Muhammads Ankündigung der Endzeit
Eine der Kernaussagen des Propheten, nämlich dass Gott die
Menschen am Jüngsten Tag zur Rechenschaft ziehen wird, scheint in
späterer Zeit angesichts der raschen Erfolgsgeschichte des Islam
abgeschwächt. Die islamische Zeitrechnung beginnt mit der Higra,
dem Zeitpunkt als der Prophet die Gelegenheit bekam, in Medina ein
Gemeinwesen nach dem Willen Gottes aufzubauen. Heute geht es den
Muslimen vornehmlich darum, die Gegenwart in einer Gott
wohlgefälligen Art und Weise zu gestalten. Welche Entwicklung nahm
die koranische Eschatologie durch die
geschichtlich-gesellschaftlichen Ereignisse in den Tagen der
Urgemeinde?
Zeit ist etwas, das wir täglich erfahren. Ob dies auch Weltzeit
ist, bleibt eine Frage für sich. Aber eines ist klar: Unsere Zeit,
d.h. die Zeit, von der wir sagen, dass wir sie haben, entzieht sich
unserer Verfügung. "Die Zeit wird Herr", so spricht
Mephisto, als Faust im Sterben liegt; "die Uhr steht
still".
Nur Gott kann über die Zeit verfügen
Die Uhr ist das Symbol der Machtvollkommenheit des Menschen; mit
ihr gestaltet er die Weltzeit. Aber für ihn selber bleibt sie
irgendwann einmal stehen. Und die Endzeit, was hat dies alles mit
ihr zu tun? Erst einmal nicht viel. Denn dass die Uhr nicht ewig
geht, gilt prima vista allein für uns; viel weiter reicht unsere
Erfahrung nicht. Wir können uns nur an Entstehen und Vergehen in
der Natur orientieren. Dies auf die Welt als solche zu übertragen,
ist vorläufig nicht mehr als ein Analogieschluss, von seinem
Ursprung her ein theologisches Konstrukt. Dieses theologische
Konstrukt hat ein ehrwürdiges Alter. Für Muhammad war es schon
nicht mehr neu, auch nicht für das Christentum. Schon immer hatte
man in den Fruchtbarkeitskulten des Vorderen Orients das Ende mit
dem Anfang, den Tod mit der Geburt in Verbindung gebracht, und
Priester, die viel Zeit zum Nachdenken hatten, hatten der Welt das
gleiche Schicksal zugedacht. Es wird einen Weltuntergang geben, so
hatten sie gesagt, und diesem absoluten Ende entspricht ein
absoluter Anfang: die Schöpfung. Ob die Götter das Ende der Welt
überleben würden, darüber ließ sich streiten. Aber auf die
Dauer, mit dem Aufkommen der sogenannten Offenbarungsreligionen, war
man sich sicher: Gott hat alle Zeit der Welt; er ist ewig, und er
ist der einzige, für den das gilt. Er setzt den Rahmen der Zeit;
denn sie entsteht mit der Welt, und sie vergeht mit ihr. Darum gibt
es eine Endzeit.
Muss es eine Endzeit geben?
Wir glauben daran heute nicht mehr so recht. Der Zeitbegriff
unserer Astronomen und Kosmologen sieht ganz anders aus. Für ein
festes Datum der Schöpfung verkämpfen sich nur noch militante
christliche Fundamentalisten; sie heißen deswegen auch "creationists"
(Zu ihnen vgl. Encyclopedia of Religion (New York 1987) V 196 b und
212 ) Und was das Ende angeht - welcher Theologe schreibt heute noch
über Eschatologie? In der islamischen Welt war schon im Mittelalter
die Skepsis recht groß. Die Philosophen rechneten nicht mit der
Endlichkeit der Welt, und sie vertraten darum auch nicht deren
Geschaffenheit, zumindest nicht eine solche in der Zeit. Selbst wenn
Gott alle Zeit der Welt hat, muss er die Welt ja nicht so
erschaffen, wie die Theologen sich das vorstellen. Es reicht aus,
dass er sie als ihre Ursache will; dann ist sie kontingent, von ihm
abhängig und dennoch ewig.
Idee von der Ewigkeit der Welt geht zurück auf
Aristoteles
Dieses Modell war dem theologischen an gedanklicher Stringenz
überlegen. Aber es hatte - wie alle Systeme - gewisse Nachteile,
und diese waren geeignet, einem gläubigen Menschen sehr schnell den
Geschmack zu verderben. Gottes Wille war dann nämlich nicht mehr
frei in der Wahl des Zeitpunktes; eine Ursache kann ihre Wirkung
nicht verzögern. Da ein Ende nicht unbedingt vorgesehen war, blieb
kein Zeitpunkt für ein abschließendes Gericht. Der Mensch
bewährte sich zwar auf Erden, aber seine Seele kehrte sogleich nach
dem Tode in das Jenseits zurück. Wir haben es hier mit dem Dieu des
philosophes zu tun, von dem Pascal sprach. Im Islam waren die
Philosophen eine Zeitlang in guter Gesellschaft. Intellektuelle
aller Art hatten ihnen vorgearbeitet: Ärzte, Astrologen,
Alchemisten, die Vertreter der nützlichen Wissenschaften der
damaligen Zeit. Auch die Fürsten, an deren Hof sie lebten, hatten
nichts gegen ihre Ansichten. Die Theorie von der Ewigkeit der Welt
ging auf Aristoteles zurück; er genoss damals hohes Ansehen.
Mittlerweile ist dies alles längst Geschichte. Aber selbst heutige
muslimische Fundamentalisten sind keine "creationists" im
amerikanischen Sinne; auch die Endzeit ist ihnen nicht sonderlich
wichtig. Den meisten heutigen Muslimen geht es in erster Linie
darum, die Gegenwart in einer Weise zu gestalten, die zugleich Gott
wohlgefällig und sozial verträglich ist.
Beginn der Zeitrechnung mit der Higra
Darum hat man seit jeher versucht, die innerweltliche Zeit zu
gliedern. Auch da ist der wichtigste Einschnitt für einen Muslim
rein religiöser Art: der Augenblick der Prophetie. Damals hat Gott
den Menschen durch seinen Boten gesagt, nach welchen Leitlinien sie
der Welt eine Ordnung zu geben haben - in einem Gesetz, das zugleich
Lebensregel ist, "Weg" und "Wandel": sari‘a im
Arabischen , entsprechend der halaka im Judentum. Für
die Gestaltung der Weltzeit ist dies viel wichtiger als das
Weltenende, das sich irgendwann in einer unbestimmten Zukunft
vollziehen wird. Einem Christen fällt es allerdings nicht immer
leicht, sich auf diese Sicht der Dinge umzustellen, weil er sich vom
Gesetz verabschiedet hat und es seit Paulus eher negativ versteht.
Der islamische Kalender beginnt mit der Higra, d. h. dem Zeitpunkt,
in dem der Prophet die Gelegenheit bekam, in Medina nach Gottes
Willen - und seinem eigenen - ein Gemeinwesen aufzubauen; hier ist
die sari‘a theologisch verortet. Religion und Gesetz gehörten
damals ganz selbstverständlich zusammen - so wie wir uns heute
einen Staat nicht ohne eine Verfassung denken können. Nicht nur die
Juden hatten ein "Gesetz", sondern auch die orientalischen
Christen, vor allem jene im Iran, die Nestorianer, die seit jeher
dem Zugriff der christlichen Obrigkeit entzogen gewesen waren und
denen von den Sassaniden bereits in vorislamischer Zeit ein eigenes
Religionsstatut mit eigener Gerichtsbarkeit zugestanden worden war.
Der Islam hat das bekanntlich für seine
"Schutzbefohlenen", die "Leute des Buches",
übernommen und dann aus dem Koran heraus begründet.
Christen benutzten verschiedene Zeitrechnungen
Die Higra-Zeitrechnung ist im übrigen im Orient auch die erste,
die von der Person des Religionsstifters ausgeht. Die Zoroastrier
hatten dies nicht getan; darum streiten sich die Iranisten bis heute
um die Zeitstellung Zarathustras. Die Juden auch nicht; sie
rechneten von der Erschaffung der Welt an. Die Christen schließlich
benutzten die verschiedensten Ären; sie waren ja überall in einen
bereits etablierten Staat hineingeboren worden. Im Osten fingen sie
bei Alexander an oder genauer: bei den Seleukiden; das war die
iranische Weltsicht . In Ägypten begannen sie bei den
koptischen Märtyrern mit dem Jahr 284, dem Regierungsantritt
Diokletians, der die Christen verfolgt hatte. In Spanien beim Jahre
38 v. Chr., was sich dort in Urkunden bis ins 14. Jh. hielt, in
Kastilien sogar bis 1451 und in manchen Inschriften bis 1616. Nur
nach Christi Geburt rechneten sie nicht. Wenn irgendwo ein
mittelalterliches orientalisches Dokument auftaucht, das anno domini
oder post Christum natum datiert ist, kann man sicher sein, dass es
sich um eine Fälschung handelt. Natürlich hätte es den Christen
gut angestanden, sich nach dem jüdischen Kalender zu richten; an
die Erschaffung der Welt glaubten sie ja auch. Aber mit den Juden
wollten sie nichts zu tun haben. Da hielten sie sich schon lieber an
die Higra-Zählung, die Zeitmessung der dominanten Kultur. In
ähnlicher Weise, nur mit umgekehrtem Vorzeichen, werden heute im
Orient Geschäfte mit der westlichen Welt nach dem christlichen
Kalender abgewickelt, obgleich die Wirtschaft mit dem Christentum
nur wenig zu tun hat.
Kleinere Zäsuren
Ären sind erstaunlich langlebig; sie sind Identitätssymbole.
Darum lässt man es auch besser bleiben, sie abzuschaffen. Die
Französische Revolution ist mit einem solchen Versuch ebenso
gescheitert wie die Bolschewiken. Der Schah wollte den Higrakalender
durch eine nationale Zeitrechnung ersetzen, die statt bei Muhammad
bei Kyros ansetzte ; kurz darauf wurde er vertrieben. Qaddafi
hat vor einiger Zeit einmal vorgeschlagen, die Higra gegen den Tod
des Propheten auszutauschen, also den Beginn der islamischen Ära um
zehn Jahre zu verschieben (J. Reissner in: W. Ende/ K. Steinbach,
Der Islam in der Gegenwart (München 1984), S. 336); er hat damit
nur Spott und Ärger geerntet. Aber Ären sind gerade wegen ihrer
Langlebigkeit auch nicht geeignet, die Hoffnungen und Ängste des
Alltags zu bedienen; hierzu bedarf es kleinerer Einschnitte. Man
knüpft solche Erwartungen häufig an runde oder "heilige"
Zahlen, die Sieben etwa oder die Vierzig. Die Magie der
Jahrhundertwenden, die wir gerade wieder erlebt haben, ist
demgegenüber verhältnismäßig jung, zumindest in Europa. Das
Jahrhundert als Epochenbezeichnung kennt erst die Aufklärung; sie
nannte sich "siècle des lumières", ein neues saeculum.
Im islamischen Orient kommt in der Mamlukenzeit der Brauch auf, in
biographischen Werken die Gelehrten nach Jahrhunderten
zusammenzufassen; Ibn Hagar al-Asqalani (gest. 852/1449) schrieb
damals seine Durar al-kamina fi ayan al-mi`a at-tamina, die
"Verborgenen Perlen, will heißen: Die Persönlichkeiten des
achten Jahrhunderts". Zuvor hatte bereits Sadafi (gest.
764/1363) einem ähnlich angelegten Who’s Who seiner Zeitgenossen
den Titel A’yan al-asr, "Die großen Leute (meines)
Zeitalters" gegeben. Aber ein Epochenbewusstsein verband sich
damit nicht.
Apokalyptische Vorstellungen
Die jüngst vergangene Jahrhundertwende - der Beginn eines neuen
Jahrtausends, wie man mit Ehrfurcht bemerkte - wurde nicht nur
gefeiert, sondern auch von Katastrophenstimmung begleitet. Zu mehr
als einem Computerabsturz reichte die Phantasie zwar nicht, aber die
Erwartung dieses Ereignisses hatte den Vorzug globaler Dimension.
Ansonsten sind Apokalypsen heutzutage bekanntlich eher eine
Angelegenheit von Filmen. Doch sie begleiten unser Denken seit
Jahrhunderten. Ist das auch im Islam so? Ist er gar eine
apokalyptische Religion, die gerade darum fortwährend
Fundamentalismus aus sich gebiert?
Apokalyptisches Potential im Christentum
größer
Ich möchte die These wagen: Das Christentum besitzt ein viel
größeres apokalyptisches Potential als der Islam. Es entstand ja
zu einer Zeit, in der seine jüdische Umwelt von der Apokalyptik
geprägt war ; für den Islam lässt sich dies in solcher Form
nicht sagen. Zudem ist ein ganzes Buch dieser Art in den
neutestamentlichen Kanon hineingeraten: die Geheime Offenbarung,
sanktioniert durch den Namen des Apostels Johannes. Zwar machen die
Theologen seit langem einen großen Bogen um das Buch, aber die
Sektierer lesen es immer noch mit Inbrunst, und deren gibt es ja
nicht wenige. Weiterhin haben wir da noch im Alten Testament das
Buch Daniel. Beide Texte verführen zum Rechnen. Anfang der
achtziger Jahre, kurz nach der Islamischen Revolution, hat man mir
das im Anschluss an einen Vortrag in Ulm aus dem Publikum heraus
vorgeführt: Khomeini, so ließ man mich wissen, sei der Antichrist,
von dem Johannes geredet habe (Apok. 12-14) und dessen Auftreten und
Untergang sich aus Daniel erschließen lasse - für ein Datum, das
mittlerweile längst verstrichen ist. Dort, wo dieser Umgang mit der
Bibel noch Konjunktur hat, dringen endzeitliche Vokabeln sehr
schnell in den politischen Diskurs ein; Reagans "Reich des
Bösen" gehört hierher und wohl auch Francis Fukuyamas
"Ende der Geschichte".
Unterscheidung Apokalypse und Eschatologie
Nun tat Khomeini seinerseits den westlichen Kontrahenten den
Gefallen, sie als den "Großen Satan" zu bezeichnen. Aber
das war nicht endzeitlich gemeint und stammt auch nicht aus dem
Koran. Der Koran verkündet keine Apokalypse; er macht Aussagen
über die Eschatologie. Das ist nicht dasselbe. Eine Apokalypse
beschreibt das katastrophale Ende der Welt; in der Eschatologie geht
es vor allem um Gott als den Richter. Apokalypsen gibt es im Plural;
denn sie sind, im Gegensatz zur Eschatologie, ein literarisches
Genus, ein ziemlich heruntergekommenes zudem, in welchem ein Autor,
der das Licht der Öffentlichkeit scheut und sich gewöhnlich hinter
jemandem anderen versteckt, Geheimnisse aufzudecken behauptet.
Allerdings kann man beides miteinander kombinieren. Das ist im
Urchristentum mancherorts geschehen. Hierher gehören Begriffe wie
Naherwartung oder Parusieverzögerung. Solche Erscheinungen können
eine Religion entscheidend prägen. Auch im Islam hat es im Herzen
der Urgemeinde vermutlich ähnliches gegeben. Aber dazu müssen wir
uns nun erst einmal den Koran etwas näher ansehen.
Koran enthält zahlreiche eschatologische
Aussagen
Der Koran ist, wie man gesagt hat, ein Text ohne Kontext (F. E.
Peters, The Quest of the Historical Muhammad, in: IJMES 23/1991/291
ff., dort S. 291) . Wir haben nur wenige zeitgenössische Zeugnisse,
und sie sind alles andere als leicht zu interpretieren. So lässt
sich vorläufig nur eines mit Gewissheit sagen: Der Koran enthält,
so wie wir ihn jetzt vor uns haben, an vielen Stellen
eschatologische Aussagen, vor allem in den kurzen Suren, die am Ende
stehen. Jede Äußerung, die darüber hinausgeht, ist erst einmal
Theorie; sie hängt davon ab, wie wir in die Sache einsteigen. Da
aber stehen sich in der Forschung zwei Modelle gegenüber.
Normalerweise hält man die kurzen Suren für die ältesten; der
Prophet sei, so sagt man dann, in Mekka zuerst mit einer Predigt des
bevorstehenden Weltenendes vor die Leute getreten, und der Koran, in
dem wir diese Predigten - Offenbarungen nach dem Glauben der Muslime
- greifen können, sei, als er unter dem Kalifen Utman redigiert
wurde, nicht chronologisch geordnet worden, sondern nach der Länge
der Suren. Dahinter steht ein bestimmtes Geschichtsbild; man stellt
die Aussagen des Korans in einen biographischen Rahmen. Das ist im
Grunde nur eine Arbeitshypothese, aber sie hat den Vorteil, dass die
muslimische Überlieferung seit jeher davon ausgegangen ist. Schon
die älteste Prophetenbiographie, die Sira des Ibn Ishaq aus
der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts, legt sich die Sache so
zurecht.
Kommen eschatologische Aussagen von Muhammad ?
Man ist aber dadurch z. B. gezwungen, die langen Suren in
einzelne Teile zu zerlegen, um die darin enthaltenen verschiedenen
biographischen Aussagen auch Ereignissen aus verschiedenen
Lebensabschnitten des Propheten zuordnen zu können. Zudem ist das
zitierte Werk des Ibn Ishaq keineswegs ein unabhängiger
historischer Bericht, sondern eher eine Art Evangelium, in dem
Aussagen des Korans exegetisch verarbeitet wurden. Die Gefahr des
Zirkelschlusses liegt also sehr nahe. So ist man darauf gekommen, in
einem revisionistischen Ansatz den Koran anders zu verstehen, als
eine Sammlung von Lektionaren nämlich, die verschiedenen
proto-islamischen Gemeinden zuzuordnen sind. Dafür spricht die
Etymologie des Wortes qur‘an; es heißt nämlich nichts anderes
als "Lesung, Rezitation". Während wir also in ersterem
Fall sagen müssen, dass Muhammad seine Predigt mit einer
eschatologischen Phase begann, kommt in letzterem Fall heraus, dass
es irgendwo in dem Raum, wo der Islam entstand, eine Gruppe von
Leuten gab, die in ihrer Liturgie endzeitliche Erwartungen oder Gott
als den Weltenrichter in den Mittelpunkt stellten. Der Prophet ist
dann erst einmal aus dem Spiel; auch die Chronologie ist wieder
offen. Wir kennen solche Überlegungen aus der Wissenschaft vom
Neuen Testament und der Leben-Jesu-Forschung. Von daher hat man sie
in der Islamkunde auch abgepaust. Ich will mich dazu im einzelnen
nicht äußern; ich möchte nur klarstellen, dass ich die erstere
Sicht immer noch für die plausiblere halte. Sie hat außerdem die
größere ökumenische Brauchbarkeit für sich.
Vieles spricht gegen die Idee des Weltendes
Wichtig ist in diesem Zusammenhang folgendes: Die geschichtliche
Entwicklung hat dafür gesorgt, dass der Gedanke an das Weltenende
recht bald in den Hintergrund trat. Der Islam hatte Erfolg, viel
schneller und ganz anders als das Christentum, und politischer
Erfolg ist apokalyptischen Erwartungen überhaupt nicht zuträglich.
Auf Mekka folgte Medina; dort hatte der Prophet nun plötzlich Leute
um sich, die auf ihn hörten, weil er Frieden schaffen sollte im
Zwist der Stämme. Er erließ eine "Gemeindeordnung" (Vgl.
dazu die Dissertation von Günter Schaller, Die
"Gemeindeordnung von Medina" (Augsburg 1985)). So etwas
tut man eigentlich nicht, wenn man glaubt, dass es mit der Welt
morgen zu Ende ist. Als Muhammad starb, unerwartet für seine
Anhänger und offenbar auch für ihn selber, wollten manche seiner
ältesten Kampfgenossen nicht glauben, dass der prophetische
Augenblick schon vorbei sei, wie vom späteren Kalifen berichtet.
Sie waren vielleicht der Meinung gewesen, dass mit der idealen
Ordnung das Paradies auf Erden anbreche. Aber auch der Tod des
Propheten unterbrach den Erfolg nur für kurze Zeit. Bald kam es zu
den großen Eroberungen: in Syrien und Ägypten, wo die Byzantiner
vertrieben wurden und - zur Erleichterung der bodenständigen
monophysitischen Kirche - die Herrschaft der griechischen Hochkirche
verschwand, und im Iran, wo das Sassanidenreich völlig zerschlagen
wurde und die Nestorianer nun an die Araber ihre Steuern zahlten.
Veränderte Bedingungen in Jerusalem
Für unsere Fragestellung ist dabei Syrien besonders interessant.
Dort nämlich schwirrte die Luft von apokalyptischen Gerüchten, bei
den Juden vor allem, aber auch bei den Christen. Das hing z. T. mit
Jerusalem zusammen. Die Juden waren glücklich, dass die Muslime
ihnen erlaubten, wieder in der Heiligen Stadt zu wohnen. Hadrian
hatte es ihnen in seinem berühmten Edikt vom Jahre 135 verboten,
und die Christen hatten, als sie seit Konstantin die Macht in die
Hände bekamen, nie einen Anlass gesehen, dieses heidnische Edikt
aufzuheben. Im Gegenteil der byzantinische Kaiser Heraklius hatte es
kurz vor dem Erscheinen der Araber noch einmal erneuert. Nun, mit
dem Erscheinen der Muslime, konnten die Juden für einen kurzen
Augenblick sogar hoffen, auf dem Tempelberge, der den Christen als
Müllplatz gedient hatte (als sterquilinium, wie es bei Hieronymus
heißt), wieder den salomonischen Tempel zu errichten. Manche von
ihnen haben den Kalifen Umar darum als Erlöser gefeiert.
Stattdessen bauten die Muslime allerdings einige Zeit später auf
dem Tempelplatz den Felsendom. Eine spannende Geschichte, die bis
heute ihre Schatten wirft!
Spezielle religiöse Vorstellungen der
damaligen arabischen Eroberer
Und wenn wir nun auch nicht annehmen wollen (wie es vor einiger
Zeit in einer besonders kecken revisionistischen Eskapade geschehen
ist), dass der Islam gar nicht auf der Arabischen Halbinsel
entstand, sondern hier in Palästina unter dem Eindruck dieser
explosiven Situation, so müssen wir doch anerkennen, dass sich in
diesem Raum für einige Zeit ein eigentümliches religiöses Klima
herausbildete. Die arabischen Eroberer wussten vom Koran vermutlich
noch nicht viel; er war damals noch nicht redigiert, und viele von
ihnen waren Jemeniten, die nie in Mekka oder Medina gewesen waren
und darum auch vom Propheten selber den Koran nicht gehört haben
konnten. Aber wir erfahren, dass sie, als sie auf byzantinisches
Gebiet vorstießen, einige kurze Suren dabeihatten; sie haben also
in ihren Gebeten vielleicht gerade die eschatologischen Passagen
rezitiert. Sie betrachteten sich als "Leute des
Paradieses" (ahl al-ganna). Das hieß zuerst einmal, dass sie
des Paradieses sicher zu sein meinten, weil sie gihad übten, also
im Kampf für den Islam den Willen Gottes in die Welt trugen. Es
hieß aber vielleicht auch, dass sie glaubten, jetzt auf Erden
bereits im Paradies zu sein, weil Gott die alte Wahrheit, die er
bereits durch Mose und durch Jesus mitgeteilt hatte, auf arabisch
neu restituiert hatte und Muhammad nun als der letzte seiner Boten
aufgetreten war, als das "Siegel der Propheten", mit dem
die Endzeit angebrochen war. Die Christen hatten, so dachte man
sich, die einfache alte Wahrheit, den Monotheismus, durch ihre
scheußliche Theologie entstellt, und sie würden nun besiegt
werden; man würde ihre Hauptstadt erobern, Konstantinopel, und zwar
in sieben Monaten, wie man hoffnungsvoll behauptete.
Die Kreation des Daggal, des bösen Feindes
Es kam alles ganz anders. Zuerst schickte Gott den
Glaubenskämpfern eine Seuche auf den Leib, die sogenannte
"Pest von Emmaus"; das Heer wurde dezimiert, und die
syrischen Muslime mussten ihre gihad-Theologie umstellen. Auf die
Dauer wurde ihnen dann auch klar, dass sie gegen Konstantinopel
nichts würden ausrichten können. Zwar konnten sie nicht ahnen,
dass es mit der Eroberung noch 800 Jahre dauern sollte - bis 1453.
Aber schon bald veränderten sie das Prophetenwort, das ihnen den
Erfolg in sieben Monaten verheißen hatte, und machten sieben Jahre
daraus, und schließlich sahen sie einen bösen Feind am Werke, der
den Byzantinern helfen und mit diesen gegen sie zu Felde ziehen
würde, bevor das Reich des Islams anbrach. Sie nannten ihn den
Daggal und hatten ihn bezeichnenderweise aus der christlichen
Vorstellungswelt entlehnt. Es war eine typisch apokalyptische Figur.
Falsche Christusse
Im Koran stand davon nichts; der Name kommt aus dem Aramäischen
und stammt aus dem Matthäusevangelium. Dort spricht in Kap. 24 v.
24 Jesus von den falschen Christussen, die aufstehen werden und
"große Zeichen und Wunder tun, dass verführet werden in den
Irrtum auch die Auserwählten". Die "falschen Christusse"
heißen in der Bibel der syrischen Kirche, der sogenannten Psitta,
auf aramäisch mesihe daggale. Mesihe ist der
Plural zu mesiha, "Messias" bzw. "Christus".
Daggal aber heißt eigentlich "lügnerisch", eben
"falsch" im doppelten Sinne des Wortes; das übernahmen
die Araber nun in ihre eigene Sprache als Daggal. Im Arabischen
lässt sich das Wort überhaupt nicht etymologisieren. Die Muslime
müssen gemerkt haben, dass die Christen es dauernd im Munde
führten. So sind apokalyptische Ängste der Christen in den Islam
gedrungen. Der "falsche Christus" ist natürlich genau
jener "Antichrist", den die schwäbischen Pietisten in
Khomeini wiedererkennen wollten.
Der Mahdi
Nun heißt dies nicht unbedingt, dass dieser Gedanke im Islam als
Fremdkörper empfunden worden wäre. 1967, nach dem
Sechs-Tage-Krieg, kursierten in Syrien religiöse Traktätchen, in
denen behauptet wurde, dass der Daggal aufgetreten sei. Jeder
wusste, wer gemeint war: Moshe Dayan; denn der Antichrist ist nach
der Überlieferung einäugig. Das, nicht irgendwelche Berechnungen,
führte zur Identifikation. Die sunnitische Bevölkerung gönnte der
Regierung die Niederlage; Hazid al-Asad und seine Leute hingen ja
einem häretischen und gnostisch konzipierten Islam an. Zudem wusste
man, dass nach dem Daggal der Mahdi auftritt, sein positiver
Widerpart, der ihn besiegen wird. Er ist eine rein islamische Figur,
und er vertritt auch das Grundideal des Islams; er wird auf Erden
das Reich der Gerechtigkeit begründen. Von ihm hatte man in der
Frühzeit etwa zur gleichen Zeit zu reden begonnen wie vom Daggal:
in Syrien (vor allem in Hims, dem alten Emesa), aber auch im Irak,
wo die Unterschichten ihn sich zum Ideal erwählten. Der Mahdi wurde
zur Gallionsfigur von Sozialrevolten. Wichtig ist dabei: Er wirkt
innerweltlich. Wenn er das Paradies auf Erden errichtet, so
verwirklicht er darin das, was das Gesetz, d. h. der Koran,
befiehlt. Er tut genau das, was das Volk von einer islamischen
Regierung meist vergeblich erwartet: Er bringt soziale
Gerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit, nicht freedom and democracy;
hier ist ein Punkt, wo Leute des Westens und Muslime häufig
aneinander vorbeireden.
Mahdi ist eine Figur der Hadite
Aber so sehr der Mahdi für die Verwirklichung dessen bürgt, was
Muhammad nach der higra einzurichten in der Lage war, auch er steht
nicht im Koran. In die Vorstellungswelt der Muslime - in ihr
imaginaire, wie die Historiker der Annales-Schule sagen - ist er,
ebenso wie der Daggal, nur eingegangen, weil man in apokryphen
Prophetenworten über ihn redete, sogenannten Haditen. Hadite (die
durchaus nicht immer apokryph sein müssen) sind neben dem Koran die
zweite Basis des islamischen Glaubenssystems, die Tradition der
Urgemeinde sozusagen. So ist die koranische Eschatologie mit diesen
Figuren angereichert worden. Die Theologen haben durchaus gemerkt,
dass hier ein fremdes Element in den Islam hineinkam, eine
"Neuerung", wie man sagte; aber gegen den Volksglauben
konnten sie nichts ausrichten - und sie wollten es wohl auch im
allgemeinen nicht, denn Religion besteht nun einmal in einem
beträchtlichen Maße aus Tradition. Sie konnten und wollten es auch
deswegen nicht, weil diese Vorstellungen im Verbund mit anderen
standen, die ihnen lieb und teuer waren: der sozialen Gerechtigkeit,
wie bereits erwähnt, aber auch dem gihad, durch den die syrischen
Muslime zu "Leuten des Paradieses" geworden waren.
Verschiedene Vorstellungen vom gihad
Der gihad, unser "Heiliger Krieg" , hatte sich gegen
die Ungläubigen gerichtet, vielleicht in endzeitlicher Weise, aber
er konnte sich auch gegen die Ungerechtigkeit der eigenen Leute
richten, gegen die Tyrannei, welche der Mahdi bekämpfen wird.
Heutige radikale Muslime führen den Heiligen Kampf bekanntlich eher
gegen die eigene Regierung, weil diese den Islam nicht in rechter
Weise praktiziert. Gemäßigte Fundamentalisten dagegen fallen
dadurch auf, dass sie sich in besonderer Weise karitativ engagieren,
im "Einsatz" (das heißt gihad wörtlich) für soziale
Gerechtigkeit in einer durch Überbevölkerung und wirtschaftliche
Abhängigkeit zusammenbrechenden Gesellschaft. Auch das ist
Gestaltung der Weltzeit, und auch das ist ein Erbe der Urgemeinde
und der ersten Generationen, die auf sie folgten.
Gekürzt und Bearbeitet von Ernst Pohn
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