Islamische Ethik als Gesetzesethik und die Rolle des einzelnen
Gläubigen
Der Islam ist aus der Sicht der Muslime deshalb die Vollendung
der Religionen, weil in ihm Gottes Offenbarung im Koran in
Reinformat bewahrt ist, ohne menschliche Beifügungen oder
Weglassungen. Dies bedeutet neben der Weitergabe der richtigen
Gotteslehre auch die Bewahrung aller Anweisungen für das richtige
Handeln, also das, was man gewöhnlich als islamische Ethik
bezeichnet.
Nach islamischer Überzeugung enthält der Koran in seinen 114
Textabschnitten (Suren) Gottes Offenbarung, wie sie in arabischer
Sprache und Schrift von Gott selbst verfasst und vom Propheten
Muhammad vorgetragen wurde. Dies geschah in der Zeit zwischen ca.
610 und 632 n. Chr. zunächst in Muhammads Geburtsort Mekka und
dann, nach der Auswanderung im Jahre 622 n. Chr., in Medina bzw. im
neuentstandenen islamischen Stadtstaat, aus dem dann das islamische
Reich werden sollte,. Die beiden Phasen der Verkündigung (Mekka und
Medina) sind durch inhaltlich verschieden gesetzte Schwerpunkte
gekennzeichnet, wie sich aus jeder arabischen Textausgabe des Korans
bzw. aus den Koranübersetzungen bei Reclam oder von A. Th. Khoury
leicht ersehen lässt, weil dort bei jeder Sure vermerkt ist, ob sie
traditionellerweise der mekkanischen oder der medinensischen Phase
zuzurechnen ist. Während in der mekkanischen Botschaft der
Hauptakzent auf dem Monotheismus und einer allgemeinen Ethik im
Sinne der zweiten mosaischen Tafel der Zehn Gebote liegt, ist die
Verkündigung in der medinensischen Phase dadurch gekennzeichnet,
dass in dieser islamischen Gemeinde (umma) nun immer konkretere
Fragen des täglichen Lebens geregelt und dadurch - der Tendenz nach
– alle Bereiche des menschlichen Lebens betroffen sind. Aus
islamischer Sicht ist dieser regulative Aspekt ein Vorzug gegenüber
vielen vorausgehenden Offenbarungsüberlieferungen da darin
grundlegende Verhaltensvorschriften für die Menschen enthalten
sind.
Keine Einschränkung der persönlichen Freiheit
durch Gottes Gesetze
Es gehört sicherlich zur Besonderheit der christlichen
Tradition, dass sie seit Paulus die Freiheit als Gegenbegriff zum
Gesetz sieht und folglich das Gesetz in einem eher negativen
Assoziationsrahmen ansiedelt, so dass Begriffe wie Gesetzesethik und
noch stärker Gesetzesreligion von vornherein etwas Negatives
implizieren. Seitdem zudem noch die Tiefenpsychologie in Anlehnung
an S. Freud populär geworden ist, verbindet sich damit weiterhin
die Vorstellung von einem repressiven Gesetzesverständnis, so dass
ein ausschließlich an einer Gesetzesethik orientiertes Verhalten
eigentlich zu Neurosen und persönlicher Unfreiheit führen müsste.
Weder diese noch die negative Sichtweise des Gesetzes sind für den
Bereich des Islams zu belegen. Im Gegenteil, Muslime treten im
allgemeinen recht selbstbewusst auf und glauben, dass durch die
Absenz eines Mittlers oder Geistlichen im sunnitischen Islam stehen
alle Menschen vor Gott egalitär in einer Reihe. Was Gott von ihnen
will, ist klar: Islam, d. h. die Unterwerfung unter seinen Willen,
was durch den Gehorsam gegenüber seinem Gesetz zum Ausdruck
gebracht wird. Damit wird jener Zustand der Unordnung auf Erden
beseitigt, der für die Welt vor dem Islam für typisch gehalten
wird.
Islam als Psychotherapeut der restlichen Welt
Was das konkret bedeutet, hat vor einigen Jahren bei einer
Podiumsdiskussion der Konrad-Adenauer-Stiftung der pakistanische
Rechtsgelehrte Brohi beschrieben: Die Funktion des Islams in der
Welt ist nach ihm mit der eines Psychotherapeuten vergleichbar, der
unter ungewöhnlichen Umständen arbeiten muss. Während ein
Psychotherapeut normalerweise jemandem mit deutlich abweichendem
Verhalten dadurch wieder zu Normalität verhelfen kann, dass er ihn
dahin bringt, das, was die Mehrheit für die Norm hält, auch für
sich zu akzeptieren, kann ein Therapeut, der in einem Irrenhaus
arbeitet, die Norm nicht durch das Mehrheitsvotum der anderen
feststellen. Soll hier überhaupt eine Norm festgelegt werden, so
ist dies nur dann möglich, wenn sie von außen eingegeben und
einfach als gültig festgesetzt wird. Der Islam, so folgert Brohi,
ist ein solcher Therapeut, der in diesem weltumspannenden Irrenhaus
der Menschheit sagt, wo und wie die Orientierung ist. Das richtige
Verhalten des sich von Natur aus eher rebellisch gebärdenden
Menschen ist demnach die Bereitschaft, sich Gottes Willen zu
unterwerfen, d. h. Islam zu üben.
Wirksamwerden von Gottes Willen
Das Gesetz wird zur Richtschnur der Ordnung, der als
Gegenbegriffe Ungehorsam und Auflehnung gegenüberstehen. Das Gesetz
und die hier zu behandelnde Gesetzesethik sind folglich assoziativ
positiv besetzt und lassen nicht gleich nach Freiheit und
Selbstverwirklichung fragen, wie dies für den modernen
europäischen Kontext fast selbstverständlich geworden ist. Der
Hinweis auf den Gehorsam gegenüber Gottes Gesetz setzt eine gewisse
Handlungsfreiheit beim Menschen voraus. In der Tat gibt es dafür
zahlreiche Belege im Koran, wenn immer wieder dazu aufgerufen wird,
das Gute zu tun und das Böse zu lassen. Diesen Aufrufen stehen
allerdings andere Texte des Korans gegenüber, nach denen Gott
richtig leitet, wen er will, und in die Irre führt, wen er will.
Theologiegeschichtlich gab es daher Richtungen, die stärker die
Allmacht Gottes im Sinne eines Herrn, der alles macht, betonten,
während andere Schulen ein eindeutiges Plädoyer für die Freiheit
des Menschen abgelegt haben. Die bis heute bestimmende Richtung der
offiziellen Theologie (Kalam) der Sunniten vertritt in Anlehnung an
al-Ash'ari (gest. 935 n. Chr.) einen Kompromiss zwischen beiden
Positionen. Dieser erinnert stark an den christlich
mittelalterlichen concursus divinus simultaneus und geht davon aus,
dass Gott dem Menschen die Kraft zum Handeln verleiht und damit die
Handlung bewirkt, während der Mensch durch seine Tatabsicht sich
die Taten aneignet und dafür entsprechend die Verantwortung trägt.
Funktion des Koran als juristischer Leitfaden
Der Koran berührt alle Bereiche des menschlichen Handelns. Er
setzt Maßstäbe im Sinne der zweiten mosaischen Tafel der Zehn
Gebote, indem er fordert, die Eltern zu achten und zu ehren, nicht
zu morden, nicht die Ehe zu brechen, nicht zu stehlen und nicht zu
lügen. Darüber hinaus enthält er juristische Anweisungen für das
Strafrecht, wie das Abhacken der Hand bei Diebstahl, oder für das
Prozessrecht, wie das Recht der Frau als Zeugin aufzutreten, auch
wenn ihre Zeugenaussage nur halb so viel gilt wie die eines Mannes.
Auch für dass Erbrecht, wie die Erklärung, dass auch die Frau
erbberechtigt ist, wobei sie wieder nur halb so gut abschneidet wie
ein Mann in gleicher Position. Hinzu kommen Verhaltensregeln des
gesitteten Umganges wie das richtige Grüßen oder das korrekte
Betreten eines Hauses. Die Fülle dieser unterschiedlichen Bereiche
macht deutlich, dass wirklich alles religiösen Vorschriften
unterliegen kann.
Das Rechtssystem shari‘a
Bald jedoch stellte sich heraus, dass der Koran kein System für
eine solche Lösung, sondern lediglich zahlreiche Einzelfälle
enthält, so dass weitere Rechtsquellen notwendig wurden.
Zunächst sammelte man Aussprüche (Hadithe) und Verhaltensweisen
Muhammads und versuchte, aus diesen Gewohnheiten des Propheten (sunna)
Schlüsse zur Beantwortung jener Fragen zu ziehen, die im Koran
nicht behandelt wurden. Als dieses Reservoir auch nicht mehr
ausreichte, fügte man neue Möglichkeiten hinzu, wie den
Gelehrtenkonsens und den Analogieschluss, so dass aus all dem
zusammen schließlich Rechtsschulen entstanden und in jeder ein
systematischer Ansatz gefunden wurde, um neu auftretende Fragen zu
beantworten. Dieses Rechtssystem heißt shari'a. Es ist in seiner
Grundkonstruktion das Werk späterer Generationen und enthält
Koranisches wie Nichtkoranisches, ja teilweise auch Vor- bzw.
Nichtislamisches, um wirklich vollständig das Leben der Muslime als
einzelne wie in der Familie oder der Gemeinschaft zu erfassen. Es
gleicht in seiner Grundausrichtung und Struktur sehr dem jüdischen
Religionsgesetz.
Streitpunkt shari‘a
Die Berufung auf die shari'a ist folglich für manche Muslime
heute nicht ganz unproblematisch, weil nicht wenige Gruppen
einwenden, dass die verbindliche Offenbarung des Korans und das
später entwickelte shari'a-System keineswegs identisch sind und die
ewige Gültigkeit der shari'a nicht unter Berufung auf die
koranische Offenbarung verteidigt werden könne. Deshalb scheiden
sich an dieser Frage auch die Geister, weil manche, wie die
Anhänger Khomeinis, die Unverzichtbarkeit der shari'a propagieren
und sich für ihre Einführung als Staatsgesetz einsetzen Andere
dagegen, wie etwa die Muslimbrüder, erkennen nur den Koran als
Verpflichtung an. Wieder andere, wie etwa die Anhänger des Agha
Khan, erklären, man müsse selbst innerhalb des Korans noch
zwischen zeitlich Bedingtem und ewig Gültigem unterscheiden und
könne sich von daher durchaus gewisse Modifikationen im Vergleich
zu früheren Zeiten vorstellen. Diese innerislamische
Auseinandersetzung zeigt, dass die Religion sich mit dem Einbruch
der Moderne auseinandersetzen und dazu Stellung nehmen muss. Dabei
sind die Optionen keineswegs so eindeutig, wie viele Bücher bei uns
das glauben machen wollen.
Kinder erhalten eine geschlechtsspezifische
Erziehung
Die klassischen Handbücher stellen das idealtypische Verhalten
des Muslim vor. Es wird sehr deutlich erkennbar, dass alles
Verhalten auf die richtige Rolle in der Gesellschaft hinzielt. In
diesem Zusammenhang ist die geschlechtsspezifische Erziehung von
großer Bedeutung, der zufolge Mädchen auf ihre spätere Rolle als
Hausfrau und Mutter, Jungen dagegen auf die Tätigkeit außerhalb
des Hauses hin erzogen werden. Sobald sich die ersten sexuellen
Gefühle regen, wird die Trennung der Geschlechter durchgeführt.
Vor allem die Sittlichkeit der Mädchen gilt als Zeichen der Ehre
für die Familie, weshalb alle in der Familie darauf bedacht sind.
Nach der ersten Menstruation wird in vielen Familien als
Vorsichtsmaßnahme eine gewisse Verschleierung verlangt, und das
strenge Behütetsein der heranwachsenden Mädchen gilt geradezu als
Sittlichkeitsausweis für die Familie.
Gleichstellung von Frau und Mann
Frauen und Männer sind hinsichtlich ihrer Pflichten vor Gott
weitestgehend gleichgestellt sind. Beide sollen fünfmal am Tage
beten, das Fasten des Ramadan einhalten und einmal im Leben während
des Wallfahrtsmonats, wenn es die Umstände erlauben, nach Mekka
pilgern. Die in deutschen Büchern immer wieder zu findende Aussage,
im Islam habe die Frau keine Seele, entspricht nicht den
Eigenaussagen der Muslime, sondern ist eine europäische
Vorstellung, die sich aus islamischen Quellen nicht belegen lässt.
Dieser Gleichstellung von Mann und Frau vor Gott entspricht jedoch
nicht eine solche in der Gesellschaft. Wie in der klassischen
Synagoge ist auch in der Moschee die Frau entweder gar nicht oder
auf Emporen bzw. in abgeschlossenen Räumen präsent. In der
Öffentlichkeit erscheint sie stets in Begleitung entweder eines
Mannes oder mehrerer Frauen.
Eintreten für Gerechtigkeit
Als wichtigstes gesellschaftliches Ideal nennen die klassischen
Handbücher des Islams die Gerechtigkeit, und moderne Autoren fügen
gerne hinzu, dass der Islam stets um einen gewissen Ausgleich
bemüht war. Als Beleg hierfür gilt die Pflichtabgabe (Zakat), die
die Begüterten zu entrichten haben und aus deren Ansammlung dann
die Armen - übrigens Muslime wie Nichtmuslime in der Gesellschaft -
versorgt werden. Die Zakat ist die wichtigste Pflicht gegenüber der
Gemeinschaft. In Bezug auf materielle Werte wird dem Muslim
empfohlen, bescheiden zu sein, nicht prahlerisch oder
verschwenderisch aufzutreten, andererseits aber auch nicht geizig zu
sein. In Zeiten der Gefahr wird eine Solidaritätspflicht geltend
gemacht. Sie betrifft den Fall der Bedrohung des Islams und ermahnt
die Männer, sich notfalls auch unter Einsatz des eigenen Lebens
für den Islam einzusetzen.
Akzeptanz anderer Glaubensgruppen
Nichtmuslimen wird - sofern sie zu den "Buchbesitzern"
(z. B. Juden und Christen) gehören und zahlenmäßig so viele sind,
dass sie eine eigene Gemeinde bilden können - ein Existenzrecht als
religiöse Gemeinde eingeräumt. Das Ideal hierbei ist eine in sich
selbst organisierte Gemeinschaft, die nach außen durch den
religiösen Repräsentanten vertreten wird und nach innen alle ihre
Angelegenheiten selber regelt. Dies impliziert Sonderrechte wie das
Recht, Wein zu trinken für Juden und Christen, es bewirkt aber auch
Restriktionen wie die Tatsache, dass alle Führungspositionen in
Staat und Gesellschaft für Muslime reserviert sind, obwohl in der
Praxis immer wieder Ausnahmen von dieser Regel vorgekommen sind.
Vorrang der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen
Die zuletzt genannten Beispiele weisen darauf hin, dass weniger
der einzelne im Vordergrund steht als vielmehr die Gemeinschaft, was
die Frage nach der Rolle des einzelnen Gläubigen aufwirft. In den
klassischen Handbüchern des Islams ist vielfach von den Pflichten
des Menschen gegenüber Gott und der umma die Rede, von Rechten des
einzelnen wird dort nicht gesprochen. Es ist die Gemeinschaft, die
dem Kind einen Namen gibt und es damit zu einem Jemand in der
Gemeinschaft macht. Dieser Aufnahme in die Gruppe muss die
Verpflichtung zur Loyalität gegenüber der Gemeinschaft
entsprechen. Abweichendes Verhalten wird geahndet. Ganz besonders
gilt das für die Aufkündigung der Solidarität und Loyalität
durch Austritt aus dem Islam. Es ist richtig, dass es in der
islamischen Geschichte viel Freiraum für privates anderes Denken
gegeben hat, in der Öffentlichkeit jedoch hatte man immer die
eigenen Wünsche und Interessen denen der Gemeinschaft
unterzuordnen.
Konfrontation mit modernen Lebensanschauungen
Die Einführung individueller Menschenrechte, die sich auch als
Schutzschild gegen die Interessen und Auflagen der Gemeinschaft
verstehen, setzt ein prinzipielles Umdenken voraus, das in dieser
Form - vielleicht auch wegen des beschriebenen Gruppenzwanges - im
Augenblick in der islamischen Welt nicht erkennbar ist. Der Hinweis
auf die Menschenrechte zielt auf die Auseinandersetzung der Muslime
mit den Forderungen der modernen Welt. Mit diesen werden in erster
Linie die in Europa lebenden Muslime konfrontiert, weil sie sich
weit mehr als ihre Glaubensbrüder und -schwestern in orientalischen
Ländern mit den Errungenschaften und Herausforderungen der Moderne
auseinandersetzen müssen. Das Leben im "Westen"
unterwirft sie in besonderer Weise den sich wandelnden Situationen
einer Welt im Umbruch, dem sich auch die Religionen nicht entziehen
können.
Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn
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