffering in Islam. A Study of the Devotional Aspects of ‘Ashura’ in Twelver Shi'ism, The Hague/Paris New York 1978, Seite 23).


Gekürzt und bearbeitet von Ernst Pohn

 

>> Islamische Theologie

>> Wirkung des kalam

>> Islamische Theologie bedeutet Verteidigung der Glaubenswahrheiten

>> Die neunundneunzig "schönen Namen" Gottes

>> Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

>> Gerechtigkeit für die Armen und Unterdrückten

>> Almosen als soziale Verpflichtung

>> Versuch Namen und Attribute Gottes zu systematisieren

>> Barmherzigkeit übertrifft den Zorn Gottes

>> Barmherzigkeit ist das Attribut Gottes Wesens

>> Leid als Strafe

>> Warum leiden auch Kinder ?

>> Jeder Mensch hat Kummer

>> Leid als Prüfung

>> Die Geschichte von Abrahams Opfer

>> Die Bewältigung des Leides durch Geduld

>> Liebe schöpft aus dem Leiden Freude

>> Das schlimmste Leiden ist das religiöse Unglück

>> Leiden ist Strafe für begangene Sünden

>> Leid in schiitischer Auslegung

>> Vorstellung einer Erbsünde ist dem Islam fremd

>> Imam Hossein als Märtyrer und Held

 
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