Entwerden und Einswerden mit der Gottheit
Die islamische Mystik, der Sufismus, wuchs organisch aus dem
islamischen Glauben und basiert auf einer asketischen Frömmigkeit
auf dem mystischen Pfad. Diese Bewegung fand Anhänger von
Nordafrika bis zum Iran und nahm bald auch christliche und
gnostische, später auch indische Elemente auf. Orthodoxe,
legalistische Kreise reagierten bisweilen beunruhigt wegen des
lyrischen Überschwangs mystischer Herzensfrömmigkeit. Ziel und
Zentrum islamischer Mystik blieb und bleibt die Erfahrung der
göttlichern Einheit, das tauhid, das
"Einheitsbekenntnis".
Die Geschichte des Sufismus ist der immer neue Versuch, die
Einheit und Einzigkeit Gottes durch die Jahrhunderte zu bezeugen: la
ilaha illa llahu (Es gibt keinen Gott außer Allah); zu bezeugen,
dass wahres Sein, wahre Wirklichkeit/Wahrheit nur dem Einen, dem
Schöpfer des Himmels und der Erde, dem "Ersten und
Letzten" (Koran, Sure 57,3) zukommt, dem Geschöpf bzw. dem
Nicht-Göttlichen dagegen nur Schein - weil vergänglich. Diese
Zeugenschaft für den Einen hat die Gottsucher im Islam dazu
angespornt, durch ständiges Gottgedenken das Herz zu leeren, um so
in ihrem Innersten Raum für diese eine Wirklichkeit/ Wahrheit zu
bereiten, so dass sich die Rückkehr zu ihm erfüllen kann.
Das Gottgedenken im Koran
In vielen Passagen des Korans werden die Gläubigen zum
Gottgedenken aufgefordert. Mit Blick auf die Beter der Wüsten
Arabiens, die in ihrem ständigen Zwiegespräch mit dem Ewigen
Nachtwache halten, heißt es: " Und gedenke des Namens deines
Herrn morgens und abends, wirf dich in der Nacht vor Ihm nieder und
preise Ihn lange zur Nachtzeit" (Sure 76,25-26; vgl. Sure
87,15). Sure 22,40 erwähnt infolgedessen auch die
"Mönchsklausen, Kirchen, Gebetsstätten und Moscheen",
"in denen des Namens Gottes viel gedacht wird", Das
"Gedenken Gottes" erschöpft sich so nicht mit dem
täglich vorgeschriebenen Ritualgebet, vielmehr soll das
"Gedenken Gottes" den Menschen in jedem Augenblick
begleiten und sein Herz ausfüllen, gleichsam als
"Herzensgebet": " Und wenn ihr das Gebet beendet
habt, dann gedenket Gottes im Stehen und Sitzen und auf euren Seiten
liegend. Und wenn ihr Ruhe habt, dann verrichtet das Gebet. Das
Gebet ist für die Gläubigen eine für bestimmte Zeiten
festgesetzte Vorschrift" (Sure 4,103). Hier wird unterschieden
zwischen dem täglichen Pflichtgebet und dem immerwährenden
Gottgedenken, das in jeder Körperhaltung möglich ist und den
Alltag füllen soll. Daher die Forderung: "Und so gedenke des
Namens deines Herrn und widme dich Ihm ganz allein" (Sure
73,8). "Und die ständig in ihren Gebeten verharren" ist
für Rumi (243) ein Hinweis auf das "Gebet im Geiste",
denn "das innere wortlose Gebet der Seele aber ist
ununterbrochen" (Rumi 41).
Ständiges Gottgedenken wird gefordert
Nicht nur der Mensch soll so in ständigem Gedenken Gottes
verweilen, vielmehr ist es auch die gesamte Schöpfung, die auf ihre
je eigene Weise Lobhymnen singt: "Hast du nicht gesehen, dass
(alle) Gott preisen, die in den Himmeln und auf der Erde sind, und
die Vögel mit ausgebreiteten Flügeln? Jeder kennt sein Gebet und
seinen Lobpreis" (Sure 24,41; vgl. Sure 16,49). "Hast du
nicht gesehen, dass sich vor Gott niederwirft, wer in den Himmeln
und wer auf der Erde ist, und (auch) die Sonne, der Mond und die
Sterne, die Berge, die Bäume und die Tiere, und viele von den
Menschen? " (Sure 22,18). Der Koran macht aber auch auf die
Gefahren aufmerksam, die vom immerwährenden Gottgedenken abhalten,
indem der Gläubige nach "dem Schmuck des diesseitigen Lebens
trachtet" und nicht mehr nach "dem Antlitz Gottes
sucht" (Sure 18,28). Im besonderen ist es Satan, der vom
"Gedenken Gottes" abbringen will (vgl. Sure 5,91; Sure
58,19). Die Gläubigen sollen vielmehr Gottes gedenken, denn dann
gedenkt Gott ihrer (Sure 2,152), und so finden "die Herzen im
Gedenken Gottes Ruhe " (Sure 13,28). Das Wesen des
"Gottgedenkens", der vielfältigen dhikr-Übungen (Zungen
oder Herzensdhikr), aber auch des Musikhörens und des Tanzes, wenn
auch von der Orthodoxie verworfen, ist daher, dass sich das Herz
ständig Gottes bewusst ist, das Gegenwärtighaben des Herzens des
Liebenden beim Geliebten.
Der Prophet als Vorbild
Neben diversen alt- und neutestamentlichen Gestalten, die im
Koran als Vorbilder des Gottgedenkens vorgestellt werden, ist es vor
allem das mystische Vorbild des Propheten selbst: "Ihr habt im
Gesandten Gottes ein schönes Vorbild (und zwar) für jeden, der auf
Gott und den Jüngsten Tag hofft und Gottes viel gedenkt"
(Sure33,21). Der Sufismus sieht daher seinen Ursprung im Propheten
selbst, "dem viel Gottes Gedenkenden", der das ihm
geoffenbarte Wort empfangen und es in völliger Reinheit
weitergegeben hat. Seine Himmelsreise (vgl. Sure l7,lff) wurde zum
Urbild des geistigen Aufstiegs des Mystikers, seiner Sehnsucht, in
die unmittelbare Nähe Gottes zu gelangen. Verbürgt doch das
Koranwort diese Nähe: " Und wir sind ihm näher als die
Halsschlagader" (Sure 50,16). Die Schleier und Scheidewände,
die dieser Nähe zwischen der Seele und Gott hinderlich sind, gilt
es zu entfernen, denn Gott wünscht, dass sein Diener seine Nähe
sucht: "Wenn der Knecht sich Mir um eine Spanne nähert, so
nähere Ich mich um eine Elle; wenn er sich Mir um eine Elle
nähert, so nähere Ich mich ihm um einen Klafter; und wenn er zu
Mir im Schritt kommt, so komme Ich zu ihm im Lauf" (h = hadith).
Sehnsucht nach der Nähe Gottes
Die unstillbare Sehnsucht nach dem Urgrund des Seins hat die
Gottsucher zu allen Zeiten angespornt, sich immer wieder
aufzumachen, um den langen und mühevollen Weg zur Nähe Gottes zu
beschreiten. Die Wegstationen (maqam, manzil), die sie auf dieser
Suche nach Gott zurücklegen und die Seelenzustände (hal), die sie
dabei überkommen, sind vielfältig und werden von den einzelnen
Mystikern auch unterschiedlich angegeben. Die klassischen
Sufi-Handbücher - ab dem 10. Jahrhundert - haben diese mystischen
Wegstationen systematisiert, um sie auch den Gläubigen zugänglich
zu machen. Sie sind Voraussetzung dafür, "dass man durch sie
... die Leerung des Herzens vom Nichtgöttlichen gewinnt"
(Gramlich: Ghazzali F.112), d.h. dem Ich und dem Nicht-Göttlichen
zu entwerden und nur noch Gott zu sehen.
Faktoren, die den Weg zu Gott versperren
Ein Grundschema ist hierbei jedoch erkennbar: Umkehr, Reue, Armut
und Gottvertrauen, Zufriedenheit, verschiedene Grade der Liebe. Im
ältesten der klassischen Handbücher über das Sufitum werden die
Sufis (die mit dem Wollgewand) folgendermaßen charakterisiert:
"dass sie lassen, was sie nichts angeht, und jegliche Bindung,
die sich trennend zwischen sie und den Gegenstand ihres Suchens und
Strebens stellt, abschneiden, da sie nichts suchen und erstreben
außer Gott ... dass sie sich mit wenigen diesseitigen Gütern
begnügen, statt viele haben zu wollen, und dass sie mit der
unbedingt notwendigen Nahrung zufrieden sind, sich unter den
irdischen Gebrauchsgegenständen - Kleidung, Lagerstatt, Essen und
anderem - auf das Unerlässliche beschränken, die Armut willig dem
Reichtum vorziehen, das Wenighaben umarmen und das Vielhaben meiden,
den Hunger lieber haben als die Sattheit und lieber wenig als viel,
auf eine hohe und stolze Stellung verzichten, Rang und Namen
preisgeben, Mitgefühl haben mit den Menschen, sich vor klein und
groß erniedrigen [ ...] und sich dem sinnlichen Verlangen
widersetzen, sich von den Lüsten der Seele fernhalten und ihnen
entgegenwirken, da Gott sie als das Böse befehlend beschrieben
hat" (Gramlich: Sarradsch 5.1-2). Freilich benötigt derjenige,
der den mystischen Pfad beschreiten möchte, auch jemanden, der ihn
führt (schaych, pir), ansonsten läuft er Gefahr, vom rechten Weg
abzukommen und sein Ziel nicht zu erreichen.
Der "große dschihad" als
Ausgangspunkt
Der "große dschihad", der ständige Kampf gegen die
Triebseele - "die Seele, die das Böse gebietet" (Sure
12,53) -, bildet den Ausgangspunkt für den Weg der Reinigung.
Während des Weges wacht "die tadelnde Seele" (Sure 75,2)
über die Handlungen des Menschen. Für den Kampf gegen die
Triebseele wird oft das Bild vom "Polieren des
Herzensspiegels" verwendet, ausgehend vom Koranwort:
"Nein, aber das, was sie zu erwerben pflegten, hat sich (wie
Rost) über ihre Herzen gelegt" (83,14). Die Trübung auf der
Spiegeloberfläche gilt es rechtzeitig zu entfernen, ansonsten der
Spiegel nicht mehr poliert werden kann, da der "eingefressene
Rost" so zur Natur der Seele wird (Gramlich: Ghazzali A.47-50).
Ständige Umkehr (Buße, Reue) ist daher für den Wegschreiter und
sein aufsteigen unerlässlich, da sie das Herz reinigt.
Die Bedeutung der Umkehr
Nach Ghazzali ist Umkehr eine "urewige, dem
Menschengeschlecht auferlegte Bestimmung" und gehört so zur
Natur des Menschen - exemplifiziert wird dies am Beispiel Adams und
seiner Frau, die Gott für ihr Vergehen um Verzeihung bitten.
Sünde, nämlich den Wünschen und Begierden der Triebseele
nachzugeben, entfernt vom Geliebten; durch Umkehr und Reue begibt
sich der Sünder wieder auf die Suche nach dem Geliebten und
versucht in seine Nähe zu gelangen. Hat doch der Prophet selbst
gesagt: "Über meinem Herzen liegt ein Schleier, so dass ich
Gott während eines Tages und einer Nacht siebzigmal um Vergebung
bitte" (h). Ghazzali fordert daher wiederum am Beispiel des
Propheten selbst auf, wachsam zu sein und nicht den Betörungen des
Diesseits zu verfallen: "Der Gesandte Gottes ließ sich sein
Schuhband erneuern, und dann schaute er während des Ritualgebetes
darauf, da es neu war. Daraufhin ließ er es herausnehmen und das
abgenützte Schuhband zurückbringen" (Gramlich: Ghazzali
A.5ff).
Pflicht zur Dankbarkeit gegenüber dem Schöpfer
Das Gottvertrauen gründet für den Sufi darin, dass nur der Eine
und Einzige der Handelnde sein kann, derjenige, der als Schöpfer
täglich für die gesamte Schöpfung sorgt: " Und es gibt kein
Tier auf der Erde, ohne dass Gott für seinen Unterhalt sorgen und
seinen Aufenthaltsort und seinen Aufbewahrungsort kennen würde.
Alles steht in einem deutlichen Buch" (Sure 11,6). Da Er der
alleinige Besitzer alles Geschaffenen ist, der Mensch als Geschöpf
aber sein Eigentum ist, resultiert daraus für das Geschöpf die
Haltung der Dankbarkeit gegenüber seinem Schöpfer. Das Diesseits
als Schöpfung Gottes soll daher nur dazu verwendet werden, um ins
Jenseits und so in die Nähe Gottes zu gelangen, denn: "Das
Diesseits ist das Saatfeld für das Jenseits" (h). Ansonsten
wird das Diesseits insgesamt zu "Schleier und Scheidewand"
zwischen Gott und der Seele.
Bedeutungslosigkeit der diesseitigen Welt
Der frühe Sufismus war stark von einer asketischen Haltung
geprägt in Hinblick auf die eschatologischen Ereignisse -
Auferstehung, Gericht, Himmel und Hölle - als Antithese zu dem sich
anhäufenden Reichtum in den Städten, bedingt durch die enorme
politische Ausbreitung des Islams; aber auch als Antithese zu der
damit im Zusammenhang stehenden Veräußerlichung der Frömmigkeit
auf Kosten des inneren Aspektes. Daher fragt al-Hasan al-Basri,
einer der frühen Asketen (+ 728): "Warum sollte man sich so
viel um diese verderbliche Welt kümmern? Sei mit dieser Welt, als
ob du nie da gewesen wärest, und mit dem Jenseits, als ob du es nie
verlassen würdest." Das sich ständige Bewusst machen der
Schrecken des Gerichtstages hat nicht nur zu manchen Übertreibungen
in der asketischen Praxis geführt, sondern insgesamt auch zur
Verachtung der Welt. Für Ghazzali, der im 12. Jahrhundert einen
gemäßigten Sufismus vertritt, besteht die Vollkommenheit
bezüglich des Zustandes von Armut und Verzicht darin, "dass
das Herz sich weder in Hass noch in Liebe etwas anderem als dem
Geliebten zuwendet".
Neutrale Haltung ist die Beste
Somit ist klar, dass unter Verzicht auf das Diesseits gemeint
ist, weder ein Verlangen, es zu haben, noch ein Verlangen, es nicht
zu haben; die höchste Vollkommenheit ist also eine neutrale
Haltung: denn so wie der Reichtum zu den Ablenkungen zählen kann,
so auch die Armut (Gramlich: Ghazzali D.7ff). Verzicht auf das
Diesseits, auf Besitz, auf Ansehen und auf alle diesseitigen Güter
reinigt daher das Herz von allem Nichtgöttlichen, so dass es weit
wird und sich die Gotteserkenntnis und die Gottesliebe hineinsenken
können. Verschiedene Haltungen zum Diesseits haben zumindest zwei
Typen von Mystikern hervortreten lassen, den asketischen und den
kontemplativen; wie aber spätere Mystiker betonen, ist Askese ohne
Kontemplation ebenso unmöglich wie Kontemplation ohne Askese.
Vom Wesen der Liebe
Die Kritik der Sufis an der orthodoxen islamischen Haltung, die
sich auf das Äußere beschränke und so die innere Haltung
vernachlässige, wurde vor allem auch in Hinblick auf den Aspekt
Liebe, Sehnsucht und Zufriedenheit vorgebracht. Liebe bestehe nicht
nur aus Gehorsamsleistungen, diesen entspreche gleichzeitig auch
eine innere Haltung gemäß dem Koranwort: "Er liebt sie und
sie lieben ihn" (Sure 5,54). Nach `Amr b `Uthman al-Makki
(9.Jh.) gehören drei Wirklichkeiten zum Wesen der Liebe des Sufi:
"das ständige Denken an den Geliebten, das Verlangen nach der
Begegnung mit ihm ... und die Freude beim Gedanken an ihn."
Diese bewirken im Laufe der Zeit die "Liebesleidenschaft",
"das Brennen ob der Abwesenheit des Geliebten und den Schmerz
ob der Sehnsucht nach der Begegnung" (Gramlich: Vorbilder 376).
Gott kann nur durch Gott selbst erklärt werden
Nach Ghazzali ist Gottes Liebe zum Menschen nur in einem
übertragenen Sinn denkbar; gemeint ist nämlich, dass Gott den
Schleier vom Herzen des Menschen nimmt und ihn so seiner Nähe
befähigt, "so dass er ihn anschauen kann, als sähe er ihn mit
seinem Herzen" (Gramlich: Ghazzali F.174). Dagegen ist die
Liebe des Menschen zu Gott Wirklichkeit. Die Sufis wussten aber,
dass Liebe ohne Erkenntnis nicht möglich ist. Wenn auch das
Verhältnis zwischen Liebe und Erkenntnis (des göttlichen
Mysteriums) im Laufe der Zeit unterschiedlich interpretiert wurde
(vgl. voluntaristischer und gnostischer bzw. theosophischer Typ), so
war den Sufis durchaus bewusst, dass Gott nur durch Gott selbst
erkannt werden kann: "Nur Gott führt zu Gott". "Vom
Wissen der Erkenntnis kannst du den alleräußersten Rand erst
erreichen, nachdem du dich auf dem Weg zu Gott in sieben Meere
gestürzt hast, schlimmer als Feuer, Meer nach Meer. Vielleicht
gewinnst du danach die ersten Anfangsgründe der Erkenntnis"
(Gramlich: Vorbilder 390).
Der Begriff der selbstlosen Liebe
Rabi'a al-Adawiya (+ 801 ) war es, die in das asketische Weltbild
der frühen Gottsucher den Begriff der "selbstlosen Liebe"
eingeführt hat. Sie diente Gott allein aus Liebe. Als sie einmal
gefragt wurde, was die Wirklichkeit ihres Glaubens sei, antwortete
sie: "Ich diene Gott nicht aus Furcht vor seinem Höllenfeuer
und nicht aus Liebe zu seinem Paradies, so dass ich einem schlechten
Lohnarbeiter gliche, sondern ich diene ihm aus Liebe zu ihm und aus
Sehnsucht nach ihm" (Gramlich: Ghazzali F.87). Ja sogar die
Freude an der Natur muss der Gott-Liebende nach Rabi'a aus seinem
Herzen verbannen. Andere jedoch haben gerade wieder in der Natur
auch die Bezeugung der Einheit und Einzigkeit Gottes gefunden.
Fortschreitende Nähe zu Gott durch Annehmen
seiner Eigenschaften
Unter diversen Aspekten haben die Sufis ihre mystischen
Erfahrungen zum Ausdruck gebracht: "Vertrautheit",
"Nähe", "Sehnsucht" und
"Zufriedenheit" mit ihren unterschiedlichen Graden und
Stufen. Ein beliebtes Modell war jenes der "Nähe der
Attribute", in dem der Mystiker sich immer mehr mit den
Eigenschaften Gottes bekleidet und so sich immer mehr ihm nähert (voluntaristischer
Typ). Ein hadith qudsi (heiliges hadith) verbürgt diese Sicht:
"Mein Knecht nähert sich Mir solange mit freiwilligen Werken,
bis Ich ihn liebe, und wenn Ich ihn liebe, dann bin Ich das Gehör,
mit dem er hört, das Gesicht, mit dem er sieht, die Hand, mit der
er greift, und der Fuß, mit dem er geht. Wenn er Mich um etwas
bittet, so gebe Ich es ihm ..."
Leiden und Liebe gehören zusammen
Untrennbar mit der Liebe verbunden sind das Leid, das sich aus
der ungestillten Sehnsucht nährt, und der Schmerz, der aus dem
Getrenntsein entsteht. Liebe verwirklicht sich im Leiden. Für Rumi
ist die Suche nach dem Geliebten mit Leiden und Schmerzen verbunden,
denn man muss dieser Welt absterben, man muss sein Ich diesem
erhabenen Ziele opfern. In vielen Sinnbildern macht er dies
deutlich: Das Rohe muss gekocht werden, die Nussschale muss
zerbrochen werden, damit der Kern erlöst wird, der das kostbare Öl
in sich trägt, das Brot muss zerkaut werden usw. In der
Liebesmystik hat sich sodann auch der Gedanke ausgeprägt, dass Gott
den plagt, den er liebt, dass also das Leiden ein Zeichen von Gottes
Liebe ist. Der wahre Liebende scheut sich daher nicht, sein Leben
für den Geliebten hinzugeben, ist doch der Tod dem Liebenden die
Brücke, die ihn zum Geliebten führt. So ruft al-Halladsch, der
Märtyrer der Gottesliebe, der 922 in Bagdad wegen angeblicher
Ketzerei grausamst hingerichtet wurde, seinen Freunden zu:
"Tötet mich, o meine Freunde, denn im Tod nur liegt mein Leben
..." (Schimmel 107; 197f).
Liebender und Geliebter sind eins
In späterer Zeit hat sich die Vorstellung entwickelt, dass Gott
sich selbst genügend ist, sich selber liebt. Gott hat die Welt bzw.
den Menschen geschaffen nach seiner Gestalt als einen Spiegel, in
dem er sich selber liebt - eine Vorstellung, die der älteren
islamischen Mystik noch fremd ist, denn im Koran findet sich
nirgends die Aussage, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde
geschaffen habe. Liebe Gottes und Liebe des Menschen, diese Zweiheit
ist nur Schein, denn alle Liebe gehört zum Wesen Gottes, wie ja
auch Gott das eigentliche Sein zukommt! Letztendlich bedeutet dies,
dass Liebender und Geliebter (in der persischen Bildersprache ist
dies der Wein, der Trinkende und der Schenke) im Grunde eins sind:
Der Gott Liebende sehnt sich danach, Gott zu sehen. Auf seiner
Wanderung sucht er daher ständig nach dem Antlitz Gottes; dieses im
Jenseits zu schauen ist für ihn die höchste, ja die einzige
Paradiesesfreude: "Eines Tages schaute ich in das Licht und
schaute ständig hinein, bis ich dieses Licht wurde" (Gramlich:
Vorbilder 419). Sure 13,39 wird in diesem Sinne verstanden: "
Gott tilgt, was Er will, und Er gibt Bestand".
Ziel der Ich-Losigkeit
Da der Sufi weiß, dass alle seine Gedanken, alles Sehnen, Hoffen
und Lieben nicht sein eigenes Werk sind, sondern göttliches Wirken,
göttliches Geschenk, bezeichnet "Entwerden (fana') im
Einheitsglauben", dass jemand im Sein nur eines sieht, nämlich
Gott. "Denn insofern einer nur eines sieht, sieht er auch sein
Ich nicht, und wenn er sein Ich nicht sieht, weil er im
Einheitsglauben versunken ist, entwird er seinem Ich in seinem
Einheitsglauben in dem Sinn, dass er sich und die Geschöpfe nicht
mehr sieht." Am Ende sieht er das Ganze, "nicht insofern
es vieles, sondern insofern es eines ist." (Gramlich: Ghazzali
E.12). Für die Mystiker ist fana' zunächst ein rein ethischer
Begriff, der "Selbstlosigkeit" meint. Das "Ich-los-Sein",
das nicht "Ich" sagen, wie es der persische Erzähler und
Mystiker `Attar fordert (Ritter 577), ist Vorbedingung für das
eigentliche Entwerden mit seinen verschiedenen Stufen, nämlich das
Entwerden in der Existenz Gottes, denn es weist dem Ich jene
Stellung zu, die ihm im Reigen des Geschöpflichen zukommt.
Letztlich bleibt nur Gott
Der Mensch entwird seinen Eigenschaften, indem er eben Gottes
Eigenschaften annimmt. In diesem Sinne meine auch der Ausspruch von
al-Halladsch "Ich bin die Wahrheit/Wirklichkeit" (= Ich
bin Gott - ana l-haqq), der von Seiten der Orthodoxie als häretisch
angesehen wurde, nach Rumi: "`Ich bin entworden, Gott allein
ist geblieben'. Das kommt aus überaus großer Demut und äußerstem
Bewusstsein vom Dienerstand, denn es bedeutet 'Nur Er ist' - das ist
alles. Arrogante Prätention ist es, zu sagen `Du bist Gott, und ich
bin Diener'. Denn dann hast du auch deine eigene Existenz
bestätigt, und notwendigerweise folgt Dualität". Also nicht
al-Halladsch hat gesagt "Ich bin Gott", vielmehr waren es
Gottes Worte (Rumi 310).
Metapher eines sich in die Flamme stürzenden
Vogels
Das immerwährende "Gottgedenken" soll das
Ich-Bewusstsein durch das Bewusstsein von Gott ersetzen:
"Sterbt, bevor ihr sterbt" lautet eine Aufforderung des
Propheten. Al-Halladsch veranschaulicht die letzte Stufe des
Entwerdens, nämlich "das Entwerden von der Schau des
Entwerdens", das Untergehen in der Existenz Gottes, den
"mystischen Todessprung", die radikale Selbstaufgabe
anhand des Sinnbildes vom Falter, der sich in die Flamme stürzt;
denn der "Schauende" und der "Geschaute" haben
sich nun gefunden. `Attar verwendet für diesen Vorgang des
Entwerdens verschiedene Bilder: das Untergehen in Gott ist wie das
Verschwinden des Schattens in der Sonne. In seinem Epos "die
Vogelgespräche" begeben sich dreißig Vögel auf die Reise, um
den König der Vögel, den Simurgh, zu finden. Als die Vögel
endgültig im Simurgh auf gehen, heißt es: "Sie wurden in Ihm
vernichtet für immer. Ein Schatten ging in der Sonne verloren, und
das war das Ende" (Ritter 591 ff). Ein weiteres Bild ist das
Aufgehen des Tropfens im Meer. Das, worin man entworden ist, sein
"Ich" verloren hat, ist zugleich auch das, worin man
weiterbesteht, worin man sein neues "Ich" findet.
Einswerdung als Zustand der vollendeten Liebe
Diese Bilder verdeutlichen daher die Aufhebung der Zweiheit und
die Einswerdung von Gott und Mensch. Dies ist der Zustand der
vollendeten Liebe: "Verschwunden sind seine Namen auf Erden und
im Himmel, vernichtet sein Herkunftsname und seine religiösen und
diesseitigen Zustände, getilgt seine Eigenschaften, geraubt ist
sein Leben, abgebrochen sind seine Atemzüge, verwischt seine Spuren
ohne das Gestorbensein der Toten und ohne das Weiterleben der
Lebenden. Es gibt keinen Namen mehr für das Entwordensein, keinen
Namen für das Bestehen, keinen Namen für das Bestehen eines im
Entwordensein Bestehenden, nur noch (den Namen): der Eine,
Einzige" (Gramlich: Vorbilder 376).
Begriffe für die Vereinigung
Durch das Finden und Gefundenwerden (wadschd/wudschud) des
vermissten Geliebten kann der Mystiker in ekstatische Entzückung (wadschd/
wudschud) entrückt werden, in der Schauender und Geschauter sich
schauen. Der Begriff ittihad (Einigung), mit dem die Sufis das Ziel
ihres Suchens angeben, ist freilich von der Orthodoxie im Sinne von
zwei Wesen interpretiert und daher als Häresie verworfen worden.
Der Begriff fana' dagegen, das Entwerden des Mystikers in der
göttlichen Gegenwart, weist für die Deutung dieser mystischen
Erfahrung die richtige Spur. Ähnlich auch dürfte Ibn `Arabis
"wahdat al-wudschud" (die Einheit des Seins) im Sinne des
bereits Ausgefiihrten zu verstehen sein, dass nämlich alles seine
Existenz dadurch erhält, dass es von Gott gefunden wird; also nicht
im Sinne einer existentiellen Einheit des Schöpfers mit seinem
Geschöpf (vgl. Pantheismus), sondern vielmehr im Sinne der Einheit
mit seinen Attributen (vgl. Schimmel 209). Sarradsch hat in seinem
Handbuch "Schlaglichter über das Sufitum" bereits die
ganze Problematik der Missdeutung des Einheitsbekenntnisses bei den
Sufis erkannt - denken wir auch an den Vorwurf des Pantheismus -,
wenn er sagt, dass es bei den Sufis noch eine andere Sprache gibt,
nämlich die "Erfahrungssprache". "Was sie in dieser
Hinsicht andeuten, kann man kaum verstehen ... Diese Wissenschaft
ist ja zum größten Teil ein Hinweisen, das den Eingeweihten nicht
verborgen ist. Wenn man aber anfängt, sie zu erläutern und in
klare Worte zu fassen, verbirgt sie sich und ihr Glanz
schwindet." (Gramlich: Sarradsch 15.7).
Das Nichtsein ist Ziel des Mystikers
Das Nichtsein, das sich der Mystiker zum Ziele gesetzt hat, ist
die Negation seines konkreten Daseins, das ihm durch Zeugung und
Geburt zugekommen ist. Dieses nachgeburtliche Dasein muss abgebaut
werden, am Ende muss man dort stehen, wo man vor dem Anfang war:
"die Rückkehr zum Anfang". In diesem Endzustand ist der
Mensch wie im vorgeburtlichen Urzustand, frei vom eigenen Dasein,
nur durch Gottes Dasein für ihn da. Eine Schlüsselstelle für
diese Sicht bildet Sure 7,172, der Urvertrag oder der urzeitliche
Bund Gottes mit den präexistenten, bei Gott weilenden Seelen:
"Und als dein Herr aus den Lenden der Kinder Adams ihre
Nachkommenschaft nahm und gegen sich selbst zeugen ließ: `Bin ich
nicht euer Herr?' Sie sagten: ‚Jawohl, wir bezeugen es' (schahid-na)."
Der Mystiker hat nun jenen "Urzustand" jenseits von Raum
und Zeit erreicht, wo alle Zweiheit und alle Gegensätze
ausgelöscht sind. Mitte seiner Persönlichkeit ist nicht mehr das,
was er früher einmal Ich genannt hatte, sondern ein neues Ich, eben
das urzeitliche Ich bei Gott, das zuvor in seinen Tiefen
verschüttet lag, jetzt aber als sein eigentliches Ich zum Zentrum
seines Bewusstseins geworden ist. Somit hat der Sufi das
Einheitsbekenntnis realisiert, von dem Ghazzali sagt: Wer immer die
Welt betrachtet, "insofern sie Gottes Werk ist, und sie
erkennt, insofern sie Gottes Werk ist, und sie liebt, insofern sie
Gottes Werk ist, der sieht nur auf Gott, erkennt nur durch Gott und
liebt nur Gott. Er ist der wahre Einheitsbekenner (Monotheist), der
nur Gott sieht und selbst sein eigenes Ich nicht als solches,
sondern als Diener Gottes vor Augen hat. Das ist der, von dem man
sagt: 'Er ist im Einheitsbekenntnis entworden'" (Gramlich:
Ghazzali F.139).
Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn
|