Fachartikel

Zum Integrationsstand der muslimischen Ausländer in Deutschland

Von Thomas Lemmen (Biografie)

 

Infolge von Anwerbevereinbarungen kamen in den sechziger Jahren zahlreiche ausländische Arbeitnehmer islamischen Glaubens in die Bundesrepublik Deutschland. Neben vielen muslimischen Arbeitnehmern waren dies seit Ende der siebziger Jahre auch zahlreiche Asylanten und Bürgerkriegsflüchtlinge, zuletzt Anfang der neunziger Jahre aus Bosnien-Herzegowina. Die Gesamtzahl der Muslime in Deutschland wird heute auf rund drei Millionen geschätzt und anders als in Österreich ist der Islam staatlich nicht anerkannt. Zur Integration von Muslimen und deren religiösen Belangen gibt es nach wie vor nur begrenzt taugliche Konzepte.

Eine zuverlässige Angabe der Gesamtzahl der muslimischen Wohnbevölkerung in Deutschland ist nicht möglich, da erstens Ausländer nicht nach ihrer Religionszugehörigkeit im Ausländerzentralregister erfasst werden und zweitens die kommunalen Meldebehörden Muslime unter der Rubrik "Verschiedene" führen.

Zahl der Muslime in Deutschland

Berücksichtigt man die Hauptherkunftsländer der Muslime, um eine ungefähre Zahl zu ermitteln, so ergibt sich nach dem Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Ausländer vom 29.11.1995 folgendes Bild: Ende 1994 waren von rund 7 Millionen Ausländern im Bundesgebiet etwa 2 Millionen Türken, 250.000 Bosnier, 104.000 Iraner, 82.000 Marokkaner, 54.000 Libanesen und 51.000 Afghanen. Demzufolge lässt sich die Gesamtzahl der Muslime zum damaligen Zeitpunkt auf 2,7 Millionen Personen schätzen. Bei diesen Zahlen ist aber zu berücksichtigen, dass nicht jeder Türke Muslim ist, wie es auch Christen unter Bosniern, Iranern und Libanesen sowie Hindus unter Afghanen gibt. Diese Zahlenspiele und die damit verbundenen Unsicherheiten machen eines deutlich: Die Frage der islamischen Präsenz in Deutschland wird bislang von einem eher ausländerpolitischen Blickwinkel aus betrachtet als von einem religiösen.

Frage des Islam ist keine reine Ausländerfrage

Islam in Deutschland wird wie eine eben Ausländer betreffende Angelegenheit verstanden. Diese Sichtweise ist meines Erachtens aus folgenden Gründen nicht zutreffend: l. Ein hoher Anteil der muslimischen Ausländer lebt bereits sehr lange in Deutschland und besitzt einen gesicherten Aufenthaltsstatus (ohne zeitliche Einschränkung). Nach dem Bericht der Bundesausländerbeauftragten lebten Ende 1994 543.000 Türken mehr als 20 Jahre in Deutschland, und 986.000 Türken waren im Besitz eines dauerhaften Aufenthaltsstatus. Die meisten muslimischen Kinder und Jugendlichen sind in Deutschland geboren und aufgewachsen. Die meiste Zeit ihres Lebens haben sie in Deutschland verbracht, wo auch ihre Sozialisation stattfindet. Statistisch werden sie als Ausländer registriert, obwohl sie in Wirklichkeit Kinder und Jugendliche dieses Landes sind. 3. Die Zahl der Einbürgerungen, auch der muslimischen Ausländer, nimmt beständig zu. Diese Beobachtungen lassen mich die l. These formulieren: Der Islam wird eine dauerhafte Realität im religiösen und gesellschaftlichen Kontext der BRD darstellen und keine vorübergehende Erscheinung im Zusammenhang der Ein- und Auswanderung von Ausländern sein.

Organisationsformen der Muslime in Deutschland

Anders als das Christentum kennt der Islam keine kirchenähnlichen Strukturen und Organisationsformen, sondern nur die alle Muslime umfassende islamische Gemeinschaft, die "umma", die alle Muslime im gemeinsamen Bekenntnis und der Ausübung ihrer religiösen Pflichten eint. Die Erfahrung einer Diaspora wirkte für die eingewanderten Muslime befremdlich. Die geschlossene, vom Islam geprägte Umwelt, fehlte hier und die gewohnte Glaubenspraxis ließ sich nur schwer verwirklichen. So kam es zur Herausbildung von islamischen Organisationsformen und strukturen bereits durch die erste Generation der eingewanderten Muslime - also zu einem für sie eigentlich unbekannten Phänomen. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch die Tatsache, dass der Islam in Deutschland (anders als in Österreich) nicht staatlich anerkannt ist und muslimische Gemeinschaften bisher nicht den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts nach Art. 140 des Grundgesetzes (GG) erwerben und die damit verbundenen Rechte genießen konnten. Zur Wahrung der religiösen Interessen und zur Ausübung der religiösen Pflichten entstanden ab Anfang der siebziger Jahre eine Vielzahl von Moscheegemeinden, Vereinen und Verbänden. In der Regel wählten sie die Rechtsform eines eingetragenen Vereins (e.V) nach dem deutschen Vereinsrecht. Die meisten Moscheen und örtlichen Vereine gehören zu einem der großen Verbände. In letzter Zeit kam es weiter durch Zusammenschlüsse zu Spitzenverbänden. Im folgenden sollen daher die großen Einzelverbände und die Spitzenverbände kurz dargestellt werden.

Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ)

1973 wurde das Islamische Kulturzentrum (IKZ) mit Sitz in Köln gegründet, das aus der Türkischen Union hervorging und 1980 in Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) umbenannt wurde. Ihm entspricht in Österreich die Union Österreichischer Islamischer Kulturzentren. Der Verband mit Hauptsitz in Köln unterhält nach eigenen Angaben im Bundesgebiet insgesamt mehr als 300 Niederlassungen mit rund 20.000 Mitgliedern. Neben der religiösen Betreuung der türkischen Muslime fühlt sich der Verband in besonderer Weise der religiösen Bildung von Kindern und Jugendlichen verpflichtet und führt in seinen Gemeinden zahlreiche Korankurse durch. Er steht damit in der Tradition einer religiösen Bewegung, die im Widerstand zum kemalistischen Laizismus in der Türkei entstand und sich die religiöse Ausbildung der Jugend durch Korankurse zum Ziel setzte. In Deutschland unterhält der Verband zahlreiche und intensive Kontakte zu Kirchen und gesellschaftlichen Gruppen und gehört zu den Gründungsmitgliedern des Zentralrates der Muslime in Deutschland.

Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG)

2. Ebenfalls in Köln wurde 1976 die Türkische Union Europa gegründet (heute: Islamische Union Europa), aus der 1985 die Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa (AMGT) hervorging, die sich seit 1995 Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) nennt. Hierbei handelt es sich um einen türkisch-islamischen Verband, der in direkter Nähe zur damaligen Nationalen Heilspartei (MSP), der nunmehr verbotenen Wohlfahrtspartei (Refah-Partei) von Necmettin Erbakan steht. Der Verband hat nach eigenen Angaben europaweit 35.000 Mitglieder und in Deutschland 271 Ortsvereine. Es ist davon auszugehen, dass Milli Görüs heute die größte nichtstaatliche türkisch-islamische Vereinigung in Deutschland ist. Wie bei den anderen Verbänden bezieht sich die Mitgliederzahl nur auf eingetragene Mitglieder, so dass deren Familienangehörige hinzuzurechnen sind. Viele von Milli Görüs direkt oder indirekt abhängige Organisationen treten zudem unter einem rechtlich gesonderten Status auf. 1994/95 kam es zu einer Neuorganisation des Verbandes, und seither gibt es zwei Rechtsträger: l. Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) zur seelsorglichen und sozialen Betreuung und 2. Europäische Moscheebau und Unterstützungs-Gemeinschaft (EMUG) zur wirtschaftlichen und finanziellen Verwaltung. Der erstgenannte Verband ist führendes Mitglied des Islamrates.

Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB)

Als Antwort auf die Gründung von nichtstaatlichen türkisch-islamischen Organisationen im Ausland, die sich um die religiös-sozialen Belange der türkischen Immigranten kümmerten, wurde 1982 in Berlin und 1984 in Köln die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) gegründet. Hierbei handelt es sich um die Auslandsorganisation des Präsidiums für Religionsangelegenheiten der Türkischen Republik (DIYANET) in Ankara. Damit ist die Ausrichtung des Verbandes eindeutig: DITIB vertritt die offizielle türkische Religionspolitik unter den Türken im Ausland, nämlich das laizistische Prinzip einer Trennung von Religion und Politik, bei gleichzeitiger Kontrolle der Religion durch den Staat.

Unterschiede in den Organisationsstrukturen

Die Organisationsstruktur von DITIB unterscheidet sich von den beiden vorherigen Verbänden. Die jeweiligen Ortsvereine sind rechtlich eigenständig, haben sich aber der Zentrale in Köln angeschlossen und ihr in vielen Fällen ihren Grundbesitz übertragen. Sie bekommen von DITIB einen Religionsgelehrten als Vorbeter für die Dauer von jeweils fünf Jahren gestellt, der als Beamter vom türkischen Staat entsandt und bezahlt wird. Nach eigenen Angaben waren 1993 414 Religionsgelehrte in Deutschland und 27 in Österreich tätig. Die Religionsbeauftragten der jeweiligen Konsulate und der Botschaft vertreten die Interessen des türkischen Staates gegenüber den Ortsvereinen. Obwohl DITIB mit insgesamt 740 Vereinen und etwa 90.000 Mitgliedern die zahlenmäßig größte Organisation darstellt, kann sie nicht als die einflussreichste gelten. Dies hat mit ihrer Struktur zu tun und damit, dass sich in den einzelnen Vereinen selbst heterogene Kräfte zusammenfinden. Es ist anzunehmen, dass bei den beiden vorherigen Verbänden eine intensivere Bindung der Mitglieder an die Zentralen besteht als bei DIT1B. Als Einrichtung des türkischen Staates versucht DITIB dessen Interessen unter den türkischen Landsleuten in Deutschland zu vertreten und ist aufgrund dieser Rückbindung weder Mitglied im Islamrat noch im Zentralrat. Neben diesen drei türkisch-islamischen Verbänden in Deutschland gibt es noch eine Reihe weiterer Verbände. Alles in allem kann daher mit rund 200.000 Mitgliedern in türkisch-islamischen Verbänden in Deutschland gerechnet werden.

Seit den achtziger Jahren Tendenz zu Zusammenschluss von Verbänden

Seit Mitte der achtziger Jahre ist innerhalb dieser Organisationsstrukturen ein neues Phänomen zu beobachten, nämlich der Zusammenschluss von Verbänden und Vereinen zu Spitzenverbänden. Für diese Entwicklung war die Einsicht maßgeblich, dass die Durchsetzung gemeinsamer Interessen allzu oft an der Uneinigkeit und Differenzierung der Verbände scheiterte, die öffentliche Meinung aber verbindliche Ansprechpartner fordert. Im Bewusstsein und mit der Absicht, gegenüber Staat, Parteien und Kirchen gemeinsam aufzutreten und einen verbindlichen Gesprächspartner abzugeben, kam es zum Zusammenschluss verschiedener Verbände und Vereine. Im November 1986 wurde der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland gegründet, der derzeit aus 32 Einzelorganisationen besteht. Sehr schnell zeigte sich aber, dass es aufgrund interner Spannungen und Auseinandersetzungen nicht möglich war, alle Verbände unter einem Dach zu sammeln. Mit der Zeit kam es daher zu einer erneuten Differenzierung, die mit dem Austritt des VIKZ 1988 aus dem Islamrat und einer stärkeren Einflussnahme der heutigen IGMG einherging und im November 1994 zur Gründung einer zweiten Dachorganisation führte, dem Zentralrat der Muslime in Deutschland. Der Zentralrat besteht derzeit aus 19 Mitgliedsorganisationen, wozu auch mehrere nichttürkische Verbände gehören.

Notwendigkeit der Ausbildung eines deutschen Islam

Neben den beiden genannten Zusammenschlüssen steht unabhängig davon DITIB, die aufgrund ihrer Rückbindung an den türkischen Staat weder im Islamrat noch im Zentralrat vertreten sein kann. Somit gibt es im gesellschaftlichen Kontext der BRD derzeit drei islamische Spitzenverbände.

Diese Analyse der komplexen Organisationsformen lässt mich abschließend meine 2. These formulieren: Aus einer inneren Notwendigkeit heraus haben sich türkische Muslime in Deutschland organisiert. Die offenkundige Rückbindung an Strukturen in der Heimat behindert dabei die gesellschaftliche Integration der Muslime in Deutschland. Die Differenzierung in zu viele Organisationen erschwert die Durchsetzung gemeinsamer Interessen. Was notwendig ist, ist die Ausbildung eines deutschen Islams, der ein gleichberechtigter Teil der pluralistischen Gesellschaft wird, wozu eine Abkoppelung von heimatlichen Strukturen und eine innerislamische Einigung erforderlich ist.

Der Integrationsbegriff

Es gibt wohl kaum einen Begriff in der aktuellen ausländerpolitischen Diskussion, der so vieldeutig und zugleich missverständlich ist wie der Begriff der Integration. Nach meinem Dafürhalten ist Integration als ein gegenseitig verlaufender Prozess, als ein interaktives Geschehen zwischen Fremden und Einheimischen zu verstehen, unter Voraussetzung und Berücksichtigung der jeweiligen Identitäten, mit dem Ziel eines besseren gesellschaftlichen Zusammenlebens. Wenn aber die Frage der islamischen Präsenz in Deutschland allein vom ausländerpolitischen Standpunkt aus wahrgenommen wird, dann hat das zur Folge, dass Integrationspolitik und Integrationskonzepte von dieser Voraussetzung ausgehen, vom Ausländer-Sein und nicht von der religiösen Identität - vom Muslim-Sein - her konzipiert werden.

Maßnahmen zur Integration

Seit langem werden staatlicherseits intensive Bemühungen zur gesellschaftlichen Integration von Ausländern im Bundesgebiet getroffen. Hierbei ist an Maßnahmen zur Aneignung der deutschen Sprache, die vom Sprachverband in Mainz gefördert werden, an Berufsvorbereitungs- und Berufsausbildungsprogramme der Bundesanstalt für Arbeit sowie an die Sozialberatung für Ausländer durch die Wohlfahrtsverbände zu denken. Zusätzlich werden in letzter Zeit Programme und Maßnahmen zur Betreuung und Pflege alter Ausländer entwickelt. Diese Maßnahmen sind meines Erachtens alle von einem Defizit gekennzeichnet; nämlich davon, dass die religiöse Dimension der muslimischen Ausländer dabei weitgehend außer acht gelassen wird. Dies wird gerade im Bereich der Ausländersozialberatung deutlich. Nach einer Bund-Länder-Vereinbarung ist die Zuständigkeit für bestimmte Volksgruppen auf die einzelnen Wohlfahrtsverbände aufgeteilt. Demnach ist der Caritasverband für katholische Arbeitnehmer aus Portugal, Spanien, Italien, Slowenien und Kroatien zuständig, das Diakonische Werk für orthodoxe Arbeitnehmer aus Griechenland und dem ehemaligen Jugoslawien und die Arbeiterwohlfahrt für muslimische Arbeitnehmer aus der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien.

Islamische Identität muss ernst genommen werden

Bei der Arbeiterwohlfahrt handelt es sich um einen weltanschaulich neutralen Verband, bei dem oftmals - wie beim Internationalen Bund für Sozialarbeit - religiös ungebundene Türken und Kurden tätig sind. Damit ich nicht missverstanden werde: gerade die Arbeiterwohlfahrt hat in ihrem Sozialdienst Türk Danis viel für Türken getan, aber gerade die religiöse Dimension spielt aufgrund des Selbstverständnisses dieses Wohlfahrtsverbandes dabei keine Rolle. Das aber führt dazu, dass muslimische Ausländer sich in einem wesentlichen Teil ihres Selbstverständnisses nicht ernst genommen fühlen. Meine 3. These lautet daher: Solange die verschiedenen Integrationsmaßnahmen im Kindergartenbereich, in der Schule, in der Mädchen- und Frauenarbeit und in der Altenarbeit nicht die spezielle islamische Identität ernst nehmen, kann von ihnen keine positive Wirkung auf das Integrationsgeschehen der Muslime erwartet werden.

Assimilation statt Integration ?

Von vielen muslimischen Ausländern wird Integration mitunter mit Assimilation verwechselt. Es entsteht für sie der Eindruck, dass durch die dargestellten Integrationsmaßnahmen ein Druck zur Anpassung an die deutsche Gesellschaft ausgeübt wird, der in einem Verlust der eigenen Identität und der Annahme der deutschen Identität besteht. Dabei kommt gerade ihrer religiösen Identität in der Fremde eine identitätsstabilisierende Funktion zu, da sich das Türke-Sein über das Muslim-Sein und umgekehrt definiert. Der Islam als normatives Verhaltenssystem aber formuliert Verhaltensregeln und -strukturen, die der Identitätswahrung in der Diaspora dienen. Eine ungenügende Berücksichtigung dieser Identität oder gar ein Angriff darauf führt dazu, dass sie sich in diese spezifische Identität zurückziehen und gegenüber der deutschen Gesellschaft abgrenzen.

Schwierige Situation für muslimische Kinder und Jugendliche

Gerade die heranwachsende Generation der muslimischen Kinder und Jugendlichen lebt in einer schwierigen Situation, die oftmals als Kulturkonflikt oder als "das Stehen zwischen zwei Stühlen" charakterisiert wird, da sich ihre Sozialisation im Spannungsfeld zwischen den Wertvorstellungen der deutschen Gesellschaft einerseits und denen der muslimischen Familie andererseits vollzieht. Es geht um den schwierigen Prozess einer stabilen Identitätsfindung angesichts divergierender Normen und Werte. Erschwerend kommt hinzu, dass unter ihnen die Zahl der Schulabgänger ohne Schulabschluss und der Arbeitslosen ohne Berufsausbildung am höchsten ist. Daher verwundert es nicht, dass viele von ihnen angesichts von Orientierungs- und Perspektivenlosigkeit Halt bei nationalistischen oder islamistischen Gruppierungen suchen, weil ihnen durch sie über Nationalität und Religion eine Identität vermittelt wird. Angesichts einer in Nordrhein-Westfalen durchgeführten Studie kann daher mit gewissem Recht behauptet werden, dass der ideologische Zugriff nationalistischer oder islamistischer Gruppen auf türkische Jugendliche zugenommen hat.

Muslimische Mädchen unter Druck

Genauso schwierig stellt sich die Situation für muslimische Mädchen und junge Frauen dar, bei denen der familiäre Druck größer ist als bei den männlichen Jugendlichen und jungen Männern. Dies hat seinen Grund darin, dass die in islamischen Ländern gegebenen Arbeits- und Freizeitstrukturen für Mädchen und Frauen in Deutschland nicht vorhanden sind und die örtlichen sozialpädagogischen Einrichtungen der Jugendarbeit von ihnen nicht besucht werden (dürfen), da sie nicht den sozi-religiösen Vorstellungen der Familie entsprechen und als Gefahr betrachtet werden. Somit findet oftmals eine Einengung der Mädchen und jungen Frauen auf den familiären und häuslichen Bereich statt, was auch zur Folge hat, dass die Berufsausbildung starken Einschränkungen unterliegt. Kennzeichen dieser Situation ist das vermehrt zu beobachtende Tragen von Kopftüchern als äußeres Zeichen einer Segregation und als der Versuch einer eigenen Identitätsfindung.

Familien stehen zwischen Tradition und fremder Gesellschaft

Die Familie selbst ist in der Fremde starken Belastungen ausgesetzt, da sich die traditionellen Verhaltensweisen und -normen nur bedingt umsetzen lassen. Gewohnte Familienstrukturen, wie die Dominanz des Alters über die Jugend und des Mannes über die Frau, werden gesellschaftlich in Frage gestellt. Gleichzeitig befürchten die Eltern eine Entfremdung ihrer Kinder von der heimatlichen Kultur und Religion, da die Jugendlichen von den Einflüssen der fremden Gesellschaft und Kultur geprägt werden und die Eltern sich bei der Vermittlung ihrer eigenen Werte und Normen schwer tun. Diese Situation wird ferner mitbeeinflusst durch eine schwierige soziale Position angesichts schlechter Arbeits- und Wohnverhältnisse, mangelnder Deutschkenntnisse und der Beschränkung der sozialen Kontakte auf die eigenen Landsleute.

Integration nur unter Berücksichtigung muslimischer Identität

Angesichts dieser Schwierigkeiten wird ein Rückzug auf die eigene kulturelle und religiöse Identität verständlich, da sich in der Familie, unter Landsleuten und in der Moschee in der Fremde ein Stück Heimat finden lässt, das der Problembewältigung dienen soll. Dieser Prozess wird zudem begünstigt durch eigene türkische Infrastrukturen sowie maßgeblich durch die zahlreichen türkischen Fernsehsender. Diese Beobachtungen lassen mich eine 4. These formulieren: Die gesellschaftliche Integration der muslimischen Ausländer hat unter Berücksichtigung und Anerkennung ihrer religiösen Identität stattzufinden, um in einem dialogorientierten Prozess zu einem handlungsorientierten Verhalten im Sinne einer Problembewältigung in der deutschen Gesellschaft zu befähigen. Abschließend möchte ich einige Auf gaben formulieren, die meines Erachtens im Hinblick auf die gesellschaftliche Integration der muslimischen Ausländer notwendig sind.

Gesellschaftliche Anerkennung des Islam ist notwendig

In der Vergangenheit haben islamische Verbände wiederholt Anträge auf Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts gestellt. Nach Art. 140 GG, der auf entsprechende Artikel der Weimarer Reichsverfassung (WRV) zurückgreift, können Religionsgesellschaften die Körperschaftsrechte erwerben, "... wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten." (Art. 140 GG/Art. 137 Abs. 5 WRV). Rein oberflächlich betrachtet, erfüllen die meisten islamischen Verbände diese Voraussetzung. Die Anerkennung ist aber bisher daran gescheitert, dass ein Träger der Hoheitsrechte nicht erkennbar war. Denn nicht der Islam als solcher kann Träger dieser Rechte sein, sondern nur eine aus ihm erwachsene Organisation. Somit ist festzustellen: "Die Religionsgemeinschaft muss daher über eine auf Dauer eingerichtete Instanz verfügen, die im Hinblick auf Lehre und Ordnung verbindliche Aussagen machen und Rechtshandlungen vornehmen kann."

Bekenntnis zu Deutschland auch von Seiten der islamischen Verbände notwendig

Die Vielzahl der einzelnen Verbände erschwert aber die Entscheidung dieser Frage. Problematisch ist auch die Rückbindung einzelner Verbände an politische oder staatliche Strukturen im Heimatland, da die Religionsgemeinschaften nach Art. 140 GG/Art. 137 Abs. 3 WRV ihre Angelegenheiten selbständig gestalten. Erforderlich ist daher eine Loslösung der einzelnen Verbände vom Heimatland und eine Ausrichtung auf Deutschland hin, einhergehend mit einem stärkeren Zusammenschluss untereinander. Positive Zeichen in diese Richtung sind aber festzustellen. Sowohl der Zentralrat als auch der Islamrat bemühen sich verstärkt um eine Vertretung islamischer Interessen im deutschen Kontext und versuchen Ansprechpartner für Staat, Kirchen und Gesellschaft zu sein. Der Zentralrat der Muslime in Deutschland wurde z.B. bei der Anhörung des Deutschen Bundestages zum Thema Hirntod und Organverpflanzung am 28.06.1995 gehört und legte eine Stellungnahme vor. Am 11.12.1995 hat Roman Herzog als erster deutscher Bundespräsident 14 Vertreter islamischer Spitzenverbände in Deutschland zu einem Gedankenaustausch empfangen. Die Verleihung der Körperschaftsrechte hätte eine positive Signalwirkung für die Tatsache, dass der Islam längst ein Teil dieser Gesellschaft ist und bleiben wird.

Einführung islamischen Religionsunterrichts

Die Einführung islamischen Religionsunterrichts ist bisher auch an der Frage der Repräsentanz des Islams in Deutschland gescheitert. Zwar sind die Körperschaftsrechte nicht zwingende Voraussetzung für die Einführung islamischen Religionsunterrichts als ordentliches Schulfach an deutschen Schulen, aber die Durchführung hat nach Art. 7 Abs. 3 GG "... in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften ..." zu erfolgen. Eine solche Religionsgemeinschaft war aber wie im Fall der Körperschaftsrechte lange Zeit nicht erkennbar. In Ermangelung dessen wird in Nordrhein-Westfalen seit 1986 an Grundschulen und seit 1991 an weiterführenden Schulen "Religiöse Unterweisung von Schülern islamischen Glaubens" auf der Basis eines vom Landesinstitut für Schule und Weiterbildung in Soest entwickelten Curriculums als Angebotsfach im Rahmen des muttersprachlichen Ergänzungsunterrichtes erteilt. Dieser positiv klingende Ansatz erweist sich bei näherem Hinsehen jedoch als problematisch:

Probleme hinsichtlich des Religionsunterrichts

1. An der Curriculumentwicklung waren hauptsächlich islamische Fachleute aus dem Ausland beteiligt (aus Kairo und Ankara), nicht aber solche aus Deutschland selbst. 2. Die dem Curriculum zugrundeliegende Didaktik ist stark an der Didaktik des konfessionellen christlichen Religionsunterrichts orientiert, die nicht unbedingt mit islamischen Vorstellungen übereinstimmt. 3. Die Umsetzung findet im Rahmen des muttersprachlichen Ergänzungsunterrichtes statt, also in Türkisch, Arabisch, Albanisch oder Bosnisch. Damit wird wohl kein sehr gelungener Beitrag zu einer besseren Integration geleistet, da die religiöse Unterweisung damit wieder zu einer national-ausländischen Angelegenheit wird. 4. Der Unterricht wird nicht von Religionslehrern erteilt, sondern von Lehrkräften, die für die Vermittlung der Muttersprache ausgebildet wurden. 5. Sämtliche konstruktiven Stellungnahmen islamischer Verbände in Deutschland (1988/1994) blieben unberücksichtigt. Der religiösen Unterweisung bzw. dem Religionsunterricht kommt meines Erachtens eine entscheidende identitätsbildende Funktion zu. Er kann einen wichtigen Beitrag zu einer besseren gesellschaftlichen Integration der in Deutschland lebenden Muslime leisten. Gefordert ist daher ein islamischer Religionsunterricht in gemeinsamer Verantwortung des Staates und der islamischen Spitzenverbände, die längst zu kompetenten Ansprechpartnern geworden sind, der in deutscher Sprache unter deutscher Schulaufsicht erteilt wird und den gesellschaftlichen Anforderungen der Diasporasituation gerecht wird. Diesen Anforderungen entspricht das gegenwärtige Modell bislang nicht.

Partikulare Partizipation der Muslime

Dringend gefordert ist auch eine Mitwirkung islamischer Vereine an sie betreffenden Entscheidungen im kommunalen Bereich. In der Vergangenheit sind Angelegenheiten, die die Muslime betrafen, oftmals ohne ihre Mitwirkung entschieden worden, was nicht zu einer Akzeptanz der Maßnahmen geführt hat. Die Erfahrung hat aber gezeigt, dass eine Beteiligung an Entscheidungsprozessen zwar langwieriger ist, aber auf die Dauer zu tragfähigeren Ergebnissen führen kann. Eine besondere Chance liegt dabei bei den kommunalen Ausländerbeiräten, die im März 1995 in ganz Nordrhein-Westfalen gewählt wurden und in denen auch die islamischen Vereine vertreten sind. Wollen die Ausländerbeiräte etwas für die Menschen erreichen, dann ist das nur möglich, wenn es jenseits aller partikularen Interessen zu einem gemeinsamen, verantwortlichen Handeln mit den kommunalen Verwaltungen und den Parteien kommt.

Neue Ansätze in der Ausländerarbeit

In der konventionellen sozialpädagogischen Ausländerarbeit ist mehr die religiöse Dimension der muslimischen Ausländer zu berücksichtigen. Jenseits der bestehenden Strukturen bedarf es dazu neuer und alternativer Ansätze, die der spezifisch islamischen Identität methodisch und didaktisch Rechnung tragen. Eine Sozialisation ohne Berücksichtigung der Religion ist zum Scheitern verurteilt. Lobenswerte Beispiele in dieser Richtung sind eine Gruppe muslimischer deutscher Frauen in Köln, die intensiv islamische Mädchen ohne Schulabschluss auf den nachträglichen Erwerb eines Hauptschulabschlusses vorbereiten, die beiden in kirchlicher Trägerschaft stehenden Kontaktstellen für Nichtchristen in Köln und München, in freier Trägerschaft wirkende Projekte in Dormagen und Solingen, der multikulturelle Wohnpark in Köln sowie das Institut für Deutsch-Türkische Integrationsstudien an der neuen Moschee in Mannheim.

 

Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn

 

>> Zahl der Muslime in Deutschland

>> Frage des Islam ist keine reine Ausländerfrage

>> Organisationsformen der Muslime in Deutschland

>> Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ)

>>Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG)

>> Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB)

>> Unterschiede in den Organisationsstrukturen

>> Seit den achtziger Jahren Tendenz zu Zusammenschluss von Verbänden

>> Notwendigkeit der Ausbildung eines deutschen Islam

>> Der Integrationsbegriff

>> Maßnahmen zur Integration

>> Islamische Identität muss ernst genommen werden

>> Assimilation statt Integration ?

>> Schwierige Situation für muslimische Kinder und Jugendliche

>> Muslimische Mädchen unter Druck

>> Familien stehen zwischen Tradition und fremder Gesellschaft

>> Integration nur unter Berücksichtigung muslimischer Identität

>> Gesellschaftliche Anerkennung des Islam ist notwendig

>> Bekenntnis zu Deutschland auch von Seiten der islamischen Verbände notwendig

>> Einführung islamischen Religionsunterrichts

>> Probleme hinsichtlich des Religionsunterrichts

>> Partikulare Partizipation der Muslime

>> Neue Ansätze in der Ausländerarbeit

 
Seitenanfang