Allah ist gerecht und barmherzig
Das Thema Leid gehört zweifellos zu den wichtigsten Fragen
islamischer Theologie. Die koranische Deutung des Leids ist der
Versuch, menschliches Leid nicht zu verdrängen, sondern ihm
entgegen aller augenscheinlichen Sinnlosigkeit dennoch einen Sinn
abzugewinnen. Nach islamischer Auffassung hat das Leiden einen
zweifachen Sinn: Verdiente Strafe für die Sündhaftigkeit der
Menschen und eine von Gott auferlegte Prüfung. In der Hinwendung zu
Gott durch Umkehr und Buße wird es möglich, das Leid zu
bewältigen.
Wort des Propheten: Beim Betreten der Moschee spreche der
Gläubige: "O Gott, öffne mir die Pforte deiner
Barmherzigkeit!" Beim Verlassen der Moschee soll er dann sagen:
"O Gott, ich flehe dich um deine Güte an!"'
Islamische Theologie
Der Ort der Theologie ist im Islam ein anderer als im
Christentum. `Ilm al-kalam ist die Wissenschaft vom Wort, das heißt
vom Wort Gottes (oder besser: von der Beweisführung). Der Koran,
das heilige Buch der Muslime, wird als kalam Allahs ausgedeutet.
Theologen heißen mutakallimun, verständlich Redende, loquentes -
wie im Lateinischen ihre christlichen Counterparts bezeichnet
werden. Während das Hadith, die Überlieferung des Propheten, einen
apodiktischen Charakter hat, lebt der kalam, die Literaturgattung,
die die rationale Durchdringung und Entfaltung theologischer und
metaphysischer Aussagen trägt, von der Austragung entgegengesetzter
Standpunkte. Theologie wird umschrieben als ´ilm al-tawhid wa'l
sifat, als die Wissenschaft über die Einheit (Gottes) und die
Attribute Gottes bzw. der Verkündigung dieser Attribute. Denn eine
der zentralen Fragen der islamischen Theologie ist die: Worin
besteht das Verhältnis zwischen dem Wort Gottes und seinem Attribut
des Sprechens?
Wirkung des kalam
Der große islamische Denker und Theologe, der im lateinischen
Westen bekannte al-Ghazzali (1059 - 1111) - er beschrieb in seiner
Autobiographie, ähnlich wie Aurelius Augustinus in seinen
Confessiones, den eigenen Weg aus dem Zweifel zur Gewissheit des
Glaubens - , hat insbesondere den apologetischen Charakter und die
heilende Wirkung des kalam unterstrichen. Kalam ist das Gegengift,
das antidotum, gegen Zweifel und Ketzerei. Seine Wirkung besteht
dann darin, den Glauben durch polemisches Räsonieren gegen die
Angriffe der Skeptiker und Agnostiker zu verteidigen. Nach
al-Ghazzalis Meinung kann die Ausfechtung entgegengesetzter
Standpunkte durch theologische Argumentationen wohl befriedigen,
aber den wirklichen Durst nach Wahrheit kann sie nicht stillen.
Al-Ghazzali hatte es sich zur Lebensaufgabe gestellt, eine
theologische Lehre auszuarbeiten, die zur Belebung des Glaubens und
zur Stärkung der Frömmigkeit beiträgt.
Islamische Theologie bedeutet Verteidigung der
Glaubenswahrheiten
Die theologische Reflexion im Islam ist bemüht, die
"Grundlagen der Religion" (usul al-din) herauszuarbeiten
und gegen Angriffe mit einer überzeugenden Beweisführung (nämlich
kalam) zu verteidigen. Je nach theologischer Schule wird bei der
Argumentation der Akzent auf die Tradition oder die Vernunft gelegt.
Islamische Theologie - und hier liegt der Unterschied zur
christlichen Theologie - ist in erster Linie Apologetik,
Verteidigung der Glaubenswahrheiten, während christliche Theologie
mehr Erhellen, Durchdringen, Sich-Vertiefen in das Mysterium des
Glaubens ist (Vgl. Louis Gardet).
Die neunundneunzig "schönen Namen"
Gottes
Der Koran verweist auf die schönen Namen Gottes: "Sag: Ihr
mögt zu Gott beten oder zum Barmherzigen. Wie ihr ihn auch nennt,
ihm stehen die schönen Namen zu" (Sure 17,110). "Gott
(ist einer allein). Es gibt keinen Gott außer ihm. Ihm stehen die
schönen Namen zu" (Sure 20, 8). "Er (allein) ist Gott,
der Schöpfer und Gestalter. Ihm stehen die schönen Namen zu. Ihn
preist (alles), was im Himmel und auf Erden ist. Er ist der
Mächtige und Weise " (Sure 59,24). Im Laufe der Zeit gelangten
die Muslime zur Auffassung, es gebe "neunundneunzig Namen
Gottes". Die Liste dieser Namen ist allgemein bekannt und wird
für Zwecke der Andacht benutzt. (Auf die Frage, warum das Kamel so
stolz aus den Augen blicke, wird gesagt, dass es den hundertsten
Namen kenne) Sie werden meditiert, überdacht, erinnert (dhikr). Mit
der Wiederholung der Namen lässt man den aus neunundneunzig (oder
dreimal dreiunddreißig) Perlen bestehenden Rosenkranz (subha) durch
die Finger gleiten. Nach islamischer Theologie ist das göttliche
Wesen (al-dhat) über alle Beschreibungen und Definitionen erhaben.
Aber Gott besitzt auch Namen, die Aspekte seiner Natur
vergegenwärtigen, seine Attribute zur Sprache bringen. Folglich ist
jeder der Namen ein Symbol einer Eigenschaft Gottes. Und doch steht
Gott über allen Namen und Eigenschaften. Es ist üblich, diese
neunundneunzig Namen zu unterscheiden in solche, die sich auf seine
Majestät (al jalal) und solche, die sich auf seine Schönheit (aljamal)
beziehen. Nachdem man im Islam kalam, die rationale Theologie,
entwickelt hatte, gab es über die Attribute (sifat) Gottes, d. h.
über die Eigenschaften, die den Namen entsprechen, zahllose
Erörterungen.
Barmherzigkeit und Gerechtigkeit
Die Attribute Barmherzigkeit und Gerechtigkeit zählen zu den
"schönen Namen". Was ist nun die Bedeutung dieser beiden
Eigenschaften, und wie gestaltet sich ihr Verhältnis zueinander?
Ich möchte die Bemerkung, die der ungarische jüdische
Islamgelehrte Ignaz Goldziher einmal zu Beginn eines Vortrags über
islamische Dogmatik machte, als kritischen Reflex voranstellen:
"Propheten sind nicht Theologen". Golziher führte aus,
wie "dogmatische Theologen" Antworten geben auf Fragen,
die der Stifter niemals in den Kreis seiner Erwägungen gezogen hat,
Widersprüche ausgleichen, die ihn selbst nicht beunruhigt haben,
spröde Formeln ersinnen und einen breiten Wall von Gedankenreihen
errichten, mit dem sie diese Formeln vor inneren und äußeren
Angriffen sicherzustellen wähnen. Die Summe ihrer in
festgegliederte Ordnungen gefassten Lehrsätze leiten sie dann aus
den Worten des Propheten, nicht selten aus deren Buchstaben, her
(Ignaz Goldziher, Vorlesungen über den Islam, Heidelberg 21925,
Seite 71).
Gerechtigkeit für die Armen und Unterdrückten
Obgleich es kaum möglich ist, die Predigt des Korans zu
systematisieren, hat die islamische Theologie immer wieder auf die
eine oder andere Weise versucht, gerade das zu tun. Will man der
Dynamik des Auftritts Muhammads gerecht werden, dann wird man
niemals den konkreten Kontext vergessen dürfen. Die Sendung
Muhammads durch Gott ist von Anfang an mit Barmherzigkeit verbunden:
" Und Wir haben dich nur deshalb (mit der Offenbarung) gesandt,
um den Menschen in aller Welt Barmherzigkeit zu erweisen "
(Sure 21, 107). Daraus ergibt sich, dass die Begriffe Gerechtigkeit
und Barmherzigkeit im Koran konkret gemeint sind. Wenn man dem Koran
folgt, wird deutlich, dass der Auftrag lautet: Gerechtigkeit den
Armen und Unterdrückten zu bringen. Der Koran greift ungerechten
Handel, Betrug und Ausbeutung an: "Wehe jedem Stichler und
Nörgler, der (viel) Geld und Gut zusammenbringt und es (immer
wieder) zählt. Und meint, es würde ihn unsterblich machen "
(Sure 104, 2f). Wenn der Mensch einmal von der Gier nach Reichtum
erfasst ist, dann will er nur noch mehr haben. Diese Sucht lenkt ihn
von jedem höheren Streben ab. Hingegen entbehrten die Schwachen,
Armen und Waisen alles: "Nein! Ihr seid (eurerseits) nicht
freigebig gegen die Waise und haltet euch nicht gegenseitig dazu an,
dem Armen (etwas) zu essen zu geben. Ihr zehrt vielmehr das Erbe
(eurer Schützlinge) vollständig auf und liebt Hab und Gut über
alles" (Sure 89,17-20). Über die Priester und Mönche der
Christen sagt der Koran, dass sie nicht stolz sind (weil sie nicht
hochmütig sind) (Sure 5, 82), und anerkennt, dass sie
Barmherzigkeit tun: " Und Wir liegen im Herzen derer, die sich
ihm (Jesus) anschlossen, Mitleid Platz greifen, Barmherzigkeit und
Mönchtum" (Sure 57, 27).
Almosen als soziale Verpflichtung
In Reaktion auf soziale Missstände legte Muhammad die Grundlage
für eine neue Gesellschaft. In Medina setzte er den Anfang mit
einem Gemeinwesen, das von Gerechtigkeit getragen sein sollte. Durch
das Almosengeben (zakat) sollten die Anhänger des Propheten ihrer
sozialen Verpflichtung nachkommen. Zakat ist einer der Grundpfeiler
des Islams geworden. Die spirituelle Verpflichtung, das Verrichten
des rituellen Gebetes (salat), und die soziale Verpflichtung werden
im Koran öfters in einem Atemzug genannt. Die Erfüllung dieser
Pflichten dient schließlich auch den Eigeninteressen der
Glaubensgenossen: " Und verrichtet das Gebet, gebt die
Almosensteuer und gehorchet dem Gesandten! Vielleicht werdet ihr
(dann) Erbarmen finden " (Sure 24, 56). In der Ausübung von
Gerechtigkeit und Barmherzigkeit vollzieht sich die Nachfolge von
Gottes Barmherzigkeit und Gerechtigkeit durch den Menschen.
Versuch Namen und Attribute Gottes zu
systematisieren
Die islamische Theologie hat nun versucht, in abstrahierender
Weise die Namen und Attribute Gottes zu systematisieren. Der Name
al-Rahman, der Barmherzige, kommt außerhalb der Fatiha, der
Eröffnenden - alle Suren des Korans, mit Ausnahme der neunten,
beginnen mit der Formel: Im Namen Gottes, des Erbarmers, des
Barmherzigen - im Koran noch einhundertachtmal vor. Es scheint, dass
er nicht allein ein Attribut Gottes ist, sondern auch ein
selbständiger Name Gottes (Allahs). Dieser Gottesname war in der
vorislamischen Periode in Süd-Arabien bekannt, wie aus Inschriften,
die man im Jemen gefunden hat, deutlich wird. Dieser Gottesname, und
das ist wichtig zu sagen, war bei Juden und Christen üblich. Es ist
darum nicht verwunderlich, dass, wenn im Koran über Jesus und Maria
gesprochen wird, gerade dieser Gottesname verwendet wird (Sure 19).
Die Kombination der Namen "der Barmherzige" und "der
Erbarmer" findet sich ebenfalls außerhalb der Fatiha: "Es
ist als Offenbarung herabgesandt und kommt von dem Erbarmer, dem
Barmherzigen" (Sure 41, 2). "Euer Gott ist einer allein.
Es gibt keinen Gott auf3er Ihm, dem Erbarmer, dem Barmherzigen
" (Sure 2, 163). "Er ist Gott, außer dem es keinen Gott
gibt, (Er ist es) der über das, was verborgen und was allgemein
bekannt ist, Bescheid weiß. Er ist der Erbarmer, der
Barmherzige"(Sure 59, 22). In der koranischen Predigt
benachdruckt dieser göttliche Name die absolute Barmherzigkeit des
einigen Gottes. "Was auch im Koran über den Barmherzigen
gesagt wird, wird auch über Gott ausgesagt" (J. Jomier).
Barmherzigkeit übertrifft den Zorn Gottes
Eine wichtige Frage, die sich nun stellt, ist die nach dem
Verhältnis zwischen diesen beiden Attributen Gottes: Ist Gott in
gleichem Maße barmherzig wiegerecht? In ihrer Diskussion über die
Qualen der Hölle, die der Koran wiederholt ausmalt, kamen
muslimische Denker schlussendlich auf den Gedanken der Priorität
der Barmherzigkeit Gottes über seinen Zorn. Sie wiesen darauf hin,
dass die Anzahl der Namen seiner Barmherzigkeit die seines Zornes
übertreffen - zumindest im Verhältnis von fünf zu eins. Der Name
Rachsucht beispielsweise scheint einmal auf, ihr Gegensatz
"Vergebung" hingegen hundertmal! Derartige Überlegungen
erklären, warum nach einigen islamischen Theologen die Hölle nicht
ewig sein kann. Für den Mystiker Ibn `Arabi (geboren 1164) ist es
durch Gottes Erbarmen, dass den Ungläubigen die Strafe in der
Hölle erlassen wird. Gemäß einer Tradition steht auf Gottes Thron
geschrieben: "Wahrlich meine Barmherzigkeit überwindet meinen
Zorn". Nach einer hadith qudsi heißt es: "Meine
Barmherzigkeit übertrifft meinen Zorn". Der Gottesname der
Barmherzigkeit übertrifft den des Zorns, weil die Barmherzigkeit
Gottes dem Wesen Gottes gemäß ist, sein Zorn jedoch erst in
Verbindung mit seinen Geschöpfen zur Sprache kommt. Schon im Koran
heißt es von Gott: "Mit meiner Strafe treffe ich, wen ich
will. Aber meine Barmherzigkeit umfasst alles" (Sure 7, 156).
Er sagte nicht: Mein Zorn umfasst alles. Er schuf alle Dinge aus
seiner Barmherzigkeit.
Barmherzigkeit ist das Attribut Gottes
Wesens
Barmherzigkeit ist das Attribut seines Wesens, aber nicht der
Zorn: "Wenn einer von euch in Unwissenheit Böses tut und dann
später umkehrt und sich bessert (findet er Gnade). Gott ist
barmherzig und bereit zu vergeben" (Sure 6, 54). "Denen
gegenüber, die in Unwissenheit Böses getan haben und dann später
umkehren und sich bessern, (ihnen gegenüber) ist dein Herr
schließlich, nachdem das (alles) geschehen ist, barmherzig und
bereit zu vergeben" (Sure 16, 119). "Sie sind die (wahren
Frevler), ausgenommen diejenigen, die danach umkehren und sich
bessern. Gott ist barmherzig und bereit zu vergeben " (Sure 24,
5). "Er ist barmherzig und bereit zu vergeben. Wenn einer
umkehrt und rechtschaffen handelt, wendet er sich bußfertig Gott
wieder zu" (Sure 25, 71). Untersuchungen des Korans zeigen,
dass man nicht von einem Gleichgewicht zwischen den Attributen der
Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit sprechen kann. Gimaret hat in
seiner gründlichen Studie über die Namen Gottes gezeigt, dass die
Namen seiner Barmherzigkeit über denen der Gerechtigkeit stehen
(Daniel Gimaret, Les noms divins en Islam. Exegese lexicographique
et theologique, Edition Cerf, Paris 1988)
Leid als Strafe
Nach islamischer Auffassung hat das Leiden einen zweifachen
Grund: als verdiente Strafe für die Sündhaftigkeit der Menschen
und als von Gott auferlegte Prüfung. In Sure 74 werden die
Übeltäter gefragt: "Was hat euch ins Höllenfeuer
getrieben?" Und es folgt eine Aufzählung von all dem, was
Strafe für den Mensch nach sich zieht: 1. wenn er das Gebet nicht
verrichtet (salat); 2. nicht einem Bedürftigen gibt (zakat); 3.
eitel spricht über religiöse Dinge; 4. Gott und die letzte Stunde
zu Lügen erklärt (Sure 74, 43-47). Wiederholt erklärt der Koran,
dass alle, die Übles tun, Strafe erhalten für ihre Taten in dieser
und der kommenden Welt. Diese Aussagen werden mit Nachdruck mit der
vollkommenen Gerechtigkeit Gottes am Tag des Urteils verbunden.
Sündenstrafen, die Leiden mit sich bringen, haben eine
pädagogische Funktion, um den Ungläubigen die Wahrheit von Gottes
Wort zu zeigen. Der fehlende Glaube ist die Wurzel allen Übels und
zieht Leid nach sich. Oftmals beteuert der Koran, dass Gott die
Ungläubigen nicht ungerecht behandle, sie fügten sich vielmehr
selber Böses zu: " Und wenn einer Böses tut oder (indem er
sündigt) gegen sich selber frevelt und hierauf Gott um Vergebung
bittet, wird er finden, dass Gott barmherzig ist und bereit zu
vergeben" (Sure 4, 110). "Diejenigen, die, wenn sie etwas
Abscheuliches getan oder gegen sich selber gefrevelt haben, Gottes
gedenken und (ihn) um Vergebung für ihre Schuld bitten - und wer
könnte den Menschen ihre Schuld vergeben außer Gott? Und (die) in
dem, was sie an Sünde getan haben, nicht beharren - deren Lohn
besteht in Vergebung von ihrem Herrn " (Sure 3, 135). "
Wenn aber einer, nachdem er gefrevelt hat, umkehrt und sich bessert,
wendet Gott sich ihm (gnädig) wieder zu. Gott ist barmherzig und
bereit zu vergeben" (Sure 5, 39). Der Ungläubige verurteilt
sich selber zum Leiden, denn schließlich ist der Unglaube das
größte Leiden: das Leiden der Seele. Gott tut kein Unrecht, seine
Diener tun Unrecht (Helmut Ritter, Das Meer der Seele, Leiden 1955,
Seite 62).
Warum leiden auch Kinder ?
Eine der brennendsten religiösen Fragen ist immer wieder die
nach dem Warum des Leids, insbesondere des Leidens der Gerechten und
der Kinder. Seine Deutung als Strafe für Sünde ergibt keine
hinreichende Erklärung. Kinder unter einem bestimmten Alter sind
nicht dem islamischen Gesetz unterworfen. Trotzdem wird deren Leid
Gott zugeschrieben. Es scheint, als ob Gott Unrecht täte. Die
theologische Schule der Mu'taziliten, die sich als Verteidiger des
Glaubens mit dem Mittel der rationalen Beweisführung versteht,
entwickelte Erklärungshypothesen: Das Argument von Bishr ibn
al-Mu'tamir etwa war dahingehend, dass Kinder bestraft werden, weil
sie als Erwachsene ungläubig würden und Strafe verdienten. Diese
Erklärung ist unbefriedigend, aber sie wurde dennoch angewandt. Ein
weiterer Lösungsvorschlag war, dass Gott gestattet hat, dass Kinder
leiden, um Erwachsene zu warnen. Sie werden jedenfalls im Paradies
ihren Lohn empfangen (W.M. Watt, The Formative Period of Islamic
Thought, The University of Edinburgh Press, Edinburgh 1973, Seite
240). Die Mu'taziliten halten es für ausgeschlossen, dass Gott
Kinder in der künftigen Welt straft. Strafe ist notwendigerweise
die Folge eines Vergehens, und das ist einem Kind nicht möglich.
Gott kann nicht ungerecht sein. Das Leiden der Kinder muss
kompensiert werden im künftigen Leben. Nach al-Ashari hingegen hat
Gott das Recht, Kinder leiden zu lassen in der kommenden Welt. Wenn
er es tut, ist er nicht ungerecht (Gimaret, a. a. O., Seite 440).
Jeder Mensch hat Kummer
Gott ist sowohl gerecht als auch barmherzig. Einerseits ist er
der gestrenge König, der über die Taten urteilt und das Böse
straft, weil er das Gute belohnt. Andererseits ist er der
Barmherzige, der denjenigen vergibt, die seine Vergebung suchen. Der
Muslim geht seinen Weg, schwankend zwischen Gottes Strenge und
seiner Barmherzigkeit, in der Furcht vor Gottes Strafe und
vertrauend auf seine Vergebung. Oder wie die Mystiker es
ausdrücken: Die treulose Welt ist ein Gasthaus voll Kummer und
Plage. Ich kenne keinen Menschen ohne Kummer. Das ist ein Erbteil
vom Urvater Adam. Wenn Adam nicht das Weizenkorn gegessen hätte,
dann hätten die Menschen kein Korn Kummer (Ritter, a. a. O., Seite
58).
Leid als Prüfung
Neben der Interpretation des Leidens als Strafe für die Sünde
steht im Islam auch die Sicht des Leidens als Prüfung des Glaubens.
Der wahre Muslim hält an seinem Glauben trotz des Elends, das ihn
trifft, fest. Leiden gehört zur Beschaffenheit des menschlichen
Seins (condition humaine). Es ist von Gott so verfügt, dass der
Fromme leiden muss. Gott verhängt selbst über seine Propheten wie
Adam, Noah, Abraham, Ishmael, Jakob, Josef, Hiob, Jonas, Mose,
David, Salomo, Zacharias, Johannes und Jesus Leiden, Verfolgung und
Martyrium. Muhammad, der den Verfolgungen der Mekkaner ausgesetzt
war, hat sich mit dem Schicksal der früheren Propheten getröstet.
Als Jakob beständig den Namen des ihm entrissenen Josef im Munde
führt, lässt Gott ihm sagen, er werde ihn aus der Liste der
Propheten streichen, wenn er sich nicht in Geduld übe. Daraufhin
schweigt Jakob. Er kann sich aber nicht eines Seufzers erwehren, als
er Josef im Traum sieht. Daraufhin hält ihm Gabriel vor, dass er
das Reuegelöbnis gebrochen habe. Zu dem schwer geprüften Hiob sagt
Gabriel: Was hältst du an dich? Klage nur aus kummervoller Seele!
Wenn du auch in jedem Augenblick den Tod erleiden musst, kümmert
das Gott nicht. Dein geduldiges Ertragen des Schmerzes ist zwecklos.
Der Prophet Hiob wurde so viele Jahre von Würmern geplagt, nur,
damit er einen Wehlaut ausstoßen sollte. Als er das tat, erlöste
ihn Gott von der Qual. So verlangt Gott von dem einen Schweigen und
von dem anderen Klagelaute.
Die Geschichte von Abrahams Opfer
Im Koran findet sich die Geschichte von Abrahams Opfer (Genesis
22). In ihr wird ausdrücklich von einer Prüfung gesprochen:
"Abraham sagte: Mein Sohn! Ich sah im Traum, dass ich dich
schlachten werde. Überlege jetzt (und sag), was du (dazu) meinst!
Er sagte: `Vater! Tu, was dir befohlen wird! Du wirst, so Gott will,
finden, dass ich (einer) von denen bin, die (viel) aushalten
können.' Als nun die beiden sich (in Gottes Willen) ergeben hatten
und Abraham seinen Sohn auf die Stirn niedergeworfen hatte (um ihn
zu schlachten) ... Und Wir riefen ihn an: `Abraham! Du hast (durch
deine Bereitschaft zur Schlachtung deines Sohnes) den Traum (den du
gehabt hast) wahr gemacht.' So vergelten wir denen, die fromm sind.
Das ist die offensichtliche Prüfung (die wir Abraham auferlegt
haben) und wir lösten ihn mit einem gewaltigen Schlachtopfer
aus"(Sure37,102-107). Darum heißt `id al-adha, das Opferfest,
das große Fest, weil es an Abrahams Bereitschaft zum Opfer
erinnert. Was in der koranischen Fassung auffällt, ist, dass der
Sohn dem geplanten Opfer zustimmt. Der Gehorsam spielt eine zentrale
Rolle. Vom Propheten Muhammad ist überliefert, dass er gesagt hat:
Bei dem, in dessen Hand meine Seele ist, die Welt wird nicht
vergehen, bevor nicht ein Mann an einem Grab vorbeigeht, sich im
Staube wälzt und sagt: `Ach, wäre ich statt seiner in diesem
Grabe!' Und das sagt er nicht aus Frömmigkeit, sondern weil er auf
die Probe gestellt wird (Raven, a. a. O., Seite 761)
Die Bewältigung des Leides durch Geduld
Geduld (sabr) ist eine Haupttugend im Islam. Vollkommene Geduld
ist, anzunehmen, was auch immer von Gott kommt. Der Koran beschreibt
sie als Haltung Hiobs, Jakobs und Jonas (Annemarie Schimmel,
Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus, Köln
1985, Seite 183). Von den ersten Anhängern des Propheten in Mekka
und von Muhammad selbst wird viel Geduld gefordert: " Und wir
werden euch sicher mit ein wenig Furcht (vor den Feinden) und Hunger
und (mit) Verlust an Vermögen, an Leib und Leben und (Mangel) an
Früchten (die ihr zum Lebensunterhalt nötig habt) (gewissen)
Prüfungen aussetzen und bring denen, die geduldig sind, gute
Nachricht (von der Seligkeit, die sie im Jenseits zu erwarten
haben)! (Ihnen) die, wenn sie ein Unglück trifft, sagen: `Wir
gehören Gott, und zu ihm kehren wir (dereinst) zurück.'"
(Sure 2, 155f).
Liebe schöpft aus dem Leiden Freude
Die Mystiker (Sufis) sprechen über die Liebe, die aus dem Leiden
Freude schöpft. Der persische Märtyrer-Mystiker al-Hallaj (922
hingerichtet), der die Entwicklung der islamischen Mystik zutiefst
beeinflusst hat, wurde im Laufe der Zeit zu einem Symbol für
leidende Liebe. Die Geschichte, die Attar erzählt, erhellt das
Geheimnis von Hallajs Leben, Liebe und Tod: Als Hallaj im Gefängnis
war, fragte ihn ein Derwisch: "Was ist Liebe?" Er sprach:
"Du wirst es heute sehen und morgen sehen und übermorgen
sehen!" An jenem Tage töteten sie ihn, am nächsten Tage
verbrannten sie ihn, und am dritten Tage gaben sie seine Asche dem
Wind...
Im Zusammenhang mit al-Hallaj heißt es: "Derjenige, der
durch meine Liebe getötet wird, für den werde ich (=Gott) Blutgeld
sein". Der Märtyrer der Liebe wird von Gott selbst belohnt. Je
mehr Gott jemanden liebt, umso mehr wird er ihn auf die Probe
stellen, indem er von ihm auch die letzte Spur irdischer Tröstungen
nimmt, sodass der Liebende sich einzig und allein auf ihn stützt.
Gott prüft besonders die, die er am meisten liebt. (Vgl. die
biblischen Texte "Mein Sohn, achte nicht gering die Züchtigung
des Herrn und verzage nicht, wenn du von ihm gestraft wirst. Denn,
wen der Herr liebt, den züchtigt er..." - Hebr 12,5f "Wen
ich liebe, den strafe und züchtige ich." - Offb 3,19).
Das schlimmste Leiden ist das religiöse
Unglück
Von einem Mystiker wird berichtet, dass er systematisch das
Leiden übte, indem er täglich ins Krankenhaus ging, auf die
Gräberfelder und auf die Richtplätze, wo Menschen gefoltert,
verstümmelt und hingerichtet wurden. Schlimmer als körperliche
Leiden oder materielle Verluste ist das religiöse Unglück, das
jemanden treffen kann. Ein bitterarmer Koranleser wird im Traum
gefragt: Möchtest du, dass Wir dich die Sure al-An'am vergessen
lassen und dir dafür 1000 Dinare geben? Er antwortet: Nein!
Vielleicht die Sure Hud? Nein. Vielleicht die Josefsure? Nein! So
zählt die Stimme eine Reihe von Suren auf, und der Koranleser lehnt
jedes Mal den Tausch ab. Da sagt die Stimme: Du besitzt also einen
Wert von 100 000 Dinaren und beklagst dich immer noch? Der
Koranleser wacht getröstet auf (Schimmel, a. a. O., Seite 100).
So schwindet auch das Ärgernis, das darin besteht, dass es dem
Ungläubigen gut geht, dem Gläubigen hingegen schlecht. Auf den
Ungläubigen wartet schließlich die jenseitige Strafe, und all sein
Gut und sein Glück helfen ihm nichts.
Leiden ist Strafe für begangene Sünden
Das Leiden ist die zeitliche Strafe für begangene Sünden. Durch
das Leiden werden diese Sünden gesühnt. Ein Tag Fieber sühnt die
Sünden eines Jahres, heißt es. Gott straft nicht zweimal. Wenn der
Sünder hier durch Leiden bestraft wird, wird er im Jenseits nicht
noch einmal bestraft werden. Es ist besser, hier bestraft zu werden
als dort. Wenn Gott mit seinem Knecht Gutes vorhat, dann straft er
ihn für seine Sünden im Diesseits. Es ist sogar bedenklich, wenn
jemand keine Krankheit kennt. Sie ist der Anteil des Gläubigen am
Höllenfeuer. Die hier Leidenden werden dort reichlich entschädigt,
sodass sie ihre Leiden vergessen. Für das Leiden bzw. für die im
Leiden bewiesene Geduld wird dem Menschen großer Lohn zuteil. Wenn
jemandes Verwandter gestorben ist, so sagt man zu ihm: "Gott
schenke dir große Belohnung" (nämlich für das geduldige
Ertagen deines Leides). Ungerechtfertigtes Leid verhilft zur
Märtyrerkrone. So wie der Traubensaft durch ständige
"Aufregung", nämlich Fermentation, geläutert wird, bis
er Wein ist, und wie der Weizen gemahlen und geknetet wird, bis er
Brot wird, so kann die Menschenseele nur durch Leiden reifen. Und
wenn die Asketen Gottes Vergebung und Milde (rahma) suchen, so
suchen die Liebenden seine Qual (zahma) - ein sinnreiches Wortspiel
der persischen Dichter. Leiden und Heimsuchung sind für die
Mystiker "das schnellste Ross, das den Menschen zur
Vollkommenheit bringt" (wie Meister Ekkehart zur selben Zeit,
gleich vielen der großen Sufis, feststellte) (Schimmel, a. a. O.,
Seite 199f).
Leid in schiitischer Auslegung
Bedingt durch ihre Leidensgeschichte, die mit der Ermordung der
zwei Söhne des Kalifen Ali, Hassan und Imam Hossein, durch die
Omayaden in Karbala am 10. Moharram 680 (diese Passion wird
alljährlich am "Ashura"-Fest wie ein Mysterienspiel
aufgeführt) einen Höhepunkt erreicht hatte, haben die Schiiten
eine beachtenswerte Reflexion über das Leiden und seine
Heilswirkung entwickelt. Für die Zwölfer-Schiiten sind alle Imame
- bis auf den zwölften - als Märtyrer oder Zeugen eines
gewaltsamen Todes gestorben: erschlagen, vergiftet oder im Kerker
zugrunde gegangen. Dieses Leiden der Imame, vor allen Hosseins und
seiner Angehörigen und Gefährten, nimmt geradezu den Charakter
eines Selbstopfers an: Die "Sündelosen" nehmen freiwillig
einen Teil der Strafe auf sich, die eigentlich den sündigen
Menschen gebührt. Ihr stellvertretendes Leiden erspart es der
Menschheit, von der vollen Gerechtigkeit Gottes getroffen zu werden.
Das Selbstopfer befähigt den Märtyrer zudem, eine Mittlerrolle bei
Gott einzunehmen und mit seiner Fürsprache bei Gott einzutreten.
Vorstellung einer Erbsünde ist dem Islam fremd
Dieser Glaube an das stellvertretende Leiden kommt christlichen
Vorstellungen sehr nahe. Allerdings dürfen die Unterschiede nicht
verwischt werden: Die Vorstellung von einer existentiellen
Sündhaftigkeit, einer "Erbsünde", von der die Menschheit
erlöst werden müsse, ist der Schia - wie dem Islam überhaupt -
fremd. Die Passion der Imame gibt lediglich die Strafe ab, die der
Gläubige durch individuelles Verschulden auf sich geladen hat.
Seine Dankesschuld gegenüber den Imamen kann der Mensch nur auf
zweierlei Weise abtragen: durch das Weinen an ihren Gräbern und
durch die Bereitschaft, auch seinerseits das Martyrium willig auf
sich zu nehmen.
Imam Hossein als Märtyrer und Held
Um zu zeigen, wie in der Gegenwart das Drama von Karbala gesehen
und
gefeiert wird, sei der Text eines Weihespiels aus dem Kairo des
Jahres 1970 zitiert. Imam Hossein tritt als revolutionärer Held und
großer Märtyrer au£ Im Finale richtet er seine Botschaft an die
Gläubigen: "Gedenke meiner nicht durch das Vergießen des
Blutes anderer, sondern gedenke meiner, indem du versuchst, die
Wahrheit zu retten aus den Klauen der Lüge. Gedenke meiner in
deinen Tränen, wenn Schwache und Kleine unterdrückt werden.
Gedenke meiner, wenn die Religion zur Ideologie gemacht wird und
korrupte Führer die Verantwortlichkeit über den Glauben der
Menschen an sich reißen. Gedenke meiner, wenn das Lied der
Brüderlichkeit verstummt, wenn die Armen klagen und sich die
Taschen der Reichen füllen... Wenn du aber still bist, Lüge und
Erniedrigung akzeptierst, dann werde ich aufs neue erschlagen. Ich
werde tagtäglich tausendmal getötet. Ich werde totgeschlagen, so
lange als Menschen unterworfen und erniedrigt werden. Ich werde
getötet, so lange als der eine oder andere Yazid über sie regiert
und tut, was er will. Dann aber wird die Wunde des Märtyrers für
immer dich fluchen, weil du nicht das Blut der Märtyrer gerächt
hast. Räche das Blut der Märtyrer!" (Mahmoud Ayoub,
Redemptive Suffering in Islam. A Study of the Devotional Aspects of
‘Ashura’ in Twelver Shi'ism, The Hague/Paris New York 1978,
Seite 23).
Gekürzt und bearbeitet von Ernst Pohn
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