Die Entstehung des Korans als Offenbarungsschrift
Die Entstehung des Korans ist eng mit dem
Selbstverständnis Muhammads als Propheten verknüpft und ist nicht
zu begreifen ohne seine Inhalte. Christen dürfen allerdings nicht
von ihren christlichen Voraussetzungen ausgehen: auch wir haben ja
eine Heilige Schrift, die Bibel; so müssen wir, wenn wir nicht
Missverständnissen erliegen wollen, das eine Buch neben dem anderen
sehen, gerade auch in seinen Unterschieden. Schließlich können wir, wenn wir dem Koran gerecht werden wollen, nicht nur
über ihn reden, sondern müssen ihn auch selbst zu Wort kommen
lassen, was im strengen Sinne freilich nur in der arabischen
Ursprache möglich ist.
Die Frage nach dem Autor des Korans berührt den
Nerv des Verhältnisses von Christentum und Islam. Auf
nichtmuslimischer Seite gilt er durchwegs als ein Werk Muhammads.
Bis heute gehen die meisten Islamwissenschaftler auch davon aus,
dass der Koran die Verkündigung enthält, die Muhammad zwischen 610
und 632 vortrug. Nur wenige Wissenschaftler vertreten die
Auffassung, dass der Koran das Ergebnis eines längeren
Überlieferungsprozesses sei und sich erheblich von dem
unterscheide, was Muhammad verkündete; dass dem Koran also eine
produktive Traditionsgeschichte vorausgegangen sei.
Die Menschen sind von Gott
geschaffen, er wird sie aber auch zur Verantwortung ziehen
Die zwei fundamentalen Themen der ersten
Verkündigung Muhammads sind "Schöpfung" und
"Gericht". Beide hängen eng zusammen; denn Schöpfer und
Richter ist der eine Gott in seiner Beziehung zu den Menschen. Man
könnte die Grundbotschaft des Islams etwa so zusammenfassen: Wir
sind alle von Gott geschaffen; er hält uns gütig und barmherzig in
Händen; aber er wird uns auch zur Verantwortung rufen am Jüngsten
Tag - wir können uns ihm nicht entziehen - er allein ist der Herr.
Skepsis gegenüber Muhammads´
Botschaft
Die ersten Adressaten dieser Botschaft Muhammads
waren die Bewohner Mekkas. Sie waren Polytheisten und hatten große
Skepsis vor allem gegenüber Muhammads Verkündigung der
Auferstehung zum Gericht. Dies schwingt schon beim Thema
"Schöpfung" ständig mit, denn der Koran sieht den Anfang
der Welt als "erste Schöpfung", die Auferstehung
bezeichnet er hingegen als "neue Schöpfung":
Wer nicht der Schöpfung gemäß
handelt, wird gerichtet
"Neue Schöpfung" bedeutet dabei
freilich nicht wie im biblischen Sinn ein grundlegend anderes Sein
(wie 2 Kor 5,17; Gal 6,15; vgl. Röm 6,4), sondern allein die
"erneute (zweite) Erschaffung". Dem Gericht werden die
verfallen, die in ihrem Leben nicht an Gottes Schöpfung denken und
nicht ihr gemäß leben: "Wenn die Erde durch ihr heftiges
Beben erschüttert wird, die Erde ihre Lasten hervorbringt und der
Mensch sagt: `Was ist mit ihr?', an jenem Tag erzählt sie ihre
Geschichten, weil dein Herr ihr offenbart hat. An jenem Tag kommen
die Menschen getrennt hervor, damit ihnen ihre Werke gezeigt werden.
Wer also Gutes im Gewicht eines Stäubchens tut, wird es sehen. Und
wer Böses im Gewicht eines Stäubchens tut, wird es sehen "
(99). In einer Fülle machtvoller Bilder werden der Einbruch der
Endzeit und die Erschütterung durch das Gericht geschildert. Der
Ernst der letzten Stunde soll jetzt schon jedermann zu Ohren kommen
und vor Augen stehen; niemand soll einmal sagen dürfen, er habe
nichts davon gewusst oder habe es überhört.
Botschaft vom Verbot der Götzen
führt zu Konfrontationen in Mekka
Worauf war diese Botschaft ausgerichtet, und was
war der Grund dafür, dass sie in Mekka zu scharfen Konfrontationen
führte? Bei dem bedeutendsten muslimischen Historiker der ersten
Jahrhunderte, at-Tabari, lesen wir: "Als der Gesandte Gottes
seine Volksgenossen zu der ihm geoffenbarten
Rechtleitung und Erleuchtung aufrief, wozu Gott ihn geschickt hatte,
hielten sie sich anfänglich nicht von ihm fern und waren nahe
daran, auf ihn zu hören - bis er auf ihre Götzen zu sprechen
kam" (Annalen I, 1180, zit. nach Rudi Paret, Muhammad und der
Koran, Stuttgart 1985, Seite 102).
Rede von einem Schöpfer
gefährdet Mekkas Ruf als polyhteistische Stadt
Die Predigt von dem einen Schöpfer und Richter
musste zunehmend auf einen entschiedenen Monotheismus drängen. Eine
solche Verkündigung aber betraf Mekka schwerwiegend; denn diese
Stadt war seit alters ein Wallfahrtsort mit der Kaaba als einem
Heiligtum, das viele Statuen von Göttern und Göttinnen enthielt.
Die Mächtigen Mekkas bangten um den "frommen" Ruf ihrer
Stadt und ihre entsprechenden Einkünfte, wenn sich Muhammads
Botschaft durchsetzen sollte.
Muhammad stellt politische
Bedrohung dar
Andererseits richtete sich Muhammad gerade nicht
gegen die Kaaba selbst. Es mussten für den Widerstand gegen ihn und
seine Botschaft noch weitere Momente im Spiel sein. Eines war,
"dass der Koran in seiner ethischen Lehre viele der
kommerziellen Praktiken der großen Kaufleute kritisierte"; ein
weiteres, "dass sie in Muhammad eine mögliche Bedrohung ihrer
politischen Macht sahen; denn mit seiner Kritik an ihrem
Geschäftsgebaren konnte er sich beim einfachen Volk von Mekka eine
große Gefolgschaft sichern. Abgesehen von diesen besonderen Lehren
neigten die Araber im allgemeinen dazu, denjenigen für den
geeignetsten Lenker eines Klans oder Stammes zu halten, der sich
durch Weisheit, Klugheit und Urteilsfähigkeit auszeichnete. Wenn
sie Muhammads Behauptung akzeptiert hätten, er habe eine
übernatürliche Quelle der Rechtleitung, hätten sie auf lange
Sicht zugeben müssen, dass er, Muhammad, am besten dazu geeignet
wäre, Entscheidungen zugunsten von ganz Mekka zu treffen."
(Vgl. William Montgomery Watt, Der Islam I Stuttgart 1980)
Sozialer Druck gibt Anlass zur
Übersiedlung nach Medina
Ein Stamm hatte in Mekka das Sagen: die Quraisch,
denen auch Muhammad angehörte; aber die alten Stammesbindungen
hatten schon an Bedeutung verloren; an ihre Stelle war ein
"Stadtrat" getreten. Das Zusammengehörigkeitsgefühl, die
wechselseitigen Verpflichtungen lösten sich auf. In dieser
Situation bedeutete das Auftreten Muhammads eine zusätzliche
kräftige Destabilisierung. Die Ankündigung des Gerichts war der
schärfste Ausdruck dafür, dass sich die Selbstsicherheit der
herrschenden Mekkaner bedroht sehen sollte. Die Folgen waren
zunehmender aggressiver sozialer Druck gegen Muhammad und seine
Anhänger; sie waren verbalen und physischen Angriffen sowie
wirtschaftlichen Sanktionen ausgesetzt. Letztlich entzog man ihnen
den Stammesschutz. Dies war der Anlass zur Hidschra, der
Übersiedlung nach Medina. Eine neue Ordnung musste an die Stelle
der alten treten. Der Koran sollte dazu die Grundlage legen.
Koran bedeutet Rezitation
Der Koran enthält viele Aussagen über sich
selbst, so dass wir gut tun, zunächst ihm zu entnehmen, mit welchem
Verständnis und welchem Anspruch diese von Muhammad verkündete
Botschaft vorgetragen wurde und letztlich als Buch zustande kam. Das
möglicherweise älteste Stück des Korans finden wir in Sure
96,1-4: "Trag vor im Namen deines Herrn, der erschafft, den
Menschen erschafft aus einem Klumpen! Trag vor! Dein Herr ist der
Allgütige, der das Schreibrohr lehrt, den Menschen lehrt, was er
nicht wusste. " Es fällt auf, dass hier das Thema der
Schöpfung bereits mit dem der Schrift verbunden ist. Außerdem
lässt das erste Wort schon den Namen der Heiligen Schrift
anklingen: "Iqra'- Trag vor"; "Qur'an" heißt
"Rezitation, Lesung, Vortrag ". Der Name des Buches ist
also von der Aufgabe Muhammads und der späteren Liturgie her
gewählt. Ursprünglich stammt das Wort "Qur'an" wohl aus
dem christlichen Gottesdienst aramäischer (syrischer) Sprache, denn
es gehört nicht zum altarabischen Wortschatz.
Bibel und Koran unterscheiden
sich vor allem in der Gestalt der Rede
Der theologische Unterschied zwischen Bibel und
Koran lässt sich am besten an einer wesentlichen Besonderheit der
Gestalt der Rede unterscheiden: Die Texte der biblischen
Prophetenbücher enthalten formal sowohl eigene Rede der Propheten
als auch Reden Gottes selbst. Diese Reden Gottes werden oft
eingeleitet durch die "Botenspruchformeln": "So
spricht der Herr" oder "Wort des Herrn" (o.ä. vgl.
Jer 23,16.23) . Hier setzt der Prophet einleitend einen Abstand zu
seiner eigenen Rede und verweist darauf, dass von nun an Gott zu
hören ist - selbstverständlich aus dem Mund des Propheten. Dieser
setzt sozusagen Gott in seine Rolle ein, schafft für ihn die Szene,
setzt für ihn die Anführungszeichen.
Prophetenrede wird von Gott
formuliert
Im Koran ist dies genau umgekehrt: Die
Prophetenrede, also die Rede Muhammads wird dort, wo sie formal als
solche vorkommt, von Gott her als Prophetenrede gekennzeichnet; Gott
setzt hier die Anführungszeichen; er formuliert die Botenformel;
darüber hinaus ist alles die Rede Gottes selbst: "Sie (die
Gegner Muhammads) sagen: `Er hat ihn (den Koran) ausgedacht.' Sag:
`Dann bringt doch zehn Suren bei, die ihm gleich und ausgedacht
sind!' (11,13)
Koran gilt als Komposition
Gottes
Nach muslimischem Verständnis gilt also dieses
Buch insgesamt als eine literarische Komposition Gottes, zu der
Muhammad von sich aus nichts beigetragen hat - gemäß der ihm von
Gott erteilten Weisung: "Es obliegt uns, ihn (den Koran)
zusammenzustellen und zu rezitieren. Und wenn wir ihn rezitiert
haben, folge du seiner Rezitation! Dann obliegt es uns, ihn zu
erklären" (75,17-19).
Muhammad ist lediglich das
Schreibrohr Gottes
Gott ist der einzig authentische Autor und
Kommentator des Korans; Muhammad ist nur das Schreibrohr, der
Griffel Gottes. (Allein die Zusammenstellung zu 114 Suren in ihrer
heutigen Reihenfolge zu dem konkreten Buch nach dem Tod Muhammads
ist menschliches Werk.) Muhammad gilt nach islamischer Tradition
sogar ausdrücklich als Analphabet oder wenigstens als ungelehrt:
"Du hast zuvor noch keine Schrift gelesen und keine mit deiner
Rechten abgeschrieben" (29,48).
Für Muslime keine
traditionsgeschichtliche Verbindung zwischen Bibel und Koran
In Spannung dazu setzt sich der Koran ständig
mit dem gegen Muhammad gerichteten Vorwurf auseinander, seine
Verkündigung enthielte doch nur "die Geschichten der
Früheren" (16,24; 27,67; usw.). Dahinter steht eine zwischen
Muslimen und Nicht-Muslimen kontroverse Beurteilung der zahlreichen
Gemeinsamkeiten der biblischen Schriften und des Korans: Für
Muslime gibt es zwischen den beiden keine traditionsgeschichtliche
Verbindung; die Gemeinsamkeiten weisen nur darauf hin, dass Gott da
wie dort der Autor ist, also in beiden Fällen auch dasselbe sagt
(wobei freilich nach muslimischem Vorwurf Juden und Christen ihre
Schriften nicht in ihrer ursprünglichen Gestalt beließen, sondern
sie im Laufe der Zeit veränderten, gar ausdrücklich
"verfälschten").
Im Himmel gibt es die
"Urschrift"
Weil der Koran insgesamt Schrift Gottes ist, hat
er absolute Gültigkeit: "Dies ist die Schrift; an ihr ist kein
Zweifel; eine Führung für die Gottesfürchtigen " (2,2).
Dahinter steht die Vorstellung: Es gibt im Himmel die
"Urschrift" ("die Mutter des Buches" - 3,5); der
irdische Koran durch Muhammad ist davon die geschichtlich bedingte,
aber ganz von Gott her aktualisierte Fassung.
Koran bringt klare Beweise
Der Koran ist nach seiner Selbstdarstellung ein
einfaches und deutliches Buch. Dass er "klare Beweise"
oder "deutliche Zeichen" bringt, wird an einer Vielzahl
von Stellen ausgesagt (die entsprechenden arabischen Wörter "
bayyina ", " bayyinät ", " mubayyan",
"mubin" kommen einige hundertmal vor).
Arabisch ist für Muslime die
Sprache Gottes
Als geschichtliches Buch vermittelt Muhammad
ausdrücklich einen "arabischen Koran" ( 12,1; 20,113).
Wenn seine Zuhörer, um seine Glaubwürdigkeit zu bestreiten, auf
andere hinweisen, von denen Muhammad gelernt haben könnte, heißt
die Antwort des Korans: "Die Sprache dessen, auf den sie
anspielen, ist nichtarabisch. Dies hingegen ist eine deutliche
arabische Sprache" (16,103). Damit ist Arabisch für Muslime
die Sprache Gottes schlechthin. (Dies hat auch bis zur Gegenwart
sprachgeschichtliche und sprach-politische Konsequenzen: Das
Hocharabische ist Verkehrssprache von Marokko bis zum Irak, obwohl
all diese Länder ihre eigenen arabischen Landessprache haben; aber
in diesen gibt es so gut wie keine Literatur.)
Übersetzungen gelten nicht als
Koran
Eigentlich kann der Koran nicht übersetzt werden
und dürfte dies auch nicht. Erlaubt sind für Muslime höchstens
zweisprachige Ausgaben, wobei die Übersetzungen nicht als Koran
gelten, sondern als "Übertragungen der Bedeutungen des Korans
nach bester Meinung des Übersetzers". (Der Vergleich mit
Latein als Kultsprache im römisch-katholischen Gottesdienst ist
also insgesamt nicht angemessen.)
Koran nicht auf einer Stufe mit
Bibel
Da der Koran das Wort Gottes in dieser Welt ist,
also seine Offenbarung schlechthin, nimmt er nach muslimischem
Glauben die Stelle ein, die nach christlichem Jesus Christus
zukommt. Es ist theologisch nicht angemessen - weder aus
muslimischer noch aus christlicher Sicht -, im interreligiösen
Vergleich den Koran auf dieselbe Stufe zu stellen wie die Bibel.
Diese vermittelt das Wort Gottes, ist also die grundlegende
Tradition. Im Islam stehen an dieser Stelle die Hadithe: die
Überlieferungen dessen, was der Prophet in seinem Wort, seinem Tun
oder seinen unausdrücklichen Billigungen der muslimischen
Gemeinschaft als Verpflichtung vorgab.
Koran ist nicht das erste Buch,
dass Gott offenbarte
Für Muslime ist der Koran, den Muhammad
verkündete, nicht das erste Buch, das Gott offenbarte. Immer wieder
brachten Gesandte Gottes vom Anfang der Menschheitsgeschichte an
Gottes Wort als Schrift zu den Menschen; im Koran ist ausdrücklich
die Rede von den "Blättern Abrahams und Moses " (87,18f;
vgl. 53,36f), dem "Psalter" Davids (4,163; 17,55), der
"Tora" der Juden und dem "Evangelium" Jesu (3,3
u.ä.). Alle diese Schriften waren in ihrem wesentlichen originalen
Bestand nach muslimischem Glauben ursprünglich gleich. Das Buch des
Mose ist "Imam" der späteren Bücher (46,12).
Die Besonderheiten des
Korans
1. Jetzt ergehen die Mitteilungen Gottes an die
gesamte Menschheit. Von jetzt an erst ist diese in eine umfassende
Geschichte hineingestellt. 2. Von jetzt an besitzen wir eine so
gesicherte Offenbarungsschrift, dass es keine Veränderungen, gar
Fälschungen mehr geben wird wie bei allen bisherigen `Heiligen
Schriften'. Die Offenbarung Gottes ist jederzeit in ihrer originalen
Gestalt lesbar. 3. Deshalb wird kein neuer
Prophet mehr kommen müssen, um die Offenbarung Gottes wieder
richtig zu stellen. Jetzt ist den vielen einzelnen Offenbarungen ein
Ende gesetzt, da die mit Muhammad ergangene universal für alle und
jederzeit gilt. - In diesem Sinn ist Muhammad für Muslime "das
Siegel der Propheten" (33,40).
Vollständigkeit der Welt im
Koran
Als Wort Gottes gilt der Koran für Muslime
letztlich auch als vollständige Deutung der Welt - entsprechend
seinen Aussagen: "Wir haben in der Schrift nichts
übergangen" (6,38). Dies ist zwar zunächst gesagt im Blick
auf diejenigen, die mit der Unauffälligkeit ihrer schlechten Taten
rechnen und deshalb hoffen, sich Gottes Gericht entziehen zu können
- alle sind in einer himmlischen Schrift verzeichnet; aber im
Anschluss daran wird auch der Koran als ein Buch angesehen, in dem
im Grunde schon alles aufgezeichnet ist, was den Menschen als ihr
Wissen zukommen kann (nach manchen muslimischen Äußerungen bis hin
zur modernen Evolutionstheorie und Atomlehre). Dass
der geschichtliche Koran dabei jedoch das ewige Wort Gottes nie
ausschöpfen kann, geht aus Sure 18,109 hervor: "Wenn das Meer
Tinte für die Worte meines Herrn wäre, ginge das Meer zu Ende,
bevor die Worte meines Herrn zu Ende gingen, auch wenn wir noch
einmal soviel hinzubrächten. " Und ähnlich heißt es in
31,27: "Wenn alle Bäume auf der Erde Schreibrohre wären und
das Meer noch durch sieben weitere Meere
ergänzt würde, gingen Gottes Worte nicht zu Ende. "
Koran
entstand in mehreren Abschnitten
Nach traditioneller Ansicht wurde der Koran in
der Nacht zum 27. Ramadan (laylat al-qadr - "Die Nacht des
Geschicks ": Sure 97) von Gott zum untersten Himmel gebracht
und dann abschnittweise von den Engeln Muhammad mitgeteilt. Dass es
ihn nicht von vornherein als vollständiges Werk gab, sondern er aus
situationsbedingten Stücken nach und nach zustande kam, scheint
schon zu Zeiten Muhammads Widerspruch hervorgerufen zu haben:
"Die ungläubig sind, sagen: 'Warum ist der Koran auf ihn nicht
als ein Ganzes herabgesandt worden?' Dies ist so, damit wir dein
Herz mit ihm festigen. Wir haben ihn Abschnitt für Abschnitt
vorgetragen" (25,32; vgl. 17,106).
Zurückgenommene Verse
Eine theologische Besonderheit des Korans stellen
die Verse dar, die nach muslimischer Auffassung Gott selbst, nachdem
er sie in einer bestimmten Situation offenbart hatte, wieder
zurücknahm. So wird den Muslimen zum Beispiel in 4,43 nur geboten:
"Ihr, die ihr glaubt, kommt nicht zum Gebet, wenn ihr betrunken
seid, bis ihr wisst, was ihr sagt. " In 5,50f dagegen wird der
Wein ausdrücklich verboten: "Ihr, die ihr glaubt, der Wein,
das Glücksspiel, die Opfersteine und die Lospfeile sind ein Greuel
von Satans Werk. Meidet ihn!" Grundsätzlich
heißt es zu diesen Korrekturen innerhalb des Korans durch Gott
selbst (Abrogationen): "Wenn wir einen Vers tilgen oder in
Vergessenheit geraten lassen, bringen wir einen besseren oder einen,
der ihm gleich ist" (2,106). "Gott löscht und bestätigt,
was er will. Bei ihm ist die Mutter der Schrift" (13,39). So
gelten also bestimmte Sätze des Korans nach wie vor als Gottes Wort
und sind deshalb unverzichtbare Teile der Offenbarung, auch wenn sie
ungültig geworden sind. Die Frage, wie sich diese situationsbedingt
überholten Stücke des Korans mit der
Ewigkeit des himmlischen, ungeschaffenen Buchs vertragen, wird
theologisch nicht erörtert.
Einflüsterungen Satans
Nicht zu verwechseln mit den Abrogationen ist die
Tilgung von Worten der Verkündigung, die der Koran als
"Einflüsterungen des Satans" bewertet: "Wir
entsandten vor dir keinen Gesandten oder Propheten, dem nicht, wenn
er einen Wunsch hegte, der Satan etwas in seinen Wunsch geworfen
hätte. Aber Gott wischt aus, was der Satan wirft. Dann macht Gott
seine Verse eindeutig fest" (22,52; vgl. 7,20). Dies gab den
Titel ab zu Salman Rushdies berüchtigtem Buch "Satanische
Verse". Die Worte, die hier gemeint sind, gehörten also nie
wirklich zum Koran, sondern nur zur Rede des Propheten. Mehrfach
wird er davor gewarnt, nicht zu schnell etwas als Gottes Rede zu
verkünden: " Übereil dich nicht mit dein Koran, bevor er dir
endgültig eingegeben worden ist! " (20, I 13)
Die Redaktion nach dem Tod
Muhammads
Vieles spricht dafür, dass die Verkündigung
Muhammads wenigstens in Teilen schon zu seinen Lebzeiten
aufgezeichnet worden ist. So werden etwa seine Gegner aufgefordert,
sie sollten doch "eine Schrift" beibringen, die besser sei
(28,49). Auch die spätere Überlieferung legt dies nahe: Ibn Ishäq,
der erste Biograph des Propheten aus dem 8. Jahrhundert, erzählt, dass
man bei der Schwester Omars heimlich ein "Blatt" gelesen
habe, auf dem eine Sure stand, und dass einer "für den
Propheten Offenbarungen aufgeschrieben" habe (Ibn Ishaq, Das
Leben des Propheten. Aus dem Arabischen übertragen und bearbeitet
von Gernot Rotter, Tübingen/ Basel 1976, Seite 10). Das umfassende
Buch Koran kommt jedoch erst nach seinem Tod zustande. Eine
herausragende Rolle spricht die Tradition dem dritten Kalifen `Utman
(644656) zu: Er hat durch Muhammads
ehemaligen Sekretär Zayd ibn Täbit die
vorausgehenden Teile sammeln lassen. In muslimischen
Überlieferungen finden sich Hinweise darauf, dass zuvor zwischen
verschiedenen Sammlungen Unterschiede bestanden hatten, die getilgt
wurden. Auch beziehen sich noch spätere islamische Kommentare an
einzelnen Stellen auf Varianten (Vgl. W. M. Watt/A. R. Welch,
178-180, 180-182). Außerdem gibt es Überlieferungen über ganze
Codices mit nichtkanonischen Fassungen; aber diese sind nicht
erhalten.
Gliederung der 114 Suren
Die 114 Suren des Korans sind nach ihrer
unterschiedlichen Länge gegliedert (nicht immer konsequent; die
deutlichste Ausnahme macht die Eröffnungssure, die "Fatiha").
Diese Reihenfolge nach rein äußerlichem Gesichtspunkt brachte es
mit sich, dass die ältesten Suren aus der mekkanischen Phase der
Verkündigung, die durchweg auch die kürzeren sind, am Ende stehen,
die spätesten aus Medina dagegen am Anfang. Manche Suren sind auch
aus verschiedenen Offenbarungsteilen zusammengesetzt. (Viele
muslimische Koranausgaben vermerken bei der Überschrift auch die
jeweilige Herkunft - aus der Zeit in Mekka oder Medina.) -
Theologisch ergibt sich daraus, dass die Endredaktion des Buches
auch nach muslimischer Auffassung nicht das Werk Gottes, noch nicht
einmal das Muhammads ist. Dennoch gilt sie als unveränderlich
festgelegt.
Vieldeutigkeit der arabischen
Schrift
Da die arabische Schrift zur Zeit Muhammads nur
Konsonanten enthielt, war sie prinzipiell vieldeutig (z.B. "qtl"
heißt sowohl "qatala": "er hat getötet" als
auch "qutila": "er wurde getötet"). Zumeist
stellt der Kontext die nötige Eindeutigkeit her (deshalb können
auch in der heutigen arabischen Literatur noch die Texte weitgehend
unvokalisiert geschrieben werden). Darüber hinaus waren in früher
Zeit aber auch die Konsonanten nicht alle eindeutig von einander
zu unterscheiden. Für eine Schrift, die in jedem Lautwert auf Gott
zurückgeführt wird, musste dies auf Dauer ein unbefriedigender
Zustand sein. Deshalb führte man stufenweise Zusatzzeichen zuerst
für die Konsonanten, dann für die Vokale ein (um 700). Dabei
blieben aber Varianten, die man offiziell sieben Lesarten zuordnete,
die in unterschiedlichen Städten benutzt wurden (und dort noch
einmal jeweils in zwei leicht variierenden Versionen). Dies musste
ein theologisches Problem sein; gelegentlich griff man auf eine
Überlieferung zurück: "Muhammad habe gesagt, Gabriel habe ihm
den Koran in sieben ahruf (Versionen) vorgetragen." Heute wird
durchweg nur eine dieser Fassungen benutzt: die von Kufa, die 1923
auf Veranlassung von König Fu'ad I. zur ägyptischen
Standardausgabe gewählt wurde.
Koran ein
homogenes Buch
Insgesamt ist aber der Koran ein erstaunlich
geschlossenes, homogenes Buch - jedenfalls gemessen an der Bibel.
Enthält letztere Schriften aus einem Zeitraum von etwa 1000 Jahren
(mit Traditionen, die eine noch größere Zeit umspannen) und eine
Vielzahl von literarischen Gattungen, so wurden die Teile des Korans
innerhalb von wenig mehr als zwei Jahrzehnten (610-632) durch einen
einzigen Mann verkündet; etwa 20 Jahre nach dessen Tod war das
gesamte Buch in einer Grundschreibweise fixiert, noch einmal 50
Jahre später auch mit Vokalisation. Der biblische Kanon war dagegen
erst um 200 n. Chr. in seinem Hauptbestand, um 400 n. Chr. in all
seinen Schriften festgelegt.
Der literarische Charakter des
Buches
Mit Vorsicht zu nehmen sind die Urteile, die den
Koran in seiner literarischen Gestalt als hohe "Dichtung"
ausgeben. Er gilt zwar Muslimen als ein unnachahmbares und
unüberbietbares Wunder, aber er ist deshalb doch
nicht in der hochstilisierten Kunstform arabischer Poesie gehalten.
Seine Rede ist Prosa, bei der sich die Endsilben der einzelnen Verse
reimen. Dies ist aufgrund der arabischen Grammatik sehr leicht zu
erreichen. Ein rhetorisch eindrucksvolles Phänomen ist es nur bei
den kurzen, vehementen, beschwörungskräftigen Suren der Frühzeit.
Je länger in den medinensischen Suren die Sätze werden, desto
weniger kommt dieser Endreim noch zur Geltung. Dass der Koran als
ganzer ein hohes Sprachkunstwerk sei, ist mehr ein
Glaubensbekenntnis als ein feststellbarer literarischer Tatbestand -
entsprechend zahlreichen Aussagen des Korans über seine
Unnachahmlichkeit: "Wenn ihr im Zweifel seid über das, was wir
auf unseren Diener hinabgesandt haben, dann bringt eine Sure
gleicher Art bei und ruft außer Gott eure Zeugen an, falls ihr die
Wahrheit sagt" (2,23). "Sie sollen doch eine Botschaft
gleicher Art beibringen, falls sie die Wahrheit sagen" (52,34).
Zum literarischen Charakter des Korans gehört auch, dass er (im
großen Unterschied zur Bibel) kaum ausführlich erzählt (die
Josephsgeschichte in Sure 12 ist eine der wenigen Ausnahmen),
sondern weit häufiger nur mit kurzen Anspielungen an Erzählungen
erinnert. Der Koran ist in erster Linie ein Buch der liturgischen
(und rechtlichen) Rezitation des Wortes Gottes. Damit trägt er
einen weit sakraleren Charakter als die Bibel und ist weit mehr als
diese von aller sonstigen Literatur abgehoben.
Anders als die Bibel
Insgesamt ist er also literarisch ein ganz
anderes Buch als die Bibel aufgrund - des
einen Autors (ob nun Muhammad oder Gott), -
der kurzen Zeit seiner Verkündigung zwischen 610-632, also
innerhalb von nur 22 Jahren, - der
geschichtlich und kulturell begrenzten Situation seiner
unmittelbaren Adressaten (obwohl die verschiedenen Phasen der
Verkündigung - vor allem im Unterschied
der Situation von Mekka und Medina - erheblich sind) -
und schließlich der relativen Einheitlichkeit der sakralen Gattung
" verkündigende Anrede ".
Bedeutung der Rezeption
Aber bei allen Beurteilungen
des Korans - von den religiösen und theologischen bis zu den
literarischen geht es dennoch nicht einfach um die Feststellung von
Sachverhalten, die dem Buch von sich allein her schon eigen sind,
sondern immer entscheidend auch darum, wie und als was es in seiner
jeweiligen Lesegemeinschaft aufgenommen wird. Es gibt auch den Koran
in seinem besonderen Charakter nicht ohne die Rezeption - in der
relativ geschlossenen Gemeinschaft der Gläubigen oder unter den
ganz disparaten Voraussetzungen derer, die am Islam interessiert
sind.
Artikel bearbeitet von ORF ON
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