Zum Integrationsstand der muslimischen Ausländer in Deutschland
Infolge von Anwerbevereinbarungen kamen in den sechziger Jahren
zahlreiche ausländische Arbeitnehmer islamischen Glaubens in die
Bundesrepublik Deutschland. Neben vielen muslimischen Arbeitnehmern
waren dies seit Ende der siebziger Jahre auch zahlreiche Asylanten
und Bürgerkriegsflüchtlinge, zuletzt Anfang der neunziger Jahre
aus Bosnien-Herzegowina. Die Gesamtzahl der Muslime in Deutschland
wird heute auf rund drei Millionen geschätzt und anders als in
Österreich ist der Islam staatlich nicht anerkannt. Zur Integration
von Muslimen und deren religiösen Belangen gibt es nach wie vor nur
begrenzt taugliche Konzepte.
Eine zuverlässige Angabe der Gesamtzahl der muslimischen
Wohnbevölkerung in Deutschland ist nicht möglich, da erstens
Ausländer nicht nach ihrer Religionszugehörigkeit im
Ausländerzentralregister erfasst werden und zweitens die kommunalen
Meldebehörden Muslime unter der Rubrik "Verschiedene"
führen.
Zahl der Muslime in Deutschland
Berücksichtigt man die Hauptherkunftsländer der Muslime, um
eine ungefähre Zahl zu ermitteln, so ergibt sich nach dem Bericht
der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Ausländer
vom 29.11.1995 folgendes Bild: Ende 1994 waren von rund 7 Millionen
Ausländern im Bundesgebiet etwa 2 Millionen Türken, 250.000
Bosnier, 104.000 Iraner, 82.000 Marokkaner, 54.000 Libanesen und
51.000 Afghanen. Demzufolge lässt sich die Gesamtzahl der Muslime
zum damaligen Zeitpunkt auf 2,7 Millionen Personen schätzen. Bei
diesen Zahlen ist aber zu berücksichtigen, dass nicht jeder Türke
Muslim ist, wie es auch Christen unter Bosniern, Iranern und
Libanesen sowie Hindus unter Afghanen gibt. Diese Zahlenspiele und
die damit verbundenen Unsicherheiten machen eines deutlich: Die
Frage der islamischen Präsenz in Deutschland wird bislang von einem
eher ausländerpolitischen Blickwinkel aus betrachtet als von einem
religiösen.
Frage des Islam ist keine reine Ausländerfrage
Islam in Deutschland wird wie eine eben Ausländer betreffende
Angelegenheit verstanden. Diese Sichtweise ist meines Erachtens aus
folgenden Gründen nicht zutreffend: l. Ein hoher Anteil der
muslimischen Ausländer lebt bereits sehr lange in Deutschland und
besitzt einen gesicherten Aufenthaltsstatus (ohne zeitliche
Einschränkung). Nach dem Bericht der Bundesausländerbeauftragten
lebten Ende 1994 543.000 Türken mehr als 20 Jahre in Deutschland,
und 986.000 Türken waren im Besitz eines dauerhaften
Aufenthaltsstatus. Die meisten muslimischen Kinder und Jugendlichen
sind in Deutschland geboren und aufgewachsen. Die meiste Zeit ihres
Lebens haben sie in Deutschland verbracht, wo auch ihre
Sozialisation stattfindet. Statistisch werden sie als Ausländer
registriert, obwohl sie in Wirklichkeit Kinder und Jugendliche
dieses Landes sind. 3. Die Zahl der Einbürgerungen, auch der
muslimischen Ausländer, nimmt beständig zu. Diese Beobachtungen
lassen mich die l. These formulieren: Der Islam wird eine dauerhafte
Realität im religiösen und gesellschaftlichen Kontext der BRD
darstellen und keine vorübergehende Erscheinung im Zusammenhang der
Ein- und Auswanderung von Ausländern sein.
Organisationsformen der Muslime in Deutschland
Anders als das Christentum kennt der Islam keine
kirchenähnlichen Strukturen und Organisationsformen, sondern nur
die alle Muslime umfassende islamische Gemeinschaft, die "umma",
die alle Muslime im gemeinsamen Bekenntnis und der Ausübung ihrer
religiösen Pflichten eint. Die Erfahrung einer Diaspora wirkte für
die eingewanderten Muslime befremdlich. Die geschlossene, vom Islam
geprägte Umwelt, fehlte hier und die gewohnte Glaubenspraxis ließ
sich nur schwer verwirklichen. So kam es zur Herausbildung von
islamischen Organisationsformen und strukturen bereits durch die
erste Generation der eingewanderten Muslime - also zu einem für sie
eigentlich unbekannten Phänomen. Begünstigt wurde diese
Entwicklung durch die Tatsache, dass der Islam in Deutschland
(anders als in Österreich) nicht staatlich anerkannt ist und
muslimische Gemeinschaften bisher nicht den Status einer
Körperschaft des öffentlichen Rechts nach Art. 140 des
Grundgesetzes (GG) erwerben und die damit verbundenen Rechte
genießen konnten. Zur Wahrung der religiösen Interessen und zur
Ausübung der religiösen Pflichten entstanden ab Anfang der
siebziger Jahre eine Vielzahl von Moscheegemeinden, Vereinen und
Verbänden. In der Regel wählten sie die Rechtsform eines
eingetragenen Vereins (e.V) nach dem deutschen Vereinsrecht. Die
meisten Moscheen und örtlichen Vereine gehören zu einem der
großen Verbände. In letzter Zeit kam es weiter durch
Zusammenschlüsse zu Spitzenverbänden. Im folgenden sollen daher
die großen Einzelverbände und die Spitzenverbände kurz
dargestellt werden.
Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ)
1973 wurde das Islamische Kulturzentrum (IKZ) mit Sitz in Köln
gegründet, das aus der Türkischen Union hervorging und 1980 in
Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) umbenannt wurde. Ihm
entspricht in Österreich die Union Österreichischer Islamischer
Kulturzentren. Der Verband mit Hauptsitz in Köln unterhält nach
eigenen Angaben im Bundesgebiet insgesamt mehr als 300
Niederlassungen mit rund 20.000 Mitgliedern. Neben der religiösen
Betreuung der türkischen Muslime fühlt sich der Verband in
besonderer Weise der religiösen Bildung von Kindern und
Jugendlichen verpflichtet und führt in seinen Gemeinden zahlreiche
Korankurse durch. Er steht damit in der Tradition einer religiösen
Bewegung, die im Widerstand zum kemalistischen Laizismus in der
Türkei entstand und sich die religiöse Ausbildung der Jugend durch
Korankurse zum Ziel setzte. In Deutschland unterhält der Verband
zahlreiche und intensive Kontakte zu Kirchen und gesellschaftlichen
Gruppen und gehört zu den Gründungsmitgliedern des Zentralrates
der Muslime in Deutschland.
Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG)
2. Ebenfalls in Köln wurde 1976 die Türkische Union Europa
gegründet (heute: Islamische Union Europa), aus der 1985 die
Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa (AMGT) hervorging, die
sich seit 1995 Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) nennt.
Hierbei handelt es sich um einen türkisch-islamischen Verband, der
in direkter Nähe zur damaligen Nationalen Heilspartei (MSP), der
nunmehr verbotenen Wohlfahrtspartei (Refah-Partei) von Necmettin
Erbakan steht. Der Verband hat nach eigenen Angaben europaweit
35.000 Mitglieder und in Deutschland 271 Ortsvereine. Es ist davon
auszugehen, dass Milli Görüs heute die größte nichtstaatliche
türkisch-islamische Vereinigung in Deutschland ist. Wie bei den
anderen Verbänden bezieht sich die Mitgliederzahl nur auf
eingetragene Mitglieder, so dass deren Familienangehörige
hinzuzurechnen sind. Viele von Milli Görüs direkt oder indirekt
abhängige Organisationen treten zudem unter einem rechtlich
gesonderten Status auf. 1994/95 kam es zu einer Neuorganisation des
Verbandes, und seither gibt es zwei Rechtsträger: l. Islamische
Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) zur seelsorglichen und sozialen
Betreuung und 2. Europäische Moscheebau und
Unterstützungs-Gemeinschaft (EMUG) zur wirtschaftlichen und
finanziellen Verwaltung. Der erstgenannte Verband ist führendes
Mitglied des Islamrates.
Türkisch-Islamische Union der Anstalt für
Religion (DITIB)
Als Antwort auf die Gründung von nichtstaatlichen
türkisch-islamischen Organisationen im Ausland, die sich um die
religiös-sozialen Belange der türkischen Immigranten kümmerten,
wurde 1982 in Berlin und 1984 in Köln die Türkisch-Islamische
Union der Anstalt für Religion (DITIB) gegründet. Hierbei handelt
es sich um die Auslandsorganisation des Präsidiums für
Religionsangelegenheiten der Türkischen Republik (DIYANET) in
Ankara. Damit ist die Ausrichtung des Verbandes eindeutig: DITIB
vertritt die offizielle türkische Religionspolitik unter den
Türken im Ausland, nämlich das laizistische Prinzip einer Trennung
von Religion und Politik, bei gleichzeitiger Kontrolle der Religion
durch den Staat.
Unterschiede in den Organisationsstrukturen
Die Organisationsstruktur von DITIB unterscheidet sich von den
beiden vorherigen Verbänden. Die jeweiligen Ortsvereine sind
rechtlich eigenständig, haben sich aber der Zentrale in Köln
angeschlossen und ihr in vielen Fällen ihren Grundbesitz
übertragen. Sie bekommen von DITIB einen Religionsgelehrten als
Vorbeter für die Dauer von jeweils fünf Jahren gestellt, der als
Beamter vom türkischen Staat entsandt und bezahlt wird. Nach
eigenen Angaben waren 1993 414 Religionsgelehrte in Deutschland und
27 in Österreich tätig. Die Religionsbeauftragten der jeweiligen
Konsulate und der Botschaft vertreten die Interessen des türkischen
Staates gegenüber den Ortsvereinen. Obwohl DITIB mit insgesamt 740
Vereinen und etwa 90.000 Mitgliedern die zahlenmäßig größte
Organisation darstellt, kann sie nicht als die einflussreichste
gelten. Dies hat mit ihrer Struktur zu tun und damit, dass sich in
den einzelnen Vereinen selbst heterogene Kräfte zusammenfinden. Es
ist anzunehmen, dass bei den beiden vorherigen Verbänden eine
intensivere Bindung der Mitglieder an die Zentralen besteht als bei
DIT1B. Als Einrichtung des türkischen Staates versucht DITIB dessen
Interessen unter den türkischen Landsleuten in Deutschland zu
vertreten und ist aufgrund dieser Rückbindung weder Mitglied im
Islamrat noch im Zentralrat. Neben diesen drei türkisch-islamischen
Verbänden in Deutschland gibt es noch eine Reihe weiterer
Verbände. Alles in allem kann daher mit rund 200.000 Mitgliedern in
türkisch-islamischen Verbänden in Deutschland gerechnet werden.
Seit den achtziger Jahren Tendenz zu
Zusammenschluss von Verbänden
Seit Mitte der achtziger Jahre ist innerhalb dieser
Organisationsstrukturen ein neues Phänomen zu beobachten, nämlich
der Zusammenschluss von Verbänden und Vereinen zu
Spitzenverbänden. Für diese Entwicklung war die Einsicht
maßgeblich, dass die Durchsetzung gemeinsamer Interessen allzu oft
an der Uneinigkeit und Differenzierung der Verbände scheiterte, die
öffentliche Meinung aber verbindliche Ansprechpartner fordert. Im
Bewusstsein und mit der Absicht, gegenüber Staat, Parteien und
Kirchen gemeinsam aufzutreten und einen verbindlichen
Gesprächspartner abzugeben, kam es zum Zusammenschluss
verschiedener Verbände und Vereine. Im November 1986 wurde der
Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland gegründet, der derzeit
aus 32 Einzelorganisationen besteht. Sehr schnell zeigte sich aber,
dass es aufgrund interner Spannungen und Auseinandersetzungen nicht
möglich war, alle Verbände unter einem Dach zu sammeln. Mit der
Zeit kam es daher zu einer erneuten Differenzierung, die mit dem
Austritt des VIKZ 1988 aus dem Islamrat und einer stärkeren
Einflussnahme der heutigen IGMG einherging und im November 1994 zur
Gründung einer zweiten Dachorganisation führte, dem Zentralrat der
Muslime in Deutschland. Der Zentralrat besteht derzeit aus 19
Mitgliedsorganisationen, wozu auch mehrere nichttürkische Verbände
gehören.
Notwendigkeit der Ausbildung eines deutschen
Islam
Neben den beiden genannten Zusammenschlüssen steht unabhängig
davon DITIB, die aufgrund ihrer Rückbindung an den türkischen
Staat weder im Islamrat noch im Zentralrat vertreten sein kann.
Somit gibt es im gesellschaftlichen Kontext der BRD derzeit drei
islamische Spitzenverbände.
Diese Analyse der komplexen Organisationsformen lässt mich
abschließend meine 2. These formulieren: Aus einer inneren
Notwendigkeit heraus haben sich türkische Muslime in Deutschland
organisiert. Die offenkundige Rückbindung an Strukturen in der
Heimat behindert dabei die gesellschaftliche Integration der Muslime
in Deutschland. Die Differenzierung in zu viele Organisationen
erschwert die Durchsetzung gemeinsamer Interessen. Was notwendig
ist, ist die Ausbildung eines deutschen Islams, der ein
gleichberechtigter Teil der pluralistischen Gesellschaft wird, wozu
eine Abkoppelung von heimatlichen Strukturen und eine
innerislamische Einigung erforderlich ist.
Der Integrationsbegriff
Es gibt wohl kaum einen Begriff in der aktuellen
ausländerpolitischen Diskussion, der so vieldeutig und zugleich
missverständlich ist wie der Begriff der Integration. Nach meinem
Dafürhalten ist Integration als ein gegenseitig verlaufender
Prozess, als ein interaktives Geschehen zwischen Fremden und
Einheimischen zu verstehen, unter Voraussetzung und
Berücksichtigung der jeweiligen Identitäten, mit dem Ziel eines
besseren gesellschaftlichen Zusammenlebens. Wenn aber die Frage der
islamischen Präsenz in Deutschland allein vom ausländerpolitischen
Standpunkt aus wahrgenommen wird, dann hat das zur Folge, dass
Integrationspolitik und Integrationskonzepte von dieser
Voraussetzung ausgehen, vom Ausländer-Sein und nicht von der
religiösen Identität - vom Muslim-Sein - her konzipiert werden.
Maßnahmen zur Integration
Seit langem werden staatlicherseits intensive Bemühungen zur
gesellschaftlichen Integration von Ausländern im Bundesgebiet
getroffen. Hierbei ist an Maßnahmen zur Aneignung der deutschen
Sprache, die vom Sprachverband in Mainz gefördert werden, an
Berufsvorbereitungs- und Berufsausbildungsprogramme der
Bundesanstalt für Arbeit sowie an die Sozialberatung für
Ausländer durch die Wohlfahrtsverbände zu denken. Zusätzlich
werden in letzter Zeit Programme und Maßnahmen zur Betreuung und
Pflege alter Ausländer entwickelt. Diese Maßnahmen sind meines
Erachtens alle von einem Defizit gekennzeichnet; nämlich davon,
dass die religiöse Dimension der muslimischen Ausländer dabei
weitgehend außer acht gelassen wird. Dies wird gerade im Bereich
der Ausländersozialberatung deutlich. Nach einer
Bund-Länder-Vereinbarung ist die Zuständigkeit für bestimmte
Volksgruppen auf die einzelnen Wohlfahrtsverbände aufgeteilt.
Demnach ist der Caritasverband für katholische Arbeitnehmer aus
Portugal, Spanien, Italien, Slowenien und Kroatien zuständig, das
Diakonische Werk für orthodoxe Arbeitnehmer aus Griechenland und
dem ehemaligen Jugoslawien und die Arbeiterwohlfahrt für
muslimische Arbeitnehmer aus der Türkei und dem ehemaligen
Jugoslawien.
Islamische Identität muss ernst genommen
werden
Bei der Arbeiterwohlfahrt handelt es sich um einen
weltanschaulich neutralen Verband, bei dem oftmals - wie beim
Internationalen Bund für Sozialarbeit - religiös ungebundene
Türken und Kurden tätig sind. Damit ich nicht missverstanden
werde: gerade die Arbeiterwohlfahrt hat in ihrem Sozialdienst Türk
Danis viel für Türken getan, aber gerade die religiöse Dimension
spielt aufgrund des Selbstverständnisses dieses Wohlfahrtsverbandes
dabei keine Rolle. Das aber führt dazu, dass muslimische Ausländer
sich in einem wesentlichen Teil ihres Selbstverständnisses nicht
ernst genommen fühlen. Meine 3. These lautet daher: Solange die
verschiedenen Integrationsmaßnahmen im Kindergartenbereich, in der
Schule, in der Mädchen- und Frauenarbeit und in der Altenarbeit
nicht die spezielle islamische Identität ernst nehmen, kann von
ihnen keine positive Wirkung auf das Integrationsgeschehen der
Muslime erwartet werden.
Assimilation statt Integration ?
Von vielen muslimischen Ausländern wird Integration mitunter mit
Assimilation verwechselt. Es entsteht für sie der Eindruck, dass
durch die dargestellten Integrationsmaßnahmen ein Druck zur
Anpassung an die deutsche Gesellschaft ausgeübt wird, der in einem
Verlust der eigenen Identität und der Annahme der deutschen
Identität besteht. Dabei kommt gerade ihrer religiösen Identität
in der Fremde eine identitätsstabilisierende Funktion zu, da sich
das Türke-Sein über das Muslim-Sein und umgekehrt definiert. Der
Islam als normatives Verhaltenssystem aber formuliert
Verhaltensregeln und -strukturen, die der Identitätswahrung in der
Diaspora dienen. Eine ungenügende Berücksichtigung dieser
Identität oder gar ein Angriff darauf führt dazu, dass sie sich in
diese spezifische Identität zurückziehen und gegenüber der
deutschen Gesellschaft abgrenzen.
Schwierige Situation für muslimische Kinder
und Jugendliche
Gerade die heranwachsende Generation der muslimischen Kinder und
Jugendlichen lebt in einer schwierigen Situation, die oftmals als
Kulturkonflikt oder als "das Stehen zwischen zwei
Stühlen" charakterisiert wird, da sich ihre Sozialisation im
Spannungsfeld zwischen den Wertvorstellungen der deutschen
Gesellschaft einerseits und denen der muslimischen Familie
andererseits vollzieht. Es geht um den schwierigen Prozess einer
stabilen Identitätsfindung angesichts divergierender Normen und
Werte. Erschwerend kommt hinzu, dass unter ihnen die Zahl der
Schulabgänger ohne Schulabschluss und der Arbeitslosen ohne
Berufsausbildung am höchsten ist. Daher verwundert es nicht, dass
viele von ihnen angesichts von Orientierungs- und
Perspektivenlosigkeit Halt bei nationalistischen oder islamistischen
Gruppierungen suchen, weil ihnen durch sie über Nationalität und
Religion eine Identität vermittelt wird. Angesichts einer in
Nordrhein-Westfalen durchgeführten Studie kann daher mit gewissem
Recht behauptet werden, dass der ideologische Zugriff
nationalistischer oder islamistischer Gruppen auf türkische
Jugendliche zugenommen hat.
Muslimische Mädchen unter Druck
Genauso schwierig stellt sich die Situation für muslimische
Mädchen und junge Frauen dar, bei denen der familiäre Druck
größer ist als bei den männlichen Jugendlichen und jungen
Männern. Dies hat seinen Grund darin, dass die in islamischen
Ländern gegebenen Arbeits- und Freizeitstrukturen für Mädchen und
Frauen in Deutschland nicht vorhanden sind und die örtlichen
sozialpädagogischen Einrichtungen der Jugendarbeit von ihnen nicht
besucht werden (dürfen), da sie nicht den sozi-religiösen
Vorstellungen der Familie entsprechen und als Gefahr betrachtet
werden. Somit findet oftmals eine Einengung der Mädchen und jungen
Frauen auf den familiären und häuslichen Bereich statt, was auch
zur Folge hat, dass die Berufsausbildung starken Einschränkungen
unterliegt. Kennzeichen dieser Situation ist das vermehrt zu
beobachtende Tragen von Kopftüchern als äußeres Zeichen einer
Segregation und als der Versuch einer eigenen Identitätsfindung.
Familien stehen zwischen Tradition und fremder
Gesellschaft
Die Familie selbst ist in der Fremde starken Belastungen
ausgesetzt, da sich die traditionellen Verhaltensweisen und -normen
nur bedingt umsetzen lassen. Gewohnte Familienstrukturen, wie die
Dominanz des Alters über die Jugend und des Mannes über die Frau,
werden gesellschaftlich in Frage gestellt. Gleichzeitig befürchten
die Eltern eine Entfremdung ihrer Kinder von der heimatlichen Kultur
und Religion, da die Jugendlichen von den Einflüssen der fremden
Gesellschaft und Kultur geprägt werden und die Eltern sich bei der
Vermittlung ihrer eigenen Werte und Normen schwer tun. Diese
Situation wird ferner mitbeeinflusst durch eine schwierige soziale
Position angesichts schlechter Arbeits- und Wohnverhältnisse,
mangelnder Deutschkenntnisse und der Beschränkung der sozialen
Kontakte auf die eigenen Landsleute.
Integration nur unter Berücksichtigung
muslimischer Identität
Angesichts dieser Schwierigkeiten wird ein Rückzug auf die
eigene kulturelle und religiöse Identität verständlich, da sich
in der Familie, unter Landsleuten und in der Moschee in der Fremde
ein Stück Heimat finden lässt, das der Problembewältigung dienen
soll. Dieser Prozess wird zudem begünstigt durch eigene türkische
Infrastrukturen sowie maßgeblich durch die zahlreichen türkischen
Fernsehsender. Diese Beobachtungen lassen mich eine 4. These
formulieren: Die gesellschaftliche Integration der muslimischen
Ausländer hat unter Berücksichtigung und Anerkennung ihrer
religiösen Identität stattzufinden, um in einem dialogorientierten
Prozess zu einem handlungsorientierten Verhalten im Sinne einer
Problembewältigung in der deutschen Gesellschaft zu befähigen.
Abschließend möchte ich einige Auf gaben formulieren, die meines
Erachtens im Hinblick auf die gesellschaftliche Integration der
muslimischen Ausländer notwendig sind.
Gesellschaftliche Anerkennung des Islam ist
notwendig
In der Vergangenheit haben islamische Verbände wiederholt
Anträge auf Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts
gestellt. Nach Art. 140 GG, der auf entsprechende Artikel der
Weimarer Reichsverfassung (WRV) zurückgreift, können
Religionsgesellschaften die Körperschaftsrechte erwerben, "...
wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die
Gewähr der Dauer bieten." (Art. 140 GG/Art. 137 Abs. 5 WRV).
Rein oberflächlich betrachtet, erfüllen die meisten islamischen
Verbände diese Voraussetzung. Die Anerkennung ist aber bisher daran
gescheitert, dass ein Träger der Hoheitsrechte nicht erkennbar war.
Denn nicht der Islam als solcher kann Träger dieser Rechte sein,
sondern nur eine aus ihm erwachsene Organisation. Somit ist
festzustellen: "Die Religionsgemeinschaft muss daher über eine
auf Dauer eingerichtete Instanz verfügen, die im Hinblick auf Lehre
und Ordnung verbindliche Aussagen machen und Rechtshandlungen
vornehmen kann."
Bekenntnis zu Deutschland auch von Seiten der
islamischen Verbände notwendig
Die Vielzahl der einzelnen Verbände erschwert aber die
Entscheidung dieser Frage. Problematisch ist auch die Rückbindung
einzelner Verbände an politische oder staatliche Strukturen im
Heimatland, da die Religionsgemeinschaften nach Art. 140 GG/Art. 137
Abs. 3 WRV ihre Angelegenheiten selbständig gestalten. Erforderlich
ist daher eine Loslösung der einzelnen Verbände vom Heimatland und
eine Ausrichtung auf Deutschland hin, einhergehend mit einem
stärkeren Zusammenschluss untereinander. Positive Zeichen in diese
Richtung sind aber festzustellen. Sowohl der Zentralrat als auch der
Islamrat bemühen sich verstärkt um eine Vertretung islamischer
Interessen im deutschen Kontext und versuchen Ansprechpartner für
Staat, Kirchen und Gesellschaft zu sein. Der Zentralrat der Muslime
in Deutschland wurde z.B. bei der Anhörung des Deutschen
Bundestages zum Thema Hirntod und Organverpflanzung am 28.06.1995
gehört und legte eine Stellungnahme vor. Am 11.12.1995 hat Roman
Herzog als erster deutscher Bundespräsident 14 Vertreter
islamischer Spitzenverbände in Deutschland zu einem
Gedankenaustausch empfangen. Die Verleihung der Körperschaftsrechte
hätte eine positive Signalwirkung für die Tatsache, dass der Islam
längst ein Teil dieser Gesellschaft ist und bleiben wird.
Einführung islamischen Religionsunterrichts
Die Einführung islamischen Religionsunterrichts ist bisher auch
an der Frage der Repräsentanz des Islams in Deutschland
gescheitert. Zwar sind die Körperschaftsrechte nicht zwingende
Voraussetzung für die Einführung islamischen Religionsunterrichts
als ordentliches Schulfach an deutschen Schulen, aber die
Durchführung hat nach Art. 7 Abs. 3 GG "... in
Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften
..." zu erfolgen. Eine solche Religionsgemeinschaft war aber
wie im Fall der Körperschaftsrechte lange Zeit nicht erkennbar. In
Ermangelung dessen wird in Nordrhein-Westfalen seit 1986 an
Grundschulen und seit 1991 an weiterführenden Schulen
"Religiöse Unterweisung von Schülern islamischen
Glaubens" auf der Basis eines vom Landesinstitut für Schule
und Weiterbildung in Soest entwickelten Curriculums als Angebotsfach
im Rahmen des muttersprachlichen Ergänzungsunterrichtes erteilt.
Dieser positiv klingende Ansatz erweist sich bei näherem Hinsehen
jedoch als problematisch:
Probleme hinsichtlich des Religionsunterrichts
1. An der Curriculumentwicklung waren hauptsächlich islamische
Fachleute aus dem Ausland beteiligt (aus Kairo und Ankara), nicht
aber solche aus Deutschland selbst. 2. Die dem Curriculum
zugrundeliegende Didaktik ist stark an der Didaktik des
konfessionellen christlichen Religionsunterrichts orientiert, die
nicht unbedingt mit islamischen Vorstellungen übereinstimmt. 3. Die
Umsetzung findet im Rahmen des muttersprachlichen
Ergänzungsunterrichtes statt, also in Türkisch, Arabisch,
Albanisch oder Bosnisch. Damit wird wohl kein sehr gelungener
Beitrag zu einer besseren Integration geleistet, da die religiöse
Unterweisung damit wieder zu einer national-ausländischen
Angelegenheit wird. 4. Der Unterricht wird nicht von
Religionslehrern erteilt, sondern von Lehrkräften, die für die
Vermittlung der Muttersprache ausgebildet wurden. 5. Sämtliche
konstruktiven Stellungnahmen islamischer Verbände in Deutschland
(1988/1994) blieben unberücksichtigt. Der religiösen Unterweisung
bzw. dem Religionsunterricht kommt meines Erachtens eine
entscheidende identitätsbildende Funktion zu. Er kann einen
wichtigen Beitrag zu einer besseren gesellschaftlichen Integration
der in Deutschland lebenden Muslime leisten. Gefordert ist daher ein
islamischer Religionsunterricht in gemeinsamer Verantwortung des
Staates und der islamischen Spitzenverbände, die längst zu
kompetenten Ansprechpartnern geworden sind, der in deutscher Sprache
unter deutscher Schulaufsicht erteilt wird und den
gesellschaftlichen Anforderungen der Diasporasituation gerecht wird.
Diesen Anforderungen entspricht das gegenwärtige Modell bislang
nicht.
Partikulare Partizipation der Muslime
Dringend gefordert ist auch eine Mitwirkung islamischer Vereine
an sie betreffenden Entscheidungen im kommunalen Bereich. In der
Vergangenheit sind Angelegenheiten, die die Muslime betrafen,
oftmals ohne ihre Mitwirkung entschieden worden, was nicht zu einer
Akzeptanz der Maßnahmen geführt hat. Die Erfahrung hat aber
gezeigt, dass eine Beteiligung an Entscheidungsprozessen zwar
langwieriger ist, aber auf die Dauer zu tragfähigeren Ergebnissen
führen kann. Eine besondere Chance liegt dabei bei den kommunalen
Ausländerbeiräten, die im März 1995 in ganz Nordrhein-Westfalen
gewählt wurden und in denen auch die islamischen Vereine vertreten
sind. Wollen die Ausländerbeiräte etwas für die Menschen
erreichen, dann ist das nur möglich, wenn es jenseits aller
partikularen Interessen zu einem gemeinsamen, verantwortlichen
Handeln mit den kommunalen Verwaltungen und den Parteien kommt.
Neue Ansätze in der Ausländerarbeit
In der konventionellen sozialpädagogischen Ausländerarbeit ist
mehr die religiöse Dimension der muslimischen Ausländer zu
berücksichtigen. Jenseits der bestehenden Strukturen bedarf es dazu
neuer und alternativer Ansätze, die der spezifisch islamischen
Identität methodisch und didaktisch Rechnung tragen. Eine
Sozialisation ohne Berücksichtigung der Religion ist zum Scheitern
verurteilt. Lobenswerte Beispiele in dieser Richtung sind eine
Gruppe muslimischer deutscher Frauen in Köln, die intensiv
islamische Mädchen ohne Schulabschluss auf den nachträglichen
Erwerb eines Hauptschulabschlusses vorbereiten, die beiden in
kirchlicher Trägerschaft stehenden Kontaktstellen für
Nichtchristen in Köln und München, in freier Trägerschaft
wirkende Projekte in Dormagen und Solingen, der multikulturelle
Wohnpark in Köln sowie das Institut für Deutsch-Türkische
Integrationsstudien an der neuen Moschee in Mannheim.
Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn
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