Fachartikel

Muhammads Ankündigung der Endzeit

Von Josef van Ess (Biografie)

 

Eine der Kernaussagen des Propheten, nämlich dass Gott die Menschen am Jüngsten Tag zur Rechenschaft ziehen wird, scheint in späterer Zeit angesichts der raschen Erfolgsgeschichte des Islam abgeschwächt. Die islamische Zeitrechnung beginnt mit der Higra, dem Zeitpunkt als der Prophet die Gelegenheit bekam, in Medina ein Gemeinwesen nach dem Willen Gottes aufzubauen. Heute geht es den Muslimen vornehmlich darum, die Gegenwart in einer Gott wohlgefälligen Art und Weise zu gestalten. Welche Entwicklung nahm die koranische Eschatologie durch die geschichtlich-gesellschaftlichen Ereignisse in den Tagen der Urgemeinde?

Zeit ist etwas, das wir täglich erfahren. Ob dies auch Weltzeit ist, bleibt eine Frage für sich. Aber eines ist klar: Unsere Zeit, d.h. die Zeit, von der wir sagen, dass wir sie haben, entzieht sich unserer Verfügung. "Die Zeit wird Herr", so spricht Mephisto, als Faust im Sterben liegt; "die Uhr steht still".

Nur Gott kann über die Zeit verfügen

Die Uhr ist das Symbol der Machtvollkommenheit des Menschen; mit ihr gestaltet er die Weltzeit. Aber für ihn selber bleibt sie irgendwann einmal stehen. Und die Endzeit, was hat dies alles mit ihr zu tun? Erst einmal nicht viel. Denn dass die Uhr nicht ewig geht, gilt prima vista allein für uns; viel weiter reicht unsere Erfahrung nicht. Wir können uns nur an Entstehen und Vergehen in der Natur orientieren. Dies auf die Welt als solche zu übertragen, ist vorläufig nicht mehr als ein Analogieschluss, von seinem Ursprung her ein theologisches Konstrukt. Dieses theologische Konstrukt hat ein ehrwürdiges Alter. Für Muhammad war es schon nicht mehr neu, auch nicht für das Christentum. Schon immer hatte man in den Fruchtbarkeitskulten des Vorderen Orients das Ende mit dem Anfang, den Tod mit der Geburt in Verbindung gebracht, und Priester, die viel Zeit zum Nachdenken hatten, hatten der Welt das gleiche Schicksal zugedacht. Es wird einen Weltuntergang geben, so hatten sie gesagt, und diesem absoluten Ende entspricht ein absoluter Anfang: die Schöpfung. Ob die Götter das Ende der Welt überleben würden, darüber ließ sich streiten. Aber auf die Dauer, mit dem Aufkommen der sogenannten Offenbarungsreligionen, war man sich sicher: Gott hat alle Zeit der Welt; er ist ewig, und er ist der einzige, für den das gilt. Er setzt den Rahmen der Zeit; denn sie entsteht mit der Welt, und sie vergeht mit ihr. Darum gibt es eine Endzeit.

Muss es eine Endzeit geben?

Wir glauben daran heute nicht mehr so recht. Der Zeitbegriff unserer Astronomen und Kosmologen sieht ganz anders aus. Für ein festes Datum der Schöpfung verkämpfen sich nur noch militante christliche Fundamentalisten; sie heißen deswegen auch "creationists" (Zu ihnen vgl. Encyclopedia of Religion (New York 1987) V 196 b und 212 ) Und was das Ende angeht - welcher Theologe schreibt heute noch über Eschatologie? In der islamischen Welt war schon im Mittelalter die Skepsis recht groß. Die Philosophen rechneten nicht mit der Endlichkeit der Welt, und sie vertraten darum auch nicht deren Geschaffenheit, zumindest nicht eine solche in der Zeit. Selbst wenn Gott alle Zeit der Welt hat, muss er die Welt ja nicht so erschaffen, wie die Theologen sich das vorstellen. Es reicht aus, dass er sie als ihre Ursache will; dann ist sie kontingent, von ihm abhängig und dennoch ewig.

Idee von der Ewigkeit der Welt geht zurück auf Aristoteles

Dieses Modell war dem theologischen an gedanklicher Stringenz überlegen. Aber es hatte - wie alle Systeme - gewisse Nachteile, und diese waren geeignet, einem gläubigen Menschen sehr schnell den Geschmack zu verderben. Gottes Wille war dann nämlich nicht mehr frei in der Wahl des Zeitpunktes; eine Ursache kann ihre Wirkung nicht verzögern. Da ein Ende nicht unbedingt vorgesehen war, blieb kein Zeitpunkt für ein abschließendes Gericht. Der Mensch bewährte sich zwar auf Erden, aber seine Seele kehrte sogleich nach dem Tode in das Jenseits zurück. Wir haben es hier mit dem Dieu des philosophes zu tun, von dem Pascal sprach. Im Islam waren die Philosophen eine Zeitlang in guter Gesellschaft. Intellektuelle aller Art hatten ihnen vorgearbeitet: Ärzte, Astrologen, Alchemisten, die Vertreter der nützlichen Wissenschaften der damaligen Zeit. Auch die Fürsten, an deren Hof sie lebten, hatten nichts gegen ihre Ansichten. Die Theorie von der Ewigkeit der Welt ging auf Aristoteles zurück; er genoss damals hohes Ansehen. Mittlerweile ist dies alles längst Geschichte. Aber selbst heutige muslimische Fundamentalisten sind keine "creationists" im amerikanischen Sinne; auch die Endzeit ist ihnen nicht sonderlich wichtig. Den meisten heutigen Muslimen geht es in erster Linie darum, die Gegenwart in einer Weise zu gestalten, die zugleich Gott wohlgefällig und sozial verträglich ist.

Beginn der Zeitrechnung mit der Higra

Darum hat man seit jeher versucht, die innerweltliche Zeit zu gliedern. Auch da ist der wichtigste Einschnitt für einen Muslim rein religiöser Art: der Augenblick der Prophetie. Damals hat Gott den Menschen durch seinen Boten gesagt, nach welchen Leitlinien sie der Welt eine Ordnung zu geben haben - in einem Gesetz, das zugleich Lebensregel ist, "Weg" und "Wandel": sari‘a im Arabischen , entsprechend der halaka im Judentum. Für die Gestaltung der Weltzeit ist dies viel wichtiger als das Weltenende, das sich irgendwann in einer unbestimmten Zukunft vollziehen wird. Einem Christen fällt es allerdings nicht immer leicht, sich auf diese Sicht der Dinge umzustellen, weil er sich vom Gesetz verabschiedet hat und es seit Paulus eher negativ versteht. Der islamische Kalender beginnt mit der Higra, d. h. dem Zeitpunkt, in dem der Prophet die Gelegenheit bekam, in Medina nach Gottes Willen - und seinem eigenen - ein Gemeinwesen aufzubauen; hier ist die sari‘a theologisch verortet. Religion und Gesetz gehörten damals ganz selbstverständlich zusammen - so wie wir uns heute einen Staat nicht ohne eine Verfassung denken können. Nicht nur die Juden hatten ein "Gesetz", sondern auch die orientalischen Christen, vor allem jene im Iran, die Nestorianer, die seit jeher dem Zugriff der christlichen Obrigkeit entzogen gewesen waren und denen von den Sassaniden bereits in vorislamischer Zeit ein eigenes Religionsstatut mit eigener Gerichtsbarkeit zugestanden worden war. Der Islam hat das bekanntlich für seine "Schutzbefohlenen", die "Leute des Buches", übernommen und dann aus dem Koran heraus begründet.

Christen benutzten verschiedene Zeitrechnungen

Die Higra-Zeitrechnung ist im übrigen im Orient auch die erste, die von der Person des Religionsstifters ausgeht. Die Zoroastrier hatten dies nicht getan; darum streiten sich die Iranisten bis heute um die Zeitstellung Zarathustras. Die Juden auch nicht; sie rechneten von der Erschaffung der Welt an. Die Christen schließlich benutzten die verschiedensten Ären; sie waren ja überall in einen bereits etablierten Staat hineingeboren worden. Im Osten fingen sie bei Alexander an oder genauer: bei den Seleukiden; das war die iranische Weltsicht . In Ägypten begannen sie bei den koptischen Märtyrern mit dem Jahr 284, dem Regierungsantritt Diokletians, der die Christen verfolgt hatte. In Spanien beim Jahre 38 v. Chr., was sich dort in Urkunden bis ins 14. Jh. hielt, in Kastilien sogar bis 1451 und in manchen Inschriften bis 1616. Nur nach Christi Geburt rechneten sie nicht. Wenn irgendwo ein mittelalterliches orientalisches Dokument auftaucht, das anno domini oder post Christum natum datiert ist, kann man sicher sein, dass es sich um eine Fälschung handelt. Natürlich hätte es den Christen gut angestanden, sich nach dem jüdischen Kalender zu richten; an die Erschaffung der Welt glaubten sie ja auch. Aber mit den Juden wollten sie nichts zu tun haben. Da hielten sie sich schon lieber an die Higra-Zählung, die Zeitmessung der dominanten Kultur. In ähnlicher Weise, nur mit umgekehrtem Vorzeichen, werden heute im Orient Geschäfte mit der westlichen Welt nach dem christlichen Kalender abgewickelt, obgleich die Wirtschaft mit dem Christentum nur wenig zu tun hat.

Kleinere Zäsuren

Ären sind erstaunlich langlebig; sie sind Identitätssymbole. Darum lässt man es auch besser bleiben, sie abzuschaffen. Die Französische Revolution ist mit einem solchen Versuch ebenso gescheitert wie die Bolschewiken. Der Schah wollte den Higrakalender durch eine nationale Zeitrechnung ersetzen, die statt bei Muhammad bei Kyros ansetzte ; kurz darauf wurde er vertrieben. Qaddafi hat vor einiger Zeit einmal vorgeschlagen, die Higra gegen den Tod des Propheten auszutauschen, also den Beginn der islamischen Ära um zehn Jahre zu verschieben (J. Reissner in: W. Ende/ K. Steinbach, Der Islam in der Gegenwart (München 1984), S. 336); er hat damit nur Spott und Ärger geerntet. Aber Ären sind gerade wegen ihrer Langlebigkeit auch nicht geeignet, die Hoffnungen und Ängste des Alltags zu bedienen; hierzu bedarf es kleinerer Einschnitte. Man knüpft solche Erwartungen häufig an runde oder "heilige" Zahlen, die Sieben etwa oder die Vierzig. Die Magie der Jahrhundertwenden, die wir gerade wieder erlebt haben, ist demgegenüber verhältnismäßig jung, zumindest in Europa. Das Jahrhundert als Epochenbezeichnung kennt erst die Aufklärung; sie nannte sich "siècle des lumières", ein neues saeculum. Im islamischen Orient kommt in der Mamlukenzeit der Brauch auf, in biographischen Werken die Gelehrten nach Jahrhunderten zusammenzufassen; Ibn Hagar al-Asqalani (gest. 852/1449) schrieb damals seine Durar al-kamina fi ayan al-mi`a at-tamina, die "Verborgenen Perlen, will heißen: Die Persönlichkeiten des achten Jahrhunderts". Zuvor hatte bereits Sadafi (gest. 764/1363) einem ähnlich angelegten Who’s Who seiner Zeitgenossen den Titel A’yan al-asr, "Die großen Leute (meines) Zeitalters" gegeben. Aber ein Epochenbewusstsein verband sich damit nicht.

Apokalyptische Vorstellungen

Die jüngst vergangene Jahrhundertwende - der Beginn eines neuen Jahrtausends, wie man mit Ehrfurcht bemerkte - wurde nicht nur gefeiert, sondern auch von Katastrophenstimmung begleitet. Zu mehr als einem Computerabsturz reichte die Phantasie zwar nicht, aber die Erwartung dieses Ereignisses hatte den Vorzug globaler Dimension. Ansonsten sind Apokalypsen heutzutage bekanntlich eher eine Angelegenheit von Filmen. Doch sie begleiten unser Denken seit Jahrhunderten. Ist das auch im Islam so? Ist er gar eine apokalyptische Religion, die gerade darum fortwährend Fundamentalismus aus sich gebiert?

Apokalyptisches Potential im Christentum größer

Ich möchte die These wagen: Das Christentum besitzt ein viel größeres apokalyptisches Potential als der Islam. Es entstand ja zu einer Zeit, in der seine jüdische Umwelt von der Apokalyptik geprägt war ; für den Islam lässt sich dies in solcher Form nicht sagen. Zudem ist ein ganzes Buch dieser Art in den neutestamentlichen Kanon hineingeraten: die Geheime Offenbarung, sanktioniert durch den Namen des Apostels Johannes. Zwar machen die Theologen seit langem einen großen Bogen um das Buch, aber die Sektierer lesen es immer noch mit Inbrunst, und deren gibt es ja nicht wenige. Weiterhin haben wir da noch im Alten Testament das Buch Daniel. Beide Texte verführen zum Rechnen. Anfang der achtziger Jahre, kurz nach der Islamischen Revolution, hat man mir das im Anschluss an einen Vortrag in Ulm aus dem Publikum heraus vorgeführt: Khomeini, so ließ man mich wissen, sei der Antichrist, von dem Johannes geredet habe (Apok. 12-14) und dessen Auftreten und Untergang sich aus Daniel erschließen lasse - für ein Datum, das mittlerweile längst verstrichen ist. Dort, wo dieser Umgang mit der Bibel noch Konjunktur hat, dringen endzeitliche Vokabeln sehr schnell in den politischen Diskurs ein; Reagans "Reich des Bösen" gehört hierher und wohl auch Francis Fukuyamas "Ende der Geschichte".

Unterscheidung Apokalypse und Eschatologie

Nun tat Khomeini seinerseits den westlichen Kontrahenten den Gefallen, sie als den "Großen Satan" zu bezeichnen. Aber das war nicht endzeitlich gemeint und stammt auch nicht aus dem Koran. Der Koran verkündet keine Apokalypse; er macht Aussagen über die Eschatologie. Das ist nicht dasselbe. Eine Apokalypse beschreibt das katastrophale Ende der Welt; in der Eschatologie geht es vor allem um Gott als den Richter. Apokalypsen gibt es im Plural; denn sie sind, im Gegensatz zur Eschatologie, ein literarisches Genus, ein ziemlich heruntergekommenes zudem, in welchem ein Autor, der das Licht der Öffentlichkeit scheut und sich gewöhnlich hinter jemandem anderen versteckt, Geheimnisse aufzudecken behauptet. Allerdings kann man beides miteinander kombinieren. Das ist im Urchristentum mancherorts geschehen. Hierher gehören Begriffe wie Naherwartung oder Parusieverzögerung. Solche Erscheinungen können eine Religion entscheidend prägen. Auch im Islam hat es im Herzen der Urgemeinde vermutlich ähnliches gegeben. Aber dazu müssen wir uns nun erst einmal den Koran etwas näher ansehen.

Koran enthält zahlreiche eschatologische Aussagen

Der Koran ist, wie man gesagt hat, ein Text ohne Kontext (F. E. Peters, The Quest of the Historical Muhammad, in: IJMES 23/1991/291 ff., dort S. 291) . Wir haben nur wenige zeitgenössische Zeugnisse, und sie sind alles andere als leicht zu interpretieren. So lässt sich vorläufig nur eines mit Gewissheit sagen: Der Koran enthält, so wie wir ihn jetzt vor uns haben, an vielen Stellen eschatologische Aussagen, vor allem in den kurzen Suren, die am Ende stehen. Jede Äußerung, die darüber hinausgeht, ist erst einmal Theorie; sie hängt davon ab, wie wir in die Sache einsteigen. Da aber stehen sich in der Forschung zwei Modelle gegenüber. Normalerweise hält man die kurzen Suren für die ältesten; der Prophet sei, so sagt man dann, in Mekka zuerst mit einer Predigt des bevorstehenden Weltenendes vor die Leute getreten, und der Koran, in dem wir diese Predigten - Offenbarungen nach dem Glauben der Muslime - greifen können, sei, als er unter dem Kalifen Utman redigiert wurde, nicht chronologisch geordnet worden, sondern nach der Länge der Suren. Dahinter steht ein bestimmtes Geschichtsbild; man stellt die Aussagen des Korans in einen biographischen Rahmen. Das ist im Grunde nur eine Arbeitshypothese, aber sie hat den Vorteil, dass die muslimische Überlieferung seit jeher davon ausgegangen ist. Schon die älteste Prophetenbiographie, die Sira des Ibn Ishaq aus der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts, legt sich die Sache so zurecht.

Kommen eschatologische Aussagen von Muhammad ?

Man ist aber dadurch z. B. gezwungen, die langen Suren in einzelne Teile zu zerlegen, um die darin enthaltenen verschiedenen biographischen Aussagen auch Ereignissen aus verschiedenen Lebensabschnitten des Propheten zuordnen zu können. Zudem ist das zitierte Werk des Ibn Ishaq keineswegs ein unabhängiger historischer Bericht, sondern eher eine Art Evangelium, in dem Aussagen des Korans exegetisch verarbeitet wurden. Die Gefahr des Zirkelschlusses liegt also sehr nahe. So ist man darauf gekommen, in einem revisionistischen Ansatz den Koran anders zu verstehen, als eine Sammlung von Lektionaren nämlich, die verschiedenen proto-islamischen Gemeinden zuzuordnen sind. Dafür spricht die Etymologie des Wortes qur‘an; es heißt nämlich nichts anderes als "Lesung, Rezitation". Während wir also in ersterem Fall sagen müssen, dass Muhammad seine Predigt mit einer eschatologischen Phase begann, kommt in letzterem Fall heraus, dass es irgendwo in dem Raum, wo der Islam entstand, eine Gruppe von Leuten gab, die in ihrer Liturgie endzeitliche Erwartungen oder Gott als den Weltenrichter in den Mittelpunkt stellten. Der Prophet ist dann erst einmal aus dem Spiel; auch die Chronologie ist wieder offen. Wir kennen solche Überlegungen aus der Wissenschaft vom Neuen Testament und der Leben-Jesu-Forschung. Von daher hat man sie in der Islamkunde auch abgepaust. Ich will mich dazu im einzelnen nicht äußern; ich möchte nur klarstellen, dass ich die erstere Sicht immer noch für die plausiblere halte. Sie hat außerdem die größere ökumenische Brauchbarkeit für sich.

Vieles spricht gegen die Idee des Weltendes

Wichtig ist in diesem Zusammenhang folgendes: Die geschichtliche Entwicklung hat dafür gesorgt, dass der Gedanke an das Weltenende recht bald in den Hintergrund trat. Der Islam hatte Erfolg, viel schneller und ganz anders als das Christentum, und politischer Erfolg ist apokalyptischen Erwartungen überhaupt nicht zuträglich. Auf Mekka folgte Medina; dort hatte der Prophet nun plötzlich Leute um sich, die auf ihn hörten, weil er Frieden schaffen sollte im Zwist der Stämme. Er erließ eine "Gemeindeordnung" (Vgl. dazu die Dissertation von Günter Schaller, Die "Gemeindeordnung von Medina" (Augsburg 1985)). So etwas tut man eigentlich nicht, wenn man glaubt, dass es mit der Welt morgen zu Ende ist. Als Muhammad starb, unerwartet für seine Anhänger und offenbar auch für ihn selber, wollten manche seiner ältesten Kampfgenossen nicht glauben, dass der prophetische Augenblick schon vorbei sei, wie vom späteren Kalifen berichtet. Sie waren vielleicht der Meinung gewesen, dass mit der idealen Ordnung das Paradies auf Erden anbreche. Aber auch der Tod des Propheten unterbrach den Erfolg nur für kurze Zeit. Bald kam es zu den großen Eroberungen: in Syrien und Ägypten, wo die Byzantiner vertrieben wurden und - zur Erleichterung der bodenständigen monophysitischen Kirche - die Herrschaft der griechischen Hochkirche verschwand, und im Iran, wo das Sassanidenreich völlig zerschlagen wurde und die Nestorianer nun an die Araber ihre Steuern zahlten.

Veränderte Bedingungen in Jerusalem

Für unsere Fragestellung ist dabei Syrien besonders interessant. Dort nämlich schwirrte die Luft von apokalyptischen Gerüchten, bei den Juden vor allem, aber auch bei den Christen. Das hing z. T. mit Jerusalem zusammen. Die Juden waren glücklich, dass die Muslime ihnen erlaubten, wieder in der Heiligen Stadt zu wohnen. Hadrian hatte es ihnen in seinem berühmten Edikt vom Jahre 135 verboten, und die Christen hatten, als sie seit Konstantin die Macht in die Hände bekamen, nie einen Anlass gesehen, dieses heidnische Edikt aufzuheben. Im Gegenteil der byzantinische Kaiser Heraklius hatte es kurz vor dem Erscheinen der Araber noch einmal erneuert. Nun, mit dem Erscheinen der Muslime, konnten die Juden für einen kurzen Augenblick sogar hoffen, auf dem Tempelberge, der den Christen als Müllplatz gedient hatte (als sterquilinium, wie es bei Hieronymus heißt), wieder den salomonischen Tempel zu errichten. Manche von ihnen haben den Kalifen Umar darum als Erlöser gefeiert. Stattdessen bauten die Muslime allerdings einige Zeit später auf dem Tempelplatz den Felsendom. Eine spannende Geschichte, die bis heute ihre Schatten wirft!

Spezielle religiöse Vorstellungen der damaligen arabischen Eroberer

Und wenn wir nun auch nicht annehmen wollen (wie es vor einiger Zeit in einer besonders kecken revisionistischen Eskapade geschehen ist), dass der Islam gar nicht auf der Arabischen Halbinsel entstand, sondern hier in Palästina unter dem Eindruck dieser explosiven Situation, so müssen wir doch anerkennen, dass sich in diesem Raum für einige Zeit ein eigentümliches religiöses Klima herausbildete. Die arabischen Eroberer wussten vom Koran vermutlich noch nicht viel; er war damals noch nicht redigiert, und viele von ihnen waren Jemeniten, die nie in Mekka oder Medina gewesen waren und darum auch vom Propheten selber den Koran nicht gehört haben konnten. Aber wir erfahren, dass sie, als sie auf byzantinisches Gebiet vorstießen, einige kurze Suren dabeihatten; sie haben also in ihren Gebeten vielleicht gerade die eschatologischen Passagen rezitiert. Sie betrachteten sich als "Leute des Paradieses" (ahl al-ganna). Das hieß zuerst einmal, dass sie des Paradieses sicher zu sein meinten, weil sie gihad übten, also im Kampf für den Islam den Willen Gottes in die Welt trugen. Es hieß aber vielleicht auch, dass sie glaubten, jetzt auf Erden bereits im Paradies zu sein, weil Gott die alte Wahrheit, die er bereits durch Mose und durch Jesus mitgeteilt hatte, auf arabisch neu restituiert hatte und Muhammad nun als der letzte seiner Boten aufgetreten war, als das "Siegel der Propheten", mit dem die Endzeit angebrochen war. Die Christen hatten, so dachte man sich, die einfache alte Wahrheit, den Monotheismus, durch ihre scheußliche Theologie entstellt, und sie würden nun besiegt werden; man würde ihre Hauptstadt erobern, Konstantinopel, und zwar in sieben Monaten, wie man hoffnungsvoll behauptete.

Die Kreation des Daggal, des bösen Feindes

Es kam alles ganz anders. Zuerst schickte Gott den Glaubenskämpfern eine Seuche auf den Leib, die sogenannte "Pest von Emmaus"; das Heer wurde dezimiert, und die syrischen Muslime mussten ihre gihad-Theologie umstellen. Auf die Dauer wurde ihnen dann auch klar, dass sie gegen Konstantinopel nichts würden ausrichten können. Zwar konnten sie nicht ahnen, dass es mit der Eroberung noch 800 Jahre dauern sollte - bis 1453. Aber schon bald veränderten sie das Prophetenwort, das ihnen den Erfolg in sieben Monaten verheißen hatte, und machten sieben Jahre daraus, und schließlich sahen sie einen bösen Feind am Werke, der den Byzantinern helfen und mit diesen gegen sie zu Felde ziehen würde, bevor das Reich des Islams anbrach. Sie nannten ihn den Daggal und hatten ihn bezeichnenderweise aus der christlichen Vorstellungswelt entlehnt. Es war eine typisch apokalyptische Figur.

Falsche Christusse

Im Koran stand davon nichts; der Name kommt aus dem Aramäischen und stammt aus dem Matthäusevangelium. Dort spricht in Kap. 24 v. 24 Jesus von den falschen Christussen, die aufstehen werden und "große Zeichen und Wunder tun, dass verführet werden in den Irrtum auch die Auserwählten". Die "falschen Christusse" heißen in der Bibel der syrischen Kirche, der sogenannten Psitta, auf aramäisch mesihe daggale. Mesihe ist der Plural zu mesiha, "Messias" bzw. "Christus". Daggal aber heißt eigentlich "lügnerisch", eben "falsch" im doppelten Sinne des Wortes; das übernahmen die Araber nun in ihre eigene Sprache als Daggal. Im Arabischen lässt sich das Wort überhaupt nicht etymologisieren. Die Muslime müssen gemerkt haben, dass die Christen es dauernd im Munde führten. So sind apokalyptische Ängste der Christen in den Islam gedrungen. Der "falsche Christus" ist natürlich genau jener "Antichrist", den die schwäbischen Pietisten in Khomeini wiedererkennen wollten.

Der Mahdi

Nun heißt dies nicht unbedingt, dass dieser Gedanke im Islam als Fremdkörper empfunden worden wäre. 1967, nach dem Sechs-Tage-Krieg, kursierten in Syrien religiöse Traktätchen, in denen behauptet wurde, dass der Daggal aufgetreten sei. Jeder wusste, wer gemeint war: Moshe Dayan; denn der Antichrist ist nach der Überlieferung einäugig. Das, nicht irgendwelche Berechnungen, führte zur Identifikation. Die sunnitische Bevölkerung gönnte der Regierung die Niederlage; Hazid al-Asad und seine Leute hingen ja einem häretischen und gnostisch konzipierten Islam an. Zudem wusste man, dass nach dem Daggal der Mahdi auftritt, sein positiver Widerpart, der ihn besiegen wird. Er ist eine rein islamische Figur, und er vertritt auch das Grundideal des Islams; er wird auf Erden das Reich der Gerechtigkeit begründen. Von ihm hatte man in der Frühzeit etwa zur gleichen Zeit zu reden begonnen wie vom Daggal: in Syrien (vor allem in Hims, dem alten Emesa), aber auch im Irak, wo die Unterschichten ihn sich zum Ideal erwählten. Der Mahdi wurde zur Gallionsfigur von Sozialrevolten. Wichtig ist dabei: Er wirkt innerweltlich. Wenn er das Paradies auf Erden errichtet, so verwirklicht er darin das, was das Gesetz, d. h. der Koran, befiehlt. Er tut genau das, was das Volk von einer islamischen Regierung meist vergeblich erwartet: Er bringt soziale Gerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit, nicht freedom and democracy; hier ist ein Punkt, wo Leute des Westens und Muslime häufig aneinander vorbeireden.

Mahdi ist eine Figur der Hadite

Aber so sehr der Mahdi für die Verwirklichung dessen bürgt, was Muhammad nach der higra einzurichten in der Lage war, auch er steht nicht im Koran. In die Vorstellungswelt der Muslime - in ihr imaginaire, wie die Historiker der Annales-Schule sagen - ist er, ebenso wie der Daggal, nur eingegangen, weil man in apokryphen Prophetenworten über ihn redete, sogenannten Haditen. Hadite (die durchaus nicht immer apokryph sein müssen) sind neben dem Koran die zweite Basis des islamischen Glaubenssystems, die Tradition der Urgemeinde sozusagen. So ist die koranische Eschatologie mit diesen Figuren angereichert worden. Die Theologen haben durchaus gemerkt, dass hier ein fremdes Element in den Islam hineinkam, eine "Neuerung", wie man sagte; aber gegen den Volksglauben konnten sie nichts ausrichten - und sie wollten es wohl auch im allgemeinen nicht, denn Religion besteht nun einmal in einem beträchtlichen Maße aus Tradition. Sie konnten und wollten es auch deswegen nicht, weil diese Vorstellungen im Verbund mit anderen standen, die ihnen lieb und teuer waren: der sozialen Gerechtigkeit, wie bereits erwähnt, aber auch dem gihad, durch den die syrischen Muslime zu "Leuten des Paradieses" geworden waren.

Verschiedene Vorstellungen vom gihad

Der gihad, unser "Heiliger Krieg" , hatte sich gegen die Ungläubigen gerichtet, vielleicht in endzeitlicher Weise, aber er konnte sich auch gegen die Ungerechtigkeit der eigenen Leute richten, gegen die Tyrannei, welche der Mahdi bekämpfen wird. Heutige radikale Muslime führen den Heiligen Kampf bekanntlich eher gegen die eigene Regierung, weil diese den Islam nicht in rechter Weise praktiziert. Gemäßigte Fundamentalisten dagegen fallen dadurch auf, dass sie sich in besonderer Weise karitativ engagieren, im "Einsatz" (das heißt gihad wörtlich) für soziale Gerechtigkeit in einer durch Überbevölkerung und wirtschaftliche Abhängigkeit zusammenbrechenden Gesellschaft. Auch das ist Gestaltung der Weltzeit, und auch das ist ein Erbe der Urgemeinde und der ersten Generationen, die auf sie folgten.

 

Gekürzt und Bearbeitet von Ernst Pohn

 

>> Nur Gott kann über die Zeit verfügen

>> Muss es eine Endzeit geben?

>> Idee von der Ewigkeit der Welt geht zurück auf Aristoteles

>> Beginn der Zeitrechnung mit der Higra

>> Christen benutzten verschiedene Zeitrechnungen

>> Kleinere Zäsuren

>> Apokalyptische Vorstellungen

>> Apokalyptisches Potential im Christentum größer

>> Unterscheidung Apokalypse und Eschatologie

>> Koran enthält zahlreiche eschatologische Aussagen

>> Kommen eschatologische Aussagen von Muhammad ?

>> Vieles spricht gegen die Idee des Weltendes

>> Veränderte Bedingungen in Jerusalem

>> Spezielle religiöse Vorstellungen der damaligen arabischen Eroberer

>> Die Kreation des Daggal, des bösen Feindes

>> Falsche Christusse

>> Der Mahdi

>> Mahdi ist eine Figur der Hadite

>> Verschiedene Vorstellungen vom gihad

 
Seitenanfang