Fachartikel

Islamische Ethik als Gesetzesethik und die Rolle des einzelnen Gläubigen

Von Peter Antes (Biografie)

 

Der Islam ist aus der Sicht der Muslime deshalb die Vollendung der Religionen, weil in ihm Gottes Offenbarung im Koran in Reinformat bewahrt ist, ohne menschliche Beifügungen oder Weglassungen. Dies bedeutet neben der Weitergabe der richtigen Gotteslehre auch die Bewahrung aller Anweisungen für das richtige Handeln, also das, was man gewöhnlich als islamische Ethik bezeichnet. 

Nach islamischer Überzeugung enthält der Koran in seinen 114 Textabschnitten (Suren) Gottes Offenbarung, wie sie in arabischer Sprache und Schrift von Gott selbst verfasst und vom Propheten Muhammad vorgetragen wurde. Dies geschah in der Zeit zwischen ca. 610 und 632 n. Chr. zunächst in Muhammads Geburtsort Mekka und dann, nach der Auswanderung im Jahre 622 n. Chr., in Medina bzw. im neuentstandenen islamischen Stadtstaat, aus dem dann das islamische Reich werden sollte,. Die beiden Phasen der Verkündigung (Mekka und Medina) sind durch inhaltlich verschieden gesetzte Schwerpunkte gekennzeichnet, wie sich aus jeder arabischen Textausgabe des Korans bzw. aus den Koranübersetzungen bei Reclam oder von A. Th. Khoury leicht ersehen lässt, weil dort bei jeder Sure vermerkt ist, ob sie traditionellerweise der mekkanischen oder der medinensischen Phase zuzurechnen ist. Während in der mekkanischen Botschaft der Hauptakzent auf dem Monotheismus und einer allgemeinen Ethik im Sinne der zweiten mosaischen Tafel der Zehn Gebote liegt, ist die Verkündigung in der medinensischen Phase dadurch gekennzeichnet, dass in dieser islamischen Gemeinde (umma) nun immer konkretere Fragen des täglichen Lebens geregelt und dadurch - der Tendenz nach – alle Bereiche des menschlichen Lebens betroffen sind. Aus islamischer Sicht ist dieser regulative Aspekt ein Vorzug gegenüber vielen vorausgehenden Offenbarungsüberlieferungen da darin grundlegende Verhaltensvorschriften für die Menschen enthalten sind.

Keine Einschränkung der persönlichen Freiheit durch Gottes Gesetze

Es gehört sicherlich zur Besonderheit der christlichen Tradition, dass sie seit Paulus die Freiheit als Gegenbegriff zum Gesetz sieht und folglich das Gesetz in einem eher negativen Assoziationsrahmen ansiedelt, so dass Begriffe wie Gesetzesethik und noch stärker Gesetzesreligion von vornherein etwas Negatives implizieren. Seitdem zudem noch die Tiefenpsychologie in Anlehnung an S. Freud populär geworden ist, verbindet sich damit weiterhin die Vorstellung von einem repressiven Gesetzesverständnis, so dass ein ausschließlich an einer Gesetzesethik orientiertes Verhalten eigentlich zu Neurosen und persönlicher Unfreiheit führen müsste. Weder diese noch die negative Sichtweise des Gesetzes sind für den Bereich des Islams zu belegen. Im Gegenteil, Muslime treten im allgemeinen recht selbstbewusst auf und glauben, dass durch die Absenz eines Mittlers oder Geistlichen im sunnitischen Islam stehen alle Menschen vor Gott egalitär in einer Reihe. Was Gott von ihnen will, ist klar: Islam, d. h. die Unterwerfung unter seinen Willen, was durch den Gehorsam gegenüber seinem Gesetz zum Ausdruck gebracht wird. Damit wird jener Zustand der Unordnung auf Erden beseitigt, der für die Welt vor dem Islam für typisch gehalten wird.

Islam als Psychotherapeut der restlichen Welt

Was das konkret bedeutet, hat vor einigen Jahren bei einer Podiumsdiskussion der Konrad-Adenauer-Stiftung der pakistanische Rechtsgelehrte Brohi beschrieben: Die Funktion des Islams in der Welt ist nach ihm mit der eines Psychotherapeuten vergleichbar, der unter ungewöhnlichen Umständen arbeiten muss. Während ein Psychotherapeut normalerweise jemandem mit deutlich abweichendem Verhalten dadurch wieder zu Normalität verhelfen kann, dass er ihn dahin bringt, das, was die Mehrheit für die Norm hält, auch für sich zu akzeptieren, kann ein Therapeut, der in einem Irrenhaus arbeitet, die Norm nicht durch das Mehrheitsvotum der anderen feststellen. Soll hier überhaupt eine Norm festgelegt werden, so ist dies nur dann möglich, wenn sie von außen eingegeben und einfach als gültig festgesetzt wird. Der Islam, so folgert Brohi, ist ein solcher Therapeut, der in diesem weltumspannenden Irrenhaus der Menschheit sagt, wo und wie die Orientierung ist. Das richtige Verhalten des sich von Natur aus eher rebellisch gebärdenden Menschen ist demnach die Bereitschaft, sich Gottes Willen zu unterwerfen, d. h. Islam zu üben.

Wirksamwerden von Gottes Willen

Das Gesetz wird zur Richtschnur der Ordnung, der als Gegenbegriffe Ungehorsam und Auflehnung gegenüberstehen. Das Gesetz und die hier zu behandelnde Gesetzesethik sind folglich assoziativ positiv besetzt und lassen nicht gleich nach Freiheit und Selbstverwirklichung fragen, wie dies für den modernen europäischen Kontext fast selbstverständlich geworden ist. Der Hinweis auf den Gehorsam gegenüber Gottes Gesetz setzt eine gewisse Handlungsfreiheit beim Menschen voraus. In der Tat gibt es dafür zahlreiche Belege im Koran, wenn immer wieder dazu aufgerufen wird, das Gute zu tun und das Böse zu lassen. Diesen Aufrufen stehen allerdings andere Texte des Korans gegenüber, nach denen Gott richtig leitet, wen er will, und in die Irre führt, wen er will. Theologiegeschichtlich gab es daher Richtungen, die stärker die Allmacht Gottes im Sinne eines Herrn, der alles macht, betonten, während andere Schulen ein eindeutiges Plädoyer für die Freiheit des Menschen abgelegt haben. Die bis heute bestimmende Richtung der offiziellen Theologie (Kalam) der Sunniten vertritt in Anlehnung an al-Ash'ari (gest. 935 n. Chr.) einen Kompromiss zwischen beiden Positionen. Dieser erinnert stark an den christlich mittelalterlichen concursus divinus simultaneus und geht davon aus, dass Gott dem Menschen die Kraft zum Handeln verleiht und damit die Handlung bewirkt, während der Mensch durch seine Tatabsicht sich die Taten aneignet und dafür entsprechend die Verantwortung trägt.

Funktion des Koran als juristischer Leitfaden

Der Koran berührt alle Bereiche des menschlichen Handelns. Er setzt Maßstäbe im Sinne der zweiten mosaischen Tafel der Zehn Gebote, indem er fordert, die Eltern zu achten und zu ehren, nicht zu morden, nicht die Ehe zu brechen, nicht zu stehlen und nicht zu lügen. Darüber hinaus enthält er juristische Anweisungen für das Strafrecht, wie das Abhacken der Hand bei Diebstahl, oder für das Prozessrecht, wie das Recht der Frau als Zeugin aufzutreten, auch wenn ihre Zeugenaussage nur halb so viel gilt wie die eines Mannes. Auch für dass Erbrecht, wie die Erklärung, dass auch die Frau erbberechtigt ist, wobei sie wieder nur halb so gut abschneidet wie ein Mann in gleicher Position. Hinzu kommen Verhaltensregeln des gesitteten Umganges wie das richtige Grüßen oder das korrekte Betreten eines Hauses. Die Fülle dieser unterschiedlichen Bereiche macht deutlich, dass wirklich alles religiösen Vorschriften unterliegen kann.

Das Rechtssystem shari‘a

Bald jedoch stellte sich heraus, dass der Koran kein System für eine solche Lösung, sondern lediglich zahlreiche Einzelfälle enthält, so dass weitere Rechtsquellen notwendig wurden.

Zunächst sammelte man Aussprüche (Hadithe) und Verhaltensweisen Muhammads und versuchte, aus diesen Gewohnheiten des Propheten (sunna) Schlüsse zur Beantwortung jener Fragen zu ziehen, die im Koran nicht behandelt wurden. Als dieses Reservoir auch nicht mehr ausreichte, fügte man neue Möglichkeiten hinzu, wie den Gelehrtenkonsens und den Analogieschluss, so dass aus all dem zusammen schließlich Rechtsschulen entstanden und in jeder ein systematischer Ansatz gefunden wurde, um neu auftretende Fragen zu beantworten. Dieses Rechtssystem heißt shari'a. Es ist in seiner Grundkonstruktion das Werk späterer Generationen und enthält Koranisches wie Nichtkoranisches, ja teilweise auch Vor- bzw. Nichtislamisches, um wirklich vollständig das Leben der Muslime als einzelne wie in der Familie oder der Gemeinschaft zu erfassen. Es gleicht in seiner Grundausrichtung und Struktur sehr dem jüdischen Religionsgesetz.

Streitpunkt shari‘a

Die Berufung auf die shari'a ist folglich für manche Muslime heute nicht ganz unproblematisch, weil nicht wenige Gruppen einwenden, dass die verbindliche Offenbarung des Korans und das später entwickelte shari'a-System keineswegs identisch sind und die ewige Gültigkeit der shari'a nicht unter Berufung auf die koranische Offenbarung verteidigt werden könne. Deshalb scheiden sich an dieser Frage auch die Geister, weil manche, wie die Anhänger Khomeinis, die Unverzichtbarkeit der shari'a propagieren und sich für ihre Einführung als Staatsgesetz einsetzen Andere dagegen, wie etwa die Muslimbrüder, erkennen nur den Koran als Verpflichtung an. Wieder andere, wie etwa die Anhänger des Agha Khan, erklären, man müsse selbst innerhalb des Korans noch zwischen zeitlich Bedingtem und ewig Gültigem unterscheiden und könne sich von daher durchaus gewisse Modifikationen im Vergleich zu früheren Zeiten vorstellen. Diese innerislamische Auseinandersetzung zeigt, dass die Religion sich mit dem Einbruch der Moderne auseinandersetzen und dazu Stellung nehmen muss. Dabei sind die Optionen keineswegs so eindeutig, wie viele Bücher bei uns das glauben machen wollen.

Kinder erhalten eine geschlechtsspezifische Erziehung

Die klassischen Handbücher stellen das idealtypische Verhalten des Muslim vor. Es wird sehr deutlich erkennbar, dass alles Verhalten auf die richtige Rolle in der Gesellschaft hinzielt. In diesem Zusammenhang ist die geschlechtsspezifische Erziehung von großer Bedeutung, der zufolge Mädchen auf ihre spätere Rolle als Hausfrau und Mutter, Jungen dagegen auf die Tätigkeit außerhalb des Hauses hin erzogen werden. Sobald sich die ersten sexuellen Gefühle regen, wird die Trennung der Geschlechter durchgeführt. Vor allem die Sittlichkeit der Mädchen gilt als Zeichen der Ehre für die Familie, weshalb alle in der Familie darauf bedacht sind. Nach der ersten Menstruation wird in vielen Familien als Vorsichtsmaßnahme eine gewisse Verschleierung verlangt, und das strenge Behütetsein der heranwachsenden Mädchen gilt geradezu als Sittlichkeitsausweis für die Familie.

Gleichstellung von Frau und Mann

Frauen und Männer sind hinsichtlich ihrer Pflichten vor Gott weitestgehend gleichgestellt sind. Beide sollen fünfmal am Tage beten, das Fasten des Ramadan einhalten und einmal im Leben während des Wallfahrtsmonats, wenn es die Umstände erlauben, nach Mekka pilgern. Die in deutschen Büchern immer wieder zu findende Aussage, im Islam habe die Frau keine Seele, entspricht nicht den Eigenaussagen der Muslime, sondern ist eine europäische Vorstellung, die sich aus islamischen Quellen nicht belegen lässt. Dieser Gleichstellung von Mann und Frau vor Gott entspricht jedoch nicht eine solche in der Gesellschaft. Wie in der klassischen Synagoge ist auch in der Moschee die Frau entweder gar nicht oder auf Emporen bzw. in abgeschlossenen Räumen präsent. In der Öffentlichkeit erscheint sie stets in Begleitung entweder eines Mannes oder mehrerer Frauen.

Eintreten für Gerechtigkeit

Als wichtigstes gesellschaftliches Ideal nennen die klassischen Handbücher des Islams die Gerechtigkeit, und moderne Autoren fügen gerne hinzu, dass der Islam stets um einen gewissen Ausgleich bemüht war. Als Beleg hierfür gilt die Pflichtabgabe (Zakat), die die Begüterten zu entrichten haben und aus deren Ansammlung dann die Armen - übrigens Muslime wie Nichtmuslime in der Gesellschaft - versorgt werden. Die Zakat ist die wichtigste Pflicht gegenüber der Gemeinschaft. In Bezug auf materielle Werte wird dem Muslim empfohlen, bescheiden zu sein, nicht prahlerisch oder verschwenderisch aufzutreten, andererseits aber auch nicht geizig zu sein. In Zeiten der Gefahr wird eine Solidaritätspflicht geltend gemacht. Sie betrifft den Fall der Bedrohung des Islams und ermahnt die Männer, sich notfalls auch unter Einsatz des eigenen Lebens für den Islam einzusetzen.

Akzeptanz anderer Glaubensgruppen

Nichtmuslimen wird - sofern sie zu den "Buchbesitzern" (z. B. Juden und Christen) gehören und zahlenmäßig so viele sind, dass sie eine eigene Gemeinde bilden können - ein Existenzrecht als religiöse Gemeinde eingeräumt. Das Ideal hierbei ist eine in sich selbst organisierte Gemeinschaft, die nach außen durch den religiösen Repräsentanten vertreten wird und nach innen alle ihre Angelegenheiten selber regelt. Dies impliziert Sonderrechte wie das Recht, Wein zu trinken für Juden und Christen, es bewirkt aber auch Restriktionen wie die Tatsache, dass alle Führungspositionen in Staat und Gesellschaft für Muslime reserviert sind, obwohl in der Praxis immer wieder Ausnahmen von dieser Regel vorgekommen sind.

Vorrang der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen

Die zuletzt genannten Beispiele weisen darauf hin, dass weniger der einzelne im Vordergrund steht als vielmehr die Gemeinschaft, was die Frage nach der Rolle des einzelnen Gläubigen aufwirft. In den klassischen Handbüchern des Islams ist vielfach von den Pflichten des Menschen gegenüber Gott und der umma die Rede, von Rechten des einzelnen wird dort nicht gesprochen. Es ist die Gemeinschaft, die dem Kind einen Namen gibt und es damit zu einem Jemand in der Gemeinschaft macht. Dieser Aufnahme in die Gruppe muss die Verpflichtung zur Loyalität gegenüber der Gemeinschaft entsprechen. Abweichendes Verhalten wird geahndet. Ganz besonders gilt das für die Aufkündigung der Solidarität und Loyalität durch Austritt aus dem Islam. Es ist richtig, dass es in der islamischen Geschichte viel Freiraum für privates anderes Denken gegeben hat, in der Öffentlichkeit jedoch hatte man immer die eigenen Wünsche und Interessen denen der Gemeinschaft unterzuordnen.

Konfrontation mit modernen Lebensanschauungen

Die Einführung individueller Menschenrechte, die sich auch als Schutzschild gegen die Interessen und Auflagen der Gemeinschaft verstehen, setzt ein prinzipielles Umdenken voraus, das in dieser Form - vielleicht auch wegen des beschriebenen Gruppenzwanges - im Augenblick in der islamischen Welt nicht erkennbar ist. Der Hinweis auf die Menschenrechte zielt auf die Auseinandersetzung der Muslime mit den Forderungen der modernen Welt. Mit diesen werden in erster Linie die in Europa lebenden Muslime konfrontiert, weil sie sich weit mehr als ihre Glaubensbrüder und -schwestern in orientalischen Ländern mit den Errungenschaften und Herausforderungen der Moderne auseinandersetzen müssen. Das Leben im "Westen" unterwirft sie in besonderer Weise den sich wandelnden Situationen einer Welt im Umbruch, dem sich auch die Religionen nicht entziehen können.

 

Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn

 

>> Keine Einschränkung der persönlichen Freiheit durch Gottes Gesetze

>> Islam als Psychotherapeut der restlichen Welt

>> Wirksamwerden von Gottes Willen

>> Funktion des Koran als juristischer Leitfaden

>> Das Rechtssystem shari‘a

>> Streitpunkt shari‘a

>> Kinder erhalten eine geschlechtsspezifische Erziehung

>> Gleichstellung von Frau und Mann

>> Eintreten für Gerechtigkeit

>> Akzeptanz anderer Glaubensgruppen

>> Vorrang der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen

>> Konfrontation mit modernen Lebensanschauungen

 
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