Die islamische Welt als Promotor und Produkt kultureller
Transformationen
Aus einer Vielzahl von Gründen konzentriert sich die
europäische Perspektive vom Islam auf den Nahen und Mittleren
Osten. Für die zukünftigen sozialen, politischen, kulturellen,
aber auch religiösen Entwicklungen der islamischen Welt sind jedoch
auch die "islamischen Peripherien" in Südostasien,
Westeuropa und Nordamerika von Bedeutung. Die dort betriebene
"Islamisierung des Wissens" gilt als Auseinandersetzung
der islamischen Welt mit dem Westen und der Moderne. Die
vielfältigen Konsequenzen für die Alltagspraxis der Muslime und
deren Rolle in einer durch die Globalisierung immer kleiner
werdenden Welt wurden bisher kaum ausreichend analysiert.
Im Gegensatz zu Natur bezeichnet Kultur die Komponenten des
menschlichen Lebens, die nicht biologisch determiniert sind, sondern
durch den Menschen als ein soziales Wesen geschaffen oder verändert
werden. Als Resultat des globalen ökologischen Bewusstseins und der
Entwicklung von modernen Bio-Technologien hat sich jedoch die Grenze
zwischen Mensch und Natur immer mehr verwischt.
Kulturelle Identitäten verschwimmen
Kultur bezeichnet die Summe von Merkmalen, die eine Gruppe von
einer anderen unterscheidet. Die globale Mobilität von Menschen,
Gütern und Ideen macht jedoch kulturelle Grenzen immer
durchlässiger. Kulturelle Identitäten werden verändert,
hybridisiert durch die Verbindung mit Elementen aus anderen Kulturen
und durch die Entwicklung zu einer transnationalen ,Weltkultur'
überformt. Wie der Neologismus ‚Glokalisierung' (Robertson)
zeigt, kommt auch die modische Bezugnahme auf lokale, autochthone
oder partikularistische Traditionen ohne die Bezugnahme auf die
Globalisierung nicht aus. Weiter bezeichnet der Begriff in der
vertikalen normativen Klassifikation menschlicher Gruppen die
angeblich überlegene, fortgeschrittene, gebildete Lebensweise. Das
Gegensatzpaar ist dann gerne Kultur gegen Barbarei, Hochkultur gegen
Volkskultur. Die heute festzustellende Vereinheitlichung von
Konsumgewohnheiten und dergleichen macht den Unterschied zwischen
,hoch und niedrig’ nun immer weniger bedeutsam. Einerseits ist das
deutlichste Kennzeichen der gegenwärtigen globalen Hegemonie die
‚McDonaldisierung‘ der Welt, andererseits finden wir natürlich
auch eine Vereinheitlichung von Trends in den modernen Künsten, in
der Literatur usw.
Gegensatz von Geist und Materie
Kultur bezeichnet den Bereich der Produktion immaterieller Werte
wie Künste, Wissenschaften, Religionen usw. In diesem Kontext
spiegelt ,Kultur` den alten Gegensatz zwischen Geist und Materie
wieder. Die Möglichkeiten der audio-visuellen Massenkommunikation
und der Zwang, fragmentierte Massengesellschaften zu integrieren
durch ‚symbolic politics' machen die Unterschiede zwischen dem
immateriellen Bereich der geistigen Kultur und den handfesten
materiellen Bereichen wie der Wirtschaft oder der Politik immer
weniger bedeutsam. Filmschauspieler werden Politiker und Politiker
stellen sich wie Filmschauspieler dar. Unterhaltung und Information
über politische oder wirtschaftliche Fragen werden zu
Infotainment-Veranstaltungen vermischt. Politische und ökonomische
Entscheidungen werden von wissenschaftlichen Experten und Beratern
vorbereitet und legitimiert. Kulturelle Sachverhalte wie Vertrauen,
Disziplin, Loyalität, Motivation oder Geschmack werden heute als
wichtige Probleme in der Ökonomie verstanden. Philosophie und ein
geistiges holistisches Denken sind Teile moderner
Managementstrategien geworden - von der Verallgemeinerung des
Kulturbegriffs, wie z.B. bei Firmenkultur etc., einmal ganz
abgesehen.
Faktoren kulturellen Wandels
Das gegenwärtige Nachdenken über kulturellen Wandel im globalen
Kontext lässt sich an drei Linien festmachen: 1. Homogenisierung:
Man ging und geht auch heute davon aus, dass die Dynamik der
modernen Gesellschaften die Welt homogen und politisch isomorph
machen würde. Man erwartet eine mehr oder weniger einheitliche Welt
und schließlich einen einzigen Weltstaat. 2. Heterogenisierung:
Arjun Appadurai meint, "the new global cultural economy has to
be seen as a complex, overlapping, disjunctive order, which cannot
be seen understood in terms of existing center-periphery-models".
Er denkt stattdessen an "the configuration of cultural forms in
today's world as fundamentally fractal, that is, as possessing no
Euclidian boundaries, structures or regularities". 3.
Regionalisierung: Da reicht es in der gegenwärtigen Situation,
einen Autor und sein Werk zu nennen: Samuel Huntington, "Clash
of Civilisations"
Die islamische Welt in ihrer gegenwärtigen
Ausprägung
Die drei Gedankenlinien schließen einander nicht aus. Sie
überdecken und beeinflussen sich gegenseitig, und es liegt nahe,
diese sehr theoretischen Überlegungen an einem konkreten Beispiel
zu überprüfen, nämlich der islamischen Welt in ihrer
gegenwärtigen Ausprägung. Ich weiß, dass ich mich mit der
Formulierung ,islamische Welt‘ als Orientalist im Saidschen Sinne
"geoutet" habe, da es sich um eine ausgesprochen
essentialistische Formulierung handelt. Ich hoffe aber, dass ich im
Laufe meiner Ausführungen aufzeigen kann, dass es so etwas wie ,die
islamische Welt‘ geben wird oder zumindest geben könnte. Richtig
ist natürlich zugleich, dass die islamische Welt zwischen Senegal
im Westen und der malaysischen Inselwelt im Osten, zwischen der
ostafrikanischen Küste im Süden und den zentralasiatischen
Republiken im Norden - von den zahlreichen islamischen Minderheiten
in Amerika, Europa oder Ozeanien ganz zu schweigen - beträchtliche
kulturelle Unterschiede aufweist. Die Unterschiede können abhängig
sein von den gesellschaftlichen Strukturen im engeren Sinne, also
den Familienstrukturen, sie können abhängig sein von den
Substratreligionen, wie das von Clifford Geertz in seinem Vergleich
zwischen dem Islam in Indonesien und Marokko vor schon bald dreißig
Jahren aufgezeigt worden ist. Die wirtschaftlichen Bedingungen
spielen eine Rolle so wie die historisch-politischen Entwicklungen,
und es ist sicherlich falsch, die islamische Welt auf den Nahen und
Mittleren Osten reduzieren zu wollen. Schließlich lebt die Mehrheit
der Muslime außerhalb dieser Großregion.
Auswirkungen auf soziale Strukturen
Natürlich sind diese Menschen von ihrer näheren kulturellen
Umgebung stärker geprägt als von etwas, das man als Gesamt-Islam
bezeichnen könnte. Regionale, ja lokale religiöse Vorstellungen,
Rituale und andere religiöse Praktiken wirken auf sie ein wie auch
Vorstellungen von normativ verstandenen Sozialstrukturen, die als
islamisch angesehen werden, auch wenn sie mit dieser Religion an
sich kaum etwas zu tun haben mögen. Hier sei vor allem auf die
Frage der gesellschaftlichen Stellung von Frauen in islamischen
Gesellschaften hingewiesen. Dennoch ist die islamische Welt, sind
islamische Gesellschaften nicht von den Aspekten der Globalisierung
ausgeschlossen. Ich möchte das an einer einzigen Gruppe von
Beispielen verdeutlichen, den über Satelliten verbreiteten
Fernsehprogrammen.
Einfluss globaler Elemente auf den Islam
Mit der Zugänglichkeit von Parabolantennen und einer gewissen
technischen Fähigkeit ist es heute möglich, überall in der Welt,
auch in der islamischen Welt, internationale, vornehmlich in
Westeuropa, den USA oder Indien produzierte Fernsehprogramme zu
empfangen. So ist der Musik-Sender MTV auch in den westlichen
Grenzregionen Pakistans, in afghanischen Flüchtlingslagern oder in
den Camps von philippinischen Arbeitsmigranten auf der arabischen
Halbinsel zu empfangen, und die saudischen Tageszeitungen drucken
täglich die entsprechenden Programmankündigungen. Schon diese
Video-Clips verbreiten ein Bild der westlichen Welt, das zwar nicht
mit den gesellschaftlichen Realitäten des Westens übereinstimmen
mag, dennoch aber von beträchtlicher Wirkung auf die Zuschauer ist.
Es gibt bei MTV speziell für muslimische Konsumenten produzierte
Programme, die aber immer noch westliche Ideen von
Geschlechterbeziehungen, Konsumverhalten usw. transportieren.
Unabhängig von den jeweiligen kulturellen, religiösen, politischen
oder ökonomischen Besonderheiten müssen sich islamische
Gesellschaften, urbane oder ländliche, mit diesem Einfluss
auseinandersetzen. Da es sich für sie alle um die gleiche Form von
Einfluss handelt, werden die Reaktionen darauf zwar bis zu einem
gewissen Grad, abhängig von historischen, sozialen oder
ökonomischen Gegebenheiten unterschiedlich ausfallen, im Endeffekt
jedoch zu einer Vereinheitlichung der islamischen Welt beitragen.
Schließlich sind die Möglichkeiten der Reaktion begrenzt. Im
Grunde können sie auf einen binären Code von Plus und Minus
reduziert werden.
Islamische Gelehrte fordern Erhalt der
islamischen Identität
Islamischen Religionsgelehrten ist diese Situation nur zu
bewusst. In einem sehr emotionalen Beitrag sagte der iranische
Gelehrte Mohammad Modjahedi Shabestari bei einem deutsch-iranischen
Kolloquium in der Nähe von Hamburg: "Unser Problem ist ein
Identitätsproblem; wir wollen auf jeden Fall unsere Identität
behalten. Wir sind aber nicht der Meinung, dass die Definition und
die Interpretation unserer Werte immer, zu jeder Zeit, die gleichen
bleiben müssen. Das kann nicht so sein. Die Geschichte zeigt auch,
dass dies unmöglich ist. Die Interpretation der Werte hat sich im
Laufe der Geschichte verändert. Das wichtigste ist, dass diese
Änderung mit dem Bewusstsein der Menschen, um deren Werte es sich
handelt, einhergeht, dass sie nicht als eine Vergewaltigung
geschieht, von außen, sondern als eine bewusste freie Wahl
entsprechend der Realität...Vielleicht gibt es Menschen, die sagen,
das gibt viele Schwierigkeiten bzw. ergibt kein harmonisches System.
Aber, was kann man denn tun? Gibt es eine andere Wahl? Wir sind der
Meinung, dass es keine andere Wahl gibt. Entweder wir sprechen gar
nicht mehr von unserer eigenen Identität und sagen, dass alles, was
uns die westliche und die östliche Zivilisation anzubieten haben,
gut ist, und wir übernehmen dann alles und verlieren unsere
Identität, oder wir sagen, dass wir unsere Identität bewahren
wollen, aber trotzdem einen Kompromiss eingehen. Unserer Meinung
nach ist das unsere einzige Möglichkeit. Wir halten sie für
richtig und gut, nicht für antiislamisch und antireligiös, sondern
für realistisch" (Peter Heine (Hrsg.), Deutsch-Iranisches
Kolloquium: Religion und Gesellschaft, Wirtschaft und Politik,
bilaterale Beziehungen, Hamburg, 28. 30. März 1988, Hamburg 1989
Seite 20-21). Der iranische Gelehrte hat das islamische Dilemma auf
den Punkt gebracht. Wie soll sich die islamische Welt gegenüber der
politisch, militärisch, ökonomisch, technologisch und auch
kulturell dominierenden westlichen Welt verhalten, ohne dass sie der
McDonaldisierung anheimfällt?
Der Stellenwert der bildenden Kunst in der
modernen islamischen Kultur
Lassen Sie mich zunächst als Beispiel einen Bereich
herausgreifen, der bisher wenig in die zahlreichen unterschiedlichen
innerislamischen und islamisch-westlichen Diskussionen einbezogen
worden ist, den der bildenden Kunst. Man mag ihn für marginal
halten. Er ist aber sehr konkret und macht mit einem Aspekt moderner
islamischer Kultur bekannt, der für die westliche Öffentlichkeit
durchaus von Interesse ist. Bekanntlich ist die Haltung des
islamischen Rechts gegenüber bildlichen Darstellungen von Menschen
oder überhaupt lebenden Wesen eher zurückhaltend. Es ist sicher
nicht ausreichend differenziert, wenn man von einem Bilderverbot im
Islam spricht, denn viele islamische Hochkulturen haben eine
bemerkenswerte Malerei, vor allem im Bereich der Miniaturen,
entwickelt.
Islamische bildende Kunst durch die Kalligraphie
geprägt
Seit den 20er Jahren unseres Jahrhunderts gibt es nun in der
Mehrzahl der islamischen Staaten Kunstakademien, in denen junge
Menschen zunächst von europäischen, später auch von einheimischen
Lehrern in moderne Formen von bildender Kunst eingeführt und
schließlich auch selbst Maler oder Bildhauer werden. Diese jungen
Künstler kennen natürlich die europäischen und amerikanischen
Kunstentwicklungen dieses Jahrhunderts und haben sich von ihnen
inspirieren lassen. Angesichts ihrer Werke wird man in vielen
Fällen kaum feststellen können, woher die Künstler stammen. Ihre
Werke weisen keinen spezifisch islamischen Charakter auf. Ihre
Herkunft lässt sich in der Regel aus den Motiven herleiten, nicht
jedoch aus der Technik oder dem Stil. Den Werken älterer Künstler
sieht man noch die Suche an. Sie wirken oft recht amateurhaft.
Gegenwartskunst ist sehr vielfältig
Heute ist die Szene insgesamt sehr vielfältig und kaum noch zu
überblicken. Es gibt deutliche nationale Sonderentwicklungen.
Zugleich besteht aber auch eine enge Verbindung von Künstlern der
islamischen Welt zur internationalen Kunstszene unseres
Jahrhunderts, von den Impressionisten über die Expressionisten, von
Pop- und Op-art bis hin zu aktuellen Bewegungen. Insofern haben wir
es mit einer Globalisierung auch im Bereich der bildenden Kunst zu
tun. Daneben findet sich aber auch eine spezifische Form von
moderner islamischer Kunst, die sich vom Nahen Osten bis nach
Südostasien feststellen lässt. Das ist die Rückkehr zur
Kalligraphie, die wir in den wichtigsten künstlerischen Zentren der
islamischen Welt feststellen können. Diese Art und Weise des
Umgangs mit der Linie, die ja eine Vielzahl von künstlerischen
Ausdrucksmöglichkeiten bietet, findet sich bisher ausschließlich
in einem künstlerischen Kontext mit islamischem Hintergrund,
wenngleich sich der ästhetische Reiz dieser Werke auch demjenigen
nicht verschließen wird, der aus einem anderen kulturellen Kontext
stammt (Peter Heine, Moderne Malerei in der islamischen Welt, in: W.
Ende und U. Steinbach (Hrsg.), Der Islam in der Gegenwart, München
1994, Seite 784 – 793).
Gemeinsamkeiten westlicher und islamischer
Kunst
Vergleichbare Entwicklungen ließen sich auch aus dem Bereich der
Literatur und des Films beibringen, während sich die Bereiche der
E-Musik der gegenseitigen Befruchtung in der Moderne fast
verschließen. Dies mag mit der Tatsache zusammenhängen, dass die
sogenannte ernste Musik ein nahezu ausschließliches westliches
Phänomen darstellt. Auf den Einfluss der türkischen Musik auf
Mozart oder auch Beethoven muss ich nicht weiter eingehen. Aber
westliche E-Musik hat auf einen vergleichbaren Musikbereich in der
islamischen Welt kaum Einfluss gehabt. Anders wäre es hier mit dem
Jazz und der Unterhaltungsmusik, bei denen der Austausch
beträchtlich ist. Hier finden sich in der Melodik und in der
Rhythmik zahlreiche gegenseitige Beeinflussungen.
Die Bewegung der ,Islamisierung des Wissens'
Ein anderer interessanter Aspekt kultureller Produktion hat
bisher kaum das Interesse westlicher Beobachter der islamischen Welt
über den engen Kreis der Spezialisten hinaus gefunden. Es ist der,
der unter der Bezeichnung ‚Islamisierung des Wissens‘ die
Debatten unter muslimischen Intellektuellen in der gesamten
islamischen Welt mitbeeinflusst. Auf die Konfrontation mit dem
Westen haben muslimische Gelehrte und Intellektuelle seit jeher auf
verschiedene Arten reagiert. Sie sahen in den westlichen
Errungenschaften und Erfindungen auf technologischem,
wirtschaftlichem, sozialem oder politischem Gebiet zunächst ideale
Ergebnisse menschlichen Schöpfergeistes und gingen vereinzelt sogar
so weit, die wissenschaftlichen Bemühungen westlicher Herkunft als
eine ideale Form islamischer Praxis zu betrachten. Je bekannter
Muslimen der Westen jedoch wurde und je deutlicher z.B. die
wirtschaftlichen, strategischen und politischen Interessen
westlicher Mächte an der islamischen Welt wurden, um so kritischer
betrachteten sie nun auch die Ergebnisse westlicher intellektueller
Bemühungen. Vor allem aber wehrten sie sich gegen jede Art der
Verächtlichmachung des Islams und islamischen Lebens durch den
Westen und gegen das Vorurteil der mangelnden schöpferischen Kraft
der islamischen Kulturen. Die Kontroverse zwischen dem muslimischen
Reformer Djamal al Din al-Afghani und dem französischen Philosophen
Ernest Renan zu Ende des vergangenen Jahrhunderts ist der Beginn von
Auseinandersetzungen, die bis zum heutigen Tag angehalten haben. Die
Debatte um die Islamisierung des Wissens muss in diesem Kontext
gesehen werden. Wichtige Zentren dieser Bewegung finden sich in
verschiedenen Regionen der Welt: in Ägypten, Malaysia, den USA und
auch in Deutschland. Angesichts der wachsenden Bedeutung, die der
Islam in Südostasien für den Weltislam gewinnt, soll die Bewegung
in Malaysia besonders betrachtet werden.
Islamisierung durch entsprechende
Koraninterpretationen
Träger der ,Islamisierung des Wissens` sind nicht etwa die
Religionsgelehrten Malaysias, die ihre Ausbildung häufig an den
großen Zentren islamischer Gelehrsamkeit in Ägypten, Marokko oder
in Mekka genossen haben. Traditionell ausgebildete Gelehrte wie
Muhammad Abduh oder Muhammad Rashid Rida z.B., versuchten durch
entsprechende Interpretation des Korans nachzuweisen, dass auf das
Sonnensystem oder die Kernspaltung schon im heiligen Buch der
Muslime hingewiesen worden sei. Die Debatte um die ,Islamisierung I
des Wissens` geht vielmehr von Personen aus, die entweder an
westlich orientierten Universitäten des Landes oder an
Universitäten im Westen, also in den USA oder Westeuropa - vor
allem England - studiert haben. Viele von ihnen sind darüber hinaus
von muslimischen Wissenschaftlern, die vor allem in den USA lehren
oder gelehrt haben, beeinflusst. Zu nennen wären hier Sayid Husein
Nasr oder Ismail al-Faruqi.
Fallbeispiel Malaysia
Als typisches Beispiel dieser Gruppe der ,Islamisierung des
Wissens‘- Bewegung mag Osman Bakar gelten, der zu Beginn der
achtziger Jahre Generalsekretär des "Muslim Youth Movernent of
Malaysia" und einer der Gründungspräsidenten der "Islamic
Academy of Science" von Malaysia (Gründungsjahr 1977) war. Wie
Sayid Husein Nasr betont Bakar in seinen Schriften die Bedeutung des
Glaubens bei der wissenschaftlichen Forschung. Er stellt fest:
"The extensive use of logic in Islam did not lead to the kind
of rationalism and logicism one finds in the modern West precisely
because the use of reason was never cut off from faith in divine
revelation" (Osman Bakar, Tawhid and Science. Essays on the
History and Philosophy of Islamic Science, Kuala Lumpur 1991, Seite
4). Der zentrale Begriff des Denkens der ,Islamsierung des Wissens‘
- Bewegung ist ,tawhid‘ (Einheit), also die zentrale Idee
islamischen Denkens überhaupt. Um noch einmal Bakar zu zitieren:
"In Islam religious consciousness is the source of scientific
spirit in all domains of knowledge... Similarly, the idea of
objectivity which is so essential to the scientific enterprise is
inseparable from religious consciousness and spirituality"
(A.a.O., Seite 11).
Die Wichtigkeit des Begriffes "tawhid"
Die überragende Bedeutung und vielseitige Anwendung des Begriffs
,tawhid' im Denken dieser Malaysier wird auch deutlich bei Anwar
Ibrahim, der Finanzminister des Inselstaates war. Er geht von der
Einheit Gottes aus und schließt von ihr auf die Einheit der
Menschheit. So kann er dann auf die Ablehnung jeder Form von
rassischer oder nationaler Diskriminierung im Islam schließen. Ein
anderer Aspekt von ,tawhid’ ist die Vorstellung einer
Wissenshierarchie. Osman Bakar schreibt: "As long as Muslims
were faithful to the true spirit of ,tawhid', implying the
faithfulness to the idea of hierarchy and unity of knowledge, they
were spared of that unfortunate and intellectually precarious
situation whereby one mode of knowing is affirmed at the expense of
other modes"(Bakar 1991, Seite 5). Wissenschaftliches Arbeiten
und Forschen ohne eine Verankerung oder einen festen Bezug zu
religiösen Vorstellungen wird hier als vom Ergebnis her
unbefriedigend oder problematisch angesehen. Weil die Bewegung der
,Islamisierung des Wissens' die Verbindung von Forschung und Glauben
im Gegensatz zur westlichen Wissenschaft nicht aufgegeben hat, ist
sie dieser notwendigerweise überlegen.
Kritische Stimmen zur Islamisierung
Natürlich ist dieBewegung der ,Islamisierung des Wissens’
nicht ohne Kritik geblieben, die vor allem von säkularistischen
Intellektuellen aus islamischen Ländern vorgetragen wurde. Dabei
kritisierten sie vor allem jene Bereiche der Bewegung, in der mit
quasi-naturwissenschaftlichen Methoden koranische Aussagen
verifiziert werden sollten, wie das schon zu Beginn unseres
Jahrhunderts unter sogenannten Modernisten in der islamischen Welt
üblich gewesen war. Sie machen sich lustig über die Behandlung der
Frage, wie hoch die Temperaturen in der Hölle seien oder wie die
Himmelfahrt des Propheten Muhammad technisch vor sich gegangen sei.
Dennoch wird man vor allem in den Bereichen von Philosophie,
Soziologie und Anthropologie die Bedeutung der ,Islamisierung des
Wissens' für die weitere Entwicklung islamischen Denkens kaum
gering schätzen dürfen.
Konzentration auf nur ein bestimmtes Wissen ist
ein globaler Trend
Man kann den Komplex der Islamisierung des Wissens unter den
verschiedensten Aspekten betrachten und beurteilen. Er könnte
verglichen werden mit den Vorstellungen von protestantischen
amerikanischen Creationisten, die sich scharf gegen
evolutionistische Theorien wenden, oder mit der wissenschaftlichen
Praxis, wie sie von der Bar Ilan-Universtät in Israel bekannt ist,
die einen Schwerpunkt in Forschung und Lehre im Bereich der
Naturwissenschaften aufweist, an der es jedoch keine medizinische
Fakultät gibt, weil das jüdische Recht die Sektion von
menschlichen Körpern verbietet. Insofern ist die islamische
Bewegung der ,Islamisierung des Wissens` Teil einer globalen
Bewegung. Interessant ist aber im malaysischen Fall ein anderer
Aspekt: Es sind vor allem Teile der neuen, westlich ausgebildeten
Eliten, die sich in dieser Bewegung engagieren. Man könnte im Fall
Malaysia von einer Re-Islamisierung von oben sprechen, also dem
Versuch der politischen Eliten, durch die ,Islamisierung des
Wissens' einem Phänomen zu begegnen, das z.B. in Ägypten oder
Algerien den herrschenden Kreisen große Schwierigkeiten bereitet,
nämlich der sogenannte islamische Fundamentalismus, der dort in
nicht geringem Maße eine Bewegung der Unter- und unteren
Mittelschicht darstellt und deren soziale Momente jedem Beobachter
offenbar sind. Indem die malaysische Führung den Islam in einer
modernen, den Gegebenheiten des heutigen Malaysia angemessenen Form
propagiert, verhindert sie fundamentalistische Exzesse nahöstlicher
oder nordafrikanischer Form (Friedemann Büttner, Zwischen
Politisierung und Säkularisierung - Möglichkeiten und Grenzen
einer Integration der Gesellschaft, in: Erhard Forddran (Hrsg.),
Religion und Politik in einer säkularisierten Welt, Baden-Baden
1991).
Entwicklung in der islamischen Welt als
Reaktion auf den Westen
So bedeutsam die genannte Bewegung für die weitere Entwicklung
der islamischen Welt in den kommenden Jahrzehnten auch sein mag, sie
wird stets eine Reaktion auf den Westen in einer nicht-westlichen
Umgebung bleiben. Der Westen wird weiterhin die dominierende
politische, ökonomische, technologische und auch intellektuelle
Größe in der durch die Globalisierung immer enger
zusammenrückenden Welt bleiben. Von daher sind die Muslime, die in
den verschiedenen westlichen Staaten in der Diaspora leben, für die
Zukunft des Islams von entscheidender Bedeutung. Sie sehen sich in
besonderer Weise dem Einfluss westlicher Vorstellungen ausgesetzt
und müssen mit den besonderen Bedingungen westlicher Gesellschaften
umzugehen lernen. Dies ist ein komplizierter Prozess, der hier
unmöglich in allen Aspekten dargestellt werden kann, selbst wenn
alle bisherigen Quellen der Analyse zugänglich wären. Gerade
diejenigen, die sich in der westlichen Welt der wissenschaftlichen
Erforschung des Islams widmen, müssen sich zurecht den Vorwurf
gefallen lassen, dass sie hier auf geradezu sträfliche Weise ein in
jeder Hinsicht wichtiges Forschungsfeld unbeackert gelassen haben.
Beispiel: Religionsunterricht für muslimische
Kinder in Deutschland
Ich möchte im folgenden auf ein spezifisch deutsches Problem
eingehen, das zugleich die Situation des Islams in ganz Europa
beleuchtet. Von den zwei bis drei Millionen Muslimen in Deutschland
ist ein sehr großer Teil noch im schulpflichtigen Alter. Die
muslimischen Kinder gehen, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, in
die deutschen Regelschulen, also Grund- und Hauptschulen und die
verschiedenen weiterführenden Schulen. Zurechtist festgestellt
worden, dass die Bildungsbereitschaft in der muslimischen
Bevölkerung sehr hoch ist, auch wenn sich diese in der Realität
nicht in allen Fällen umsetzen lässt. Gemäß der deutschen
Verfassung, dem Grundgesetz, haben alle Kinder Anspruch auf
Religionsunterricht. Viele Juristen sind der Meinung, dass dieses
Recht auch für muslimische Kinder zu gelten habe. Nun steht die
Frage des Religionsunterrichts derzeit in Deutschland ganz allgemein
zur Diskussion. Das hängt mit der Tatsache zusammen, dass sich im
Rahmen des Einigungsprozesses das Problem ergeben hat, dass in
einigen der neuen Bundesländer die Zahl der Deutschen, die sich
überhaupt einer Religionsgemeinschaft zugehörig fühlen - ob sie
nun praktizieren oder nicht - teilweise unter 10 Prozent liegt. Ich
selbst lebe in einer kleinen Stadt am Rande von Berlin, in der von
27.000 Einwohnern ca. 1.600 Protestanten und 300 Katholiken sind.
Die weit überwiegende Mehrheit gehört überhaupt keiner
Religionsgemeinschaft an. Der Streit in den Bundesländern Berlin
und Brandenburg geht darum, ob anstelle des Religionsunterrichts ein
Fach ‚Lebenskunde - Ethik - Religion' (LER) betreiben sollte, in
dem dann auch religionsgeschichtliche und religionswissenschaftliche
Kenntnisse über die großen Weltreligionen vermittelt werden
sollten. Hier hätte sicherlich auch der Islam seinen Platz. Im
größeren Teil der Bundesrepublik Deutschland wird jedoch
Religionsunterricht angeboten, der für christliche Kinder bis zum
14. Lebensjahr obligatorisch ist.
Problem bei der Abhaltung muslimischen
Unterrichts
Angesichts dieser Sachlage darf es nicht verwundern, dass die
verschiedenen kleineren oder größeren islamischen Organisationen
in Deutschland seit vielen Jahren auch eine religiöse Unterweisung
für muslimische Kinder in deutschen Schulen fordern. Sie werden
dabei von den großen christlichen Kirchen unterstützt. Die
deutschen Schulbehörden hatten ihrerseits darauf verwiesen, dass in
dem für ausländische Kinder obligatorischen muttersprachlichen
Unterricht die Möglichkeit einer religiösen Unterweisung bestehe.
Hier entstand nun ein recht vielschichtiges Problem: Die
überwiegende Zahl der Muslime in Deutschland stammt aus der
Türkei, die sich als säkularer Staat sieht. Zahlreiche aus der
Türkei entsandte Lehrer kamen seit den 70er Jahren nach
Deutschland, um diesen Unterricht für Kinder aus der Türkei
durchzuführen.
Wer soll die Kinder unterrichten?
Es ergaben sich eine Reihe von Schwierigkeiten, was den Aspekt
der religiösen Unterweisung betrifft. Zunächst einmal fehlte einem
Teil dieser Lehrer eine ausreichende Kenntnis des Islams, da sie aus
einem religionssoziologischen Kontext in der Türkei stammten, in
dem Religion keine besondere Rolle spielte oder der, im Gegenteil,
von anti-religiösen Vorstellungen geprägt war. Von diesen war eine
religiöse Unterweisung für muslimische Kinder nur schwer zu
erwarten. Auch Lehrer, die sich als praktizierende Muslime sahen,
fanden sich in einer Konfliktsituation, da sie Repräsentanten eines
säkularen Staates waren, der seit Jahrzehnten die Vorstellung von
Religion als Privatsache zu einem seiner wichtigsten ideologischen
Grundsätze gemacht hatte.
Koranschulen entstehen
Dazu kam, dass sich im Schutze der verfassungsmäßig verbrieften
Religions- und Meinungsfreiheit in Deutschland eine Reihe von
islamischen - vornehmlich türkischen - Organisationen, etablierten.
Sie richteten Beträume und Moscheen ein, boten den aus der Türkei
stammenden Migranten die Möglichkeit, sich zu treffen und
entwickelten verschiedene Sozialprogramme. Schließlich richteten
sie auch Koranschulen ein, die von den Familien weniger religiöser
Migranten gerne genutzt wurden, da sie als eine Art von
Aufbewahrungsstätten für Kinder von Eltern fungierten, die durch
die entsprechenden zeitlichen Arbeitsregelungen ihre Kinder nicht
beaufsichtigen konnten. Diese Koranschulen waren allerdings recht
problematische Einrichtungen. Die dort tätigen, meist älteren
Lehrkräfte waren in der Regel für den Unterricht nicht
religionspädagogisch ausgebildet, sodass sie auf die Kinder, die ja
zugleich eine deutsche Schule besuchten, entsprechend eingehen
hätten können. Sie gingen bei der Vermittlung des heiligen Buches
der Muslime so vor, wie sie es in ihrer Jugend erfahren hatten. Sie
vermittelten also nur ein rein phonetisches Memorieren des
arabischen Textes ohne nähere Erklärungen, nicht zuletzt, weil sie
selbst des Arabischen nicht mächtig waren. Körperstrafen waren
nicht unüblich.
Medien greifen Situation in den Koranschulen
auf
Im Zusammenhang mit den innenpolitischen Auseinandersetzungen in
der Türkei der 70er und frühen 80er Jahre, die sich auch auf die
aus der Türkei stammenden Migranten auswirkten, wurde dann in
verschiedenen deutschen Medien immer wieder auf die Situation in den
Koranschulen hingewiesen. Mit einem wachsenden Interesse der
deutschen Öffentlichkeit an der islamischen Welt und damit auch an
den damals schon ca. 1,8 Millionen Muslimen in Deutschland Ende der
70er Jahre wurden auch die ersten ernsthaften Überlegungen für
eine religiöse Unterweisung von muslimischen Kindern in Deutschland
angestellt. Pädagogen und Vertretern der Schulverwaltungen wurde
wohl als erster größerer Gruppe in Deutschland klar, dass der
Islam ein dauerhaftes Phänomen in diesem Land geworden ist. Die
inzwischen gegründeten islamischen Großorganisationen forderten
ebenfalls immer deutlicher das durch das Grundgesetz verbriefte
Recht muslimischer Kinder auf religiöse Unterweisung. Vorreiter in
diesem Bereich war dann die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen,
an deren Landes-Institut für Curricularforschung ein Lehrgang zur
religiösen Unterweisung von muslimischen Kindern an deutschen
Schulen entwickelt wurde.
Probeweise zweisprachiger Unterricht
Dabei ging man von der Überlegung aus, dass Unterrichtssprache
Deutsch sein sollte. Zwar stammt die überwiegende Mehrzahl der in
Deutschland lebenden Muslime aus der Türkei, doch beherrschen nicht
alle türkischen Staatsbürger das Türkische als Muttersprache.
Zudem kommen etwa 20 Prozent der in Deutschland lebenden Muslime aus
anderen Teilen der islamischen Welt. Inzwischen hat etwa eine
Viertelmillion Muslime die deutsche Staatsbürgerschaft. Der Kurs
wurde also zweisprachig, deutsch-türkisch, ausgearbeitet und in
einigen Schulen des Landes probeweise im Unterricht verwendet. Zu
den Autoren des Unterrichtswerks gehörten deutsche nicht
muslimische und nicht-deutsche muslimische Mitarbeiter. In der
Einleitung dieser Veröffentlichung wurde deutlich gemacht, dass die
Verfasser die fachkundige Hilfe von westlichen Islamwissenschaftlern
ebenso wie von muslimischen Wissenschaftlern eingeholt hätten. Zu
letzteren gehört z. B. der gegenwärtige ägyptische Minister für
religiöse Angelegenheiten Zaqzuq, der in Deutschland mit einer
philosophiegeschichtlichen Arbeit über al-Ghazzali und Descartes
promovierte und lange Jahre Professor für Philosophie an der
Azhar-Hochschule in Kairo war.
Zweisprachiges Modell ruft Konflikte hervor
Allerdings ergaben sich bald eine Reihe von Konflikten um dieses
Unterrichtswerk, die einen bezeichnenden Blick auf die Situation des
Islams in Deutschland möglich machen. Die offiziellen Vertreter des
Islams in der Türkei, die in den diplomatischen Vertretungen des
Landes als ,Religions-Attaches' installiert sind, lehnen dieses
Soester Modell ab, weil als Unterrichtssprache Deutsch vorgeschlagen
wird. Von offizieller türkischer Seite wird befürchtet, dass die
Schüler durch die deutsche Unterrichtssprache ihrer Herkunftskultur
weiter entfremdet werden und dass sie ihre türkisch-muslimische
Identität zugunsten einer deutsch-muslimischen aufgeben. Dass damit
der Einfluss türkischer staatlicher Autoritäten auf in Deutschland
lebende Türken zurückgehen wird, wird nicht gesondert
angesprochen, spielt aber in diesem Zusammenhang eine nicht zu
unterschätzende politische Rolle. Aus meiner Sicht können die
deutschen Schulaufsichtsbehörden allerdings auf diese Position der
türkischen Seite keine Rücksicht nehmen. Formalrechtlich ist der
Schulunterricht eine hoheitliche Aufgabe, die von staatlichen
Stellen bestimmt und überwacht werden muss. Daher ist es nicht
statthaft, dass ein fremder Staat Einfluss auf deutsche hoheitliche
Aufgaben zu nehmen versucht. Etwas anderes wäre es, wenn in
Deutschland Schulen mit türkischem Curriculum eingerichtet würden,
die auch von der türkischen Seite finanziert würden. So etwas
wäre formal rechtlich möglich, wenngleich es eine ganze Reihe von
Problemen hinsichtlich des Zusammenlebens von Deutschen und aus der
Türkei stammenden Migranten mit sich brächte.
Ungenügend hohe Bedeutung der türkischen
Sprache
Neben diesen rechtlichen Bedenken spielt ein anderes aber eine
größere Rolle. Der Islam ist eine Universalreligion, in der der
türkische Islam eine bestimmte, bezüglich der aktuellen
religiösen oder theologischen Diskussionen aber durchaus keine
bestimmende Rolle spielt. Traditionell bestimmend ist weiterhin die
arabische Welt mit ihren Zentren in Kairo, Tunis, Fez und Mekka.
Lingua franca in diesem Kontext war immer das Arabische, zu dem sich
inzwischen das Englische gesellt hat. Letzteres hängt gewiss mit
der Tatsache zusammen, dass an Universitäten in Kanada und den USA,
zu nennen wären McGill und Tempelton, einige der originellsten
muslimischen Denker (Ismail Radji al-Faruqi, Sayid Husein Nasr,
Fazlur Rahman, Sayid Naqub al-Attas) gelehrt haben oder noch lehren,
die eine Vielzahl von begabten Studenten aus der gesamten
islamischen Welt angezogen haben, die ihrerseits in ihrer Heimat die
Vorstellungen ihrer Lehrer bekannt machen. In allen diesen
theologischen Diskussionszusammenhängen spielen türkische Gelehrte
derzeit keine herausragende Rolle. Unabhängig davon kann es aber
nicht angehen, dass religiöse Unterweisung für türkische,
kurdische, arabische, pakistanische, berberische, somalische und
nicht zuletzt deutsche Kinder an einer deutschen Schule in
türkischer Sprache erfolgt.
Nicht-türkische Kinder sind ausgeschlossen
Der gegenwärtige Stand ist aber doch wohl, dass Türkisch
benutzt wird und dadurch nicht-türkische Kinder von dieser Form der
religiösen Unterweisung ausgeschlossen sind. Das hängt nicht
zuletzt mit der Tatsache zusammen, dass das entsprechende
Unterrichtspersonal türkischer Herkunft ist. Es mangelt an
qualifizierten Lehrkräften aus anderen islamischen Ländern oder
aus Deutschland. Zwar ist die Zahl junger muslimischer Studierender
an deutschen Hochschulen und Universitäten auch in den
Lehramtsstudiengängen beständig im Steigen begriffen. Die
entsprechenden religionspädagogischen Angebote der Universitäten
für diese Studierenden sind bisher jedoch immer noch sehr gering.
Es fehlt in Deutschland eine islamischtheologischen Hochschule oder
eine entsprechende Fakultät an einer der Universitäten.
Fundamentalistische Tendenzen im
Unterrichtsmaterial
Ein anderes Problem des Islams in Deutschland, das auch auf der
europäischen Ebene feststellbar ist, wird im Zusammenhang mit der
religiösen Unterweisung für muslimische Kinder ebenfalls deutlich.
Durch einen Zufall hatten sich in Soest Ende der 60er Jahre der
Islamrat der Muslime in Deutschland und das Deutsche Islamarchiv
angesiedelt, beide seinerzeit unter der Leitung des deutschen
Muslims Muhammad Salim Abdullah. Es lag für die Mitarbeiter des
Unterrichtswerks für die religiöse Unterweisung von muslimischen
Kindern an deutschen Schulen nahe, sich an diese benachbarte
Einrichtung zu wenden und eine Kooperation zu beginnen. Kaum war der
erste Band des Unterrichtswerks veröffentlicht, hagelte es auch
schon Kritik und Proteste von konkurrierenden islamischen
Organisationen. Dem Islamrat und dem Islamarchiv wurde große Nähe
zu oder gar Kontrolle durch die Milli-Görüsh-Bewegung vorgeworfen.
Muslimische Kritiker sahen daher in dem Unterrichtswerk
entsprechende ,fundamentalistische‘ Tendenzen. Sie bedauerten,
dass sie selbst von der Mitarbeit an dem Werk ausgeschlossen worden
seien.
Fehlen einer gemeinsamen Linie
Diese Reaktion ist typisch. Es ist dem Islam in Deutschland
bisher noch nicht gelungen, einheitliche Strukturen aufzubauen, die
es ihm möglich machen, mit einer Stimme gegenüber der deutschen
Öffentlichkeit aufzutreten und seine Anliegen und berechtigten
Interessen zu vertreten. Die immer wieder nach außen dringenden
Kontroversen innerhalb der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland
schwächen diese. Dieses Problem wird von zumindest einem Teil der
in Deutschland lebenden Muslime inzwischen auch erkannt. Mit einer
weiteren Germanisierung des Islams in Deutschland, d.h. mit einer
Zunahme deutscher Staatsbürger muslimischen Glaubens, einer
größeren Zahl von deutschen Muttersprachlern usw., werden sich in
dieser Hinsicht sicherlich positive Veränderungen ergeben. Die
islamische Welt hat sich in einem erstaunlichen Maße auf die
Herausforderungen der Globalisierung im kulturellen Bereich
eingestellt. Sie ist in ihrer Gesamtheit keinesfalls der rückwärts
gewandte Teil der Welt, als der sie immer wieder beschrieben wird.
Ihre Probleme mit einer säkularisierten Welt unterscheiden sich
kaum von denen der anderen großen Religionsgemeinschaften. Ich kann
mich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, dass die islamische Welt
aufgrund ihrer andersgearteten historischen Erfahrungen - vor allem
in der Zeit des Kolonialismus - sehr viel flexibler reagiert als
z.B. die christlichen Kirchen.
Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn
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