Die Rezeption des Korans
Im Verständnis christlicher Theologie galt der Koran lange Zeit
als Imitat biblischer Überlieferungen durch Muhammad. Der Koran hat
aber, da er nach islamischer Auffassung insgesamt Schrift Gottes
ist, absolute Gültigkeit. Die christliche Theologie hat auf die
Frage, wie sie in ihrem Verständnis Koran und Muhammad sehen
könne, noch keine einvernehmliche Antwort gefunden. Eine
lehramtlich endgültige Antwort zu erwarten, wie in christlicher
Sicht der Koran zu beurteilen sei, wäre verfrüht. Mehr als
wertvoll ist es aber, die Rezeptionsgeschichte des Korans innerhalb
und außerhalb des Islams nachzuzeichnen.
Nach muslimischem Glauben müssten prinzipiell alle gutwilligen
und vernünftigen Menschen die Wahrheit und Verpflichtungskraft des
Korans einsehen. Dass man ihn kennt und ihm nicht als dem Wort
Gottes folgt, ist Muslimen sowohl theologisch wie im alltäglichen
religiösen Bewusstsein zumeist nicht begreiflich - oder besser:
verstehbar nur als innere Widersprüchlichkeit der Ungläubigen.
Schon im Koran selbst wird die Einstellung derer, die hören und
doch nicht hören wollen, die lesen und doch nicht verstehen wollen,
als deren Schuld angeprangert: "Denen, die ungläubig sind, ist
es gleich, ob du sie warnst oder nicht warnst; sie glauben nicht.
Gott hat ihr Herz und ihr Gehör versiegelt, und über ihren Augen
liegt eine Hülle " (2,6f). "...Als zu ihnen ein Gesandter
von Gott her kam, der bestätigte, was bei ihnen war, warf ein Teil
derer, denen das Buch zugekommen war, das Buch Gottes hinter ihren
Rücken, als ob sie nicht Bescheid wüssten" (2,99-100). Für
eine verständnisvollere Beurteilung derer, die diesen Glauben nicht
teilen und dieses Buch nicht derart als unmittelbares Wort Gott
annehmen können, fehlt bislang im Islam weiterhin jeder Ansatz.
Die Erläuterungen des Korans durch die Sunna
Dem endgültigen Wort des Korans stehen, um des rechten
Verständnisses willen, die geschichtlichen Überlieferungen dessen
zur Seite, was der Prophet sagte, was er tat und was er im
stillschweigenden Einverständnis billigte. Zusammenfassend
bezeichnet man dies als die "Sunna", d. h. "die
übliche Praxis, die Gewohnheit" (des Propheten). Jede
"Erzählung" (hadit), die von ihm etwas Erhebliches
mitzuteilen weiß, trägt bei zu dem großen und vielstimmigen
Kommentar, den die Gefährten Muhammads und die späteren Sammler
ihrer Überlieferung der Nachwelt zum besseren Verständnis des
Korans hinterließen.
Stellenwert der Hadithe
Selbst wenn die Hochschätzung der Hadithe die Bewertung des
Korans als des einzig authentischen und endgültigen Wortes Gottes
nicht im geringsten einschränkt, so macht sie es doch möglich,
dass neben ihm von einer "zweiten Quelle" des muslimischen
Glaubens und Rechts gesprochen werden kann. Trotz aller Unterschiede
zur ersten gelten im allgemeinen auch die Hadithe als von Gott
inspiriert. Andererseits aber ist der Traditionsvorgang selbst, die
Kette seiner Tradenten, nicht von vornherein als schlechthin
vertrauenswürdig gesichert. Dies schafft eine zwiespältige
Situation: Mit den Hadithen wird in die Umgebung des Korans, also
des unmittelbaren Wortes Gottes, zur Steigerung von dessen
Deutlichkeit und Wirksamkeit eine Fülle von Überlieferungen
gestellt, die auch von den Gefährten Muhammads und weiteren
Vermittlern, demnach von menschlicher Aktivität abhängig sind.
Vergleich Sunna - Koran
Außerdem kann festgestellt werden: Im Unterschied zu dem einen,
in seinem Umfang eindeutig begrenzten Koran ist die Sunna des
Propheten in zahlreichen Büchern niedergeschrieben. Den 114 Suren
mit insgesamt über 6000 Versen stehen in der bedeutenden Sammlung
von al-Buhari ungefähr 7300 einzelne Hadithe gegenüber, in der
ebenfalls klassischen Sammlung von Ahmad ibn-Hanbal gar fast 30 000.
Während der Text des Korans in seiner Gültigkeit
selbstverständlich nirgends umstritten ist, lösten die Hadithe
unter den muslimischen Theologen vielfache Untersuchungen darüber
aus, welche Überlieferungen als "gesund" oder - in einem
minderen Rang - als nur "gut" anerkannt werden können und
welche im Gegensatz dazu als "schwach" oder gar als
"erfunden" beurteilt werden müssen. Und schließlich kann
bei allen Hadithen nur ihr überlieferter Inhalt, nicht dagegen die
literarische Form auf die Würde des Propheten zurückgeführt
werden (während beim Koran auch die Sprachgestalt zum
Offenbarungsbestand gehört). Die Hadithe gewähren also nicht nur,
wie es die eigentliche Absicht aller Erläuterungen ist, größere
Sicherheit darüber, was das rechte Verständnis des Korans sei,
sondern sie lassen auch bestehende Unsicherheiten deutlicher
erkennen, ja sie können sie im Einzelfall ihrerseits noch
vermehren.
Gravierende Differenz bei den Schiiten
Eine besonders gravierende Differenz innerhalb des Islams schafft
die Orientierung an der Tradition dadurch, dass den Schiiten nur
solche Hadithe als rechtmäßig gelten, deren Überlieferungskette
über Ali läuft, da sie nur ihn als einzig legalen Nachfolger
Muhammads anerkennen. Dementsprechend sind für sie die meisten der
Gefährten des Propheten, die in sunnitischer Sicht bedeutende
Gewährsmänner darstellen, unzuverlässig; standen sie doch
politisch auf der falschen Seite. Deshalb erstellte und autorisierte
die Schia eigene Sammlungen.
Hadithe als Unterstützung des Korans
Eine solche Sicherung der Botschaft des Korans durch eine
erläuternde Tradition belegt den Tatbestand, dass der muslimischen
Gemeinde in ihrer geschichtlichen Dauer und regionalen Ausdehnung,
ihrem sozialen Wandel und ihrer Vielfalt an Handlungssituationen die
primäre Offenbarungsschrift allein faktisch nicht hinreichen
konnte. Diese musste auf konkretere Normen hin ausgelegt und den
jeweils gegebenen Bedürfnissen und Notwendigkeiten angepasst
werden. Die Hochschätzung der Hadithe verweist also auch auf eine
gewisse funktionale Unzulänglichkeit des Korans. Dies zeigt sich
besonders deutlich bei der Anreicherung der prophetischen
Überlieferungen durch unauthentische Materialien: "Erst als
sich herausstellte, dass aus dem Wortlaut der Schrift allein eine
klare Entscheidung kaum abzulesen war, hat man in verstärktem Maße
begonnen, die anonymen ahbar (Nachrichten) und die theologischen
Slogans, die man bis jetzt zur Exegese heranzog oder in umstrittener
Weise aus ihr ableitete, den Prophetengenossen und schließlich dem
Propheten selber in den Mund zu legen".
Exegese
Da der Koran nicht schlechthin ein überzeitliches Buch ist,
sondern ständig auf einmalige Situationen zur Zeit Muhammads Bezug
nimmt, kann man auch in gewissem Maß historische Forschung über
ihn betreiben. Aber andererseits ist er doch nicht in dem Sinn
geschichtlich bedingt wie nach christlicher (und jüdischer)
Theologie die biblischen Texte, wo Faktoren der Umwelt den Text
selbst prägen; im Koran bestimmt allein Gott den Text - aber den
Umständen angemessen: Gott hat seine "Anlässe der Offenbarung
", die dem Menschen, den äußeren Gegebenheiten nach,
erkennbar sein können. Wenn man diese mit im Blick hat, kann man
den Koran besser verstehen. Islamische Exegese hat also nicht nur
eine philologische Aufgabe, der Grammatik und Semantik (den
sprachlichen Regeln und Bedeutungen) nachzugehen, sondern auch eine
historische (unter Ausschluss vor allem der Traditionskritik).
Die dogmatische Frage: In der Zeit geschaffen
oder ungeschaffen ewig?
Angesichts der theologischen Stellung des Korans diskutierte die
muslimische Theologie ausführlich das Problem, ob der Koran in der
Zeit geschaffen oder ungeschaffen ewig sei. Als gültige Auffassung
setzte sich schließlich durch, dass der Koran als Wort Gottes ewig,
als konkretes geschichtliches Buch jedoch geschaffen sei. - Die
Auseinandersetzungen ähneln den christologischen Streitigkeiten um
die göttliche und menschliche Natur Jesu. (Nur hatten theologische
Dispute im Islam nie die Bedeutung für den Glauben und die
Glaubensgemeinschaft wie im Christentum. Es gibt im Islam keine
lehramtlich erlassenen Dogmen.)
"Gesicherte" und
"mehrdeutige" Verse
Für die islamische Hermeneutik des Korans erheblich ist
schließlich eine Unterscheidung, die er selbst in der 3. Sure
vorgibt: "In ihm sind gesicherte Verse - sie sind die Mutter
der Schrift - und andere, mehrdeutige. Die, in deren Herzen
Verirrung ist, folgen dem, was von ihm mehrdeutig ist, bestrebt,
aufzuwiegeln und bestrebt, es zu deuten. Seine Deutung aber kennt
niemand auf3er Gott. Die im Wissen fest gegründet sind, sagen: `Wir
glauben es. Alles ist von unserem Herrn. ' Aber nur die Einsichtigen
lassen sich mahnen" (3,7).Hier kommt der pragmatische Charakter
des Korans und des Islams zur Geltung: Der Koran soll auf die
Gewähr von Gemeinschaft und gemeinschaftlichem Handeln ausgerichtet
sein. Wo dagegen Diskrepanzen, Rechthaberei, Streit um Bedeutungen
aufkommen - und seien sie anscheinend durch den Koran selbst
nahegelegt -, da verfehlt man seinen eigentlichen Sinn. Warum
überhaupt der Koran bestimmte Verse mehrdeutig belässt,
beantwortet er selbst nicht. Sein Ruf zur Selbstbescheidung sollte
genügen. In diesem Sinn erklärt etwa der islamische Rechtsgelehrte
Malik im 8. Jahrhundert zur Aussage des Korans, dass Gott sich nach
den sechs Tagen der Schöpfung "auf dem Thron
zurechtsetzte" (7,54): "Das Sich-zurecht-Setzen ist
bekannt, das Wie ist unbekannt, der Glaube daran ist Pflicht, aber
die Frage danach Ketzerei" (Grundsatz des saudi-arabischen
Gelehrten unseres Jahrhunderts Ibn Baz).
Einschätzung des Korans in der christlichen
Tradition
Die christliche Theologie wehrte den prophetischen Anspruch
Muhammads von Anfang an vehement ab, da sie ihn im Widerspruch zu
ihrem eigenen Glaubensverständnis erfuhr, nach dem sich Gott in
Jesus Christus endgültig geoffenbart hat. Bis zur Neuzeit bewegten
sich dabei ihre Urteile über den Koran zwischen seiner Schmähung
als phantastisch-lügnerisches Machwerk und seiner relativen
Anerkennung als Imitat biblischer Überlieferungen. Im Zuge der
Aufklärung veränderten sich die Beurteilungen der
nichtchristlichen Religionen und damit grundsätzlich auch die des
Islams. Doch Hand in Hand mit der Aufgeschlossenheit für die fremde
Religion kam deren wissenschaftliche Erforschung, die mit keinen
anderen als innerweltlichen Faktoren rechnen konnte. Der Koran kam
so als ein Werk in den Blick, das in vielem die Abhängigkeiten
seines menschlichen Schöpfers erkennen ließ - oft sahen
Islamwissenschaftler darin auch die Eigenmächtigkeit dieses Autors
am Werk. Gleichzeitig hielt man aber auch danach Ausschau, wie man
die methodisch areligiöse Einstellung der Wissenschaft mit einem
gewissen Respekt gegenüber dem Islam, seinem heiligen Buch und
dessen Propheten zusammenbringen könne. Man bewunderte dann sein
Werk etwa als das eines religiösen Genies, vereinzelt aber auch als
das eines raffinierten Taktikers.
Übereinstimmung zwischen christlichen
Theologen und Islamwissenschaftlern
Auf jeden Fall kam die Grundeinstellung der Islamwissenschaftler
dem sehr nahe, was die christlichen Theologen an Urteilsmustern
parat hatten. Umgekehrt sahen sich die christlichen Theologen durch
die Islamwissenschaftler unterstützt. Beide trafen sich darin, dass
sie die muslimischen Glaubenselemente aus traditionsgeschichtlichen
Herkünften ableiteten und damit Relativierungen unterwarfen, die
der Islam selbst nachdrücklich bestreitet. Bezeichnend dafür sind
etwa folgende Urteile Rudi Parets: "Da der Prophet glaubte, zur
selben Botschaft aufgerufen zu sein, die seinerzeit - im
wesentlichen identisch - im Judentum und Christentum verkündet
worden war, hatte er Interesse daran, möglichst viel jüdisches und
christliches Gedankengut in Erfahrung zu bringen. Den Erfolg seines
Lerneifers können wir aus dem Koran deutlich ablesen. In erster
Linie waren es Geschichten von alttestamentlichen Gottesmännern,
die er in das Repertoire seiner Verkündigung aufnahm" (Rudi
Paret, Mohammed und der Koran, Stuttgart 1985, 62f). Für derartiges
psychologisierendes Bewerten fehlt - nach wissenschaftlichen
Maßstäben - die sachliche Grundlage. Ähnlich findet man in einem
stärker theologisch orientierten Lexikon über die Darstellung von
Adams Sündenfall im Koran die Feststellung, dass Muhammad dabei
"wohl hauptsächlich die jüdische Haggada verarbeitet
hat" (Günter Riße, Adam, in: Lexikon der Religionen, Hrsg.
Von Hans Waldenfels, Freiburg 1987,6)
Prophetie aus dem Unterbewusstsein?
Soweit man in islamwissenschaftlichen Studien, um des gerechten
interreligiösen Vergleichs willen, einräumte, dass "Muhammed
ein echter Prophet war" (Theodor Nöldeke, Geschichte des
Korans. Bearbeitet von Friedrich Schwally. Erster Teil: Über den
Ursprung des Qorans. Leipzig 1909, Nachdr. Hildesheim 1970, 2),
verband man dies mit einer Bedeutung, die religiös neutral war:
"Das Wesen des Propheten besteht darin, dass sein Geist von
einer religiösen Idee erfüllt und endlich so ergriffen wird, dass
er sich wie von einer göttlichen Macht getrieben sieht, jene Idee
seinen Mitmenschen als von Gott stammende Wahrheit
mitzuteilen"(Ebd. 1). Einerseits bleibt Muhammads alleinige
Autorschaft damit unbeeinträchtigt, andererseits kann man ihm
zugleich die reflektierte Verantwortung seines Buchs absprechen.
Wenn er "das von Fremden Empfangene in langer Einsamkeit mit
sich herumtrug, es auf seine Denkweise wirken und nach dieser wieder
sich umformen ließ, bis ihn endlich die entschiedene innere Stimme
zwang, trotz Gefahr und Spott damit vor seine Landsleute zu treten,
um sie zu bekehren"' (Th.Nöldeke/F. Schwally, 3), dann ist der
Koran letzten Endes das Ergebnis einer genial-unpersönlichen
Traditionsgeschichte.
Entschlüsselung des Offenbarungserlebens
Muhammads
Besonders raffiniert ist die Erklärung, nach der Muhammad
"in der ersten Zeit seines Auftretens in Mekka ein vollkommen
aufrichtiger Charakter mit einem stark hervortretenden Idealismus
war", später dagegen "mitunter eine kleine Komödie
gespielt und einen prophetischen Anfall arrangiert hat" (Frants
Buhl, Das Leben Muhammeds, Darmstadt ~1961, 141f). Muhammad sei es
"nach und nach möglich geworden..., selbst jene pathologischen
Zustände hervorzurufen, ohne dass ihm dies klar vor Augen stand,
und ohne dass er irgendeinen Unterschied in der Objektivität
zwischen den so provozierten Anfällen und den früheren
bemerkte." (ebd. 142) In solchen Erklärungen verbanden sich
islamwissenschaftliche Forschungen eng mit naiven psychologischen
Mutmaßungen. Christliche Theologie konnte sich dadurch in ihren
eigenen glaubensbedingten Urteilen über den Islam bekräftigt sehen
und zugleich die alten, gar zu groben Diskriminierungsmuster
aufgeben. Einerseits war es ihr von nun an möglich, den Koran in
religiös-gewohnter Sprechweise auf den "Geist der
Inspiration" zurückzuführen, und andererseits konnte sie doch
im selben Atemzug das Offenbarungserleben Muhammads als ein
Zusammenspiel rein seelischer Faktoren entschlüsseln.
Mutmaßungen über den Inspirationsspielraum
Muhammads
Der damit eröffnete Interpretationsspielraum lässt theologische
Würdigungen von Muhammads prophetischer Rolle in unterschiedlichen
Graden der Anerkennung und Distanzierung zu. Einerseits spricht man
psychologisierend vage von der Tiefe seines Bewusstseins die ihn so
handeln hat lassen, andererseits stellt man in theologisch
deutlicher Zuordnung und Bewertung fest, dass dies in der Sprache
des Glaubens "teilweise dem entspricht, was Christen unter dem
Heiligen Geist verstehen. Beides jedoch ist weit entfernt sowohl von
dem, was sich mit historischer Kritik ausmachen lässt, wie von dem,
was man gegenüber dem traditionellen Verständnis des Islams
verantworten kann.
Der Koran - Muhammads Wort ?
Nach herkömmlicher islamwissenschaftlicher Gewohnheit zitieren
auch christliche Theologen bis heute den Koran weithin unbefangen
und selbstsicher mit der Formel "Muhammad sagte... ". Doch
schon ein rein literarischer Sachverhalt müsste diese
wissenschaftlich gängige Sprechweise in ihrer scheinbaren
Selbstverständlichkeit irritieren: Sie lässt den erheblichen
Unterschied zwischen dem Koran und den Hadithen verschwinden.
Während die Hadithe inhaltlich wie formal Muhammads Aussagen
überliefern, ist das Redesubjekt des Korans primär Gott, wie
realistisch oder fiktional man dies auch immer verstehen mag. Obwohl
natürlich die Wissenschaft Gott nicht als Autor eines literarischen
Werks ansehen kann, muss sie dennoch, wenn sie der Religion und
nicht nur einem von ihr zubereiteten Objekt gerecht werden will, den
phänomenologischen Unterschied beachten, dass im Glaubenssystem des
Islams der Koran nicht die Rede Muhammads ist und dies auch in der
Sprachgestalt des Buches seinen Ausdruck findet. Wer aus dem Koran
in derselben Weise wie aus den Hadithen zitiert, verfälscht die
religiöse Realität, die er zu untersuchen und zu besprechen
vorgibt. In nichts verstieße man gegen die wissenschaftlichen und
sprachlichen Spielregeln oder gäbe man den eigenen
weltanschaulichen Standort preis, wenn man bei Zitaten statt dessen
formulierte: "Der Koran sagt... ". Im Gegenteil wird nur
so die sprachliche Genauigkeit gewahrt. Es geht in dieser Sache
nicht allein um eine Konvention von Formulierungen, sondern um die
entscheidende Frage, welches Objekt man wahrzunehmen bereit ist:
eine Religion nach ihrem Selbstverständnis oder ein eigenmächtig
zubereitetes Konstrukt. Vereinzelt rechnet man auch auf muslimischer
Seite mit der Möglichkeit, den Koran als "Wort Gottes"
einerseits mit seiner Herkunft aus dem Bewusstsein und den
Erfahrungen Muhammads anderseits zusammenzusehen: Der Koran ist
reines göttliches Wort, aber gleichermaßen zutiefst bezogen auf
die innerste Persönlichkeit des Propheten Muhammad.
Dezente Forderung nach objektiver Behandlung
Muhammads durch die Christen
Während sich das Zweite Vatikanische Konzil bei seiner
Würdigung des Islams nicht in der Lage sah, Muhammad und den Koran
auch nur mit dem Namen zu erwähnen, schreibt sechzehn Jahre später
das päpstliche Sekretariat, für die Nichtchristen in seiner
Schrift "Wege zum christlichislamischen Dialog" (Vgl.
Sekretariat für die Nichtchristen/Maurice Borrmans (1985): Wege zum
christlich-islamischen Dialog, Frankfurt 1985 (orig.: Paris 1981)):
Die Christen müssten im Blick auf Muhammad "objektiv
abschätzen und `im Glauben' entscheiden, wo genau seine
Inspiration, seine Aufrichtigkeit und seine Treue lagen im Rahmen
seiner persönlichen Antwort auf den Ruf Gottes und in jenem
umfassenderen Bereich einer von der Vorsehung geleiteten
Weltgeschichte." (ebd. 78f) Sieht man von dem unerreichbaren
Ziel einer "objektiven" Entscheidung ab, ist hier deutlich
das Problem benannt, dem gegenüber die Kirche zuvor verlegen
schwieg.
Muhammad: "Prophetisches Genie" oder
"Prophet"?
Die Stellungnahme des Sekretariats für die Nichtchristen
beschränkt aber ihr bescheidenes Zugeständnis, dass Muhammad
"gewisse `prophetische' Besonderheiten" aufweise, schnell
auf doppelte Weise: Erstens sieht sie ihn nicht wie die biblischen
Propheten als einen von Gott Ergriffenen, sondern als einen, der aus
sich selbst tätig wird und dabei zugleich ganz unselbständig
bleibt. Zweitens wird er schließlich doch gar zu deutlich hinter
die Propheten zurückgesetzt, da er sich nicht völlig dem
anschloss, den sie angekündigt haben. Doch ein solches Verständnis
wird weder Muhammad gerecht noch der alttestamentlichen Prophetie;
denn in dieser wird Jesus gerade nicht so "angekündigt",
dass man Jahrhunderte später nur ihr folgen müsste, um Jesus
"völlig" im christlichen Sinn zu begreifen. So führt
diese kirchliche Erklärung zwar erheblich über die Äußerung des
Zweiten Vatikanischen Konzils hinaus, trägt aber kaum weniger
deutlich Zeichen der Verlegenheit. Weiter gehen diejenigen
christlichen Theologen, die in Erwägung des von Muhammad erhobenen
Anspruchs, seiner subjektiven Glaubwürdigkeit, der ihm
entgegengebrachten Zustimmung und der aufbauenden Kraft, die von
seiner Botschaft ausgeht, zu dem Urteil kommen, dass "Muhammad
ein echter Prophet ist" (William Montgamery Watt, Islam and
Christianity today. A contribution to dialogue, London 1983, 61
("Muhammad is a genuine prophet"). Es liegt auf der Hand,
dass sie sich damit noch nicht schlechthin mit dem Bekenntnis der
Muslime identifizieren; aber darum geht es auch nicht. In erster
Linie haben christlicher Glaube und christliche Theologie für sich
selbst zu sagen, wie sie in ihrem Verständnis Koran und Muhammad
sehen können. Ein unter Christen allgemein konsensfähiges Urteil
ist dabei freilich nicht zu erwarten.
Fragen an die muslimische Theologie
Eine pauschale, gar lehramtlich endgültige Antwort, wie in
christlicher Sicht der Koran zu beurteilen sei, wäre zu
großspurig. Wir werden differenzierter auf die Aussagen des Korans
schauen und zugleich auch einen offenen Raum für persönliche
Wertungen und Verständigungen schaffen müssen. Dabei bleiben auch
Fragen an die muslimische Theologie, zunächst im Blick auf
Unterscheidungen, die sie selbst deutlich einräumt: nach dem
Verhältnis nämlich von (göttlicher) Schrift und (menschlicher)
Exegese, - von dem, was "eindeutig festgestellt" ist, und
dem, was in seiner Vieldeutigkeit belassen werden soll, - von
universalem, endgültigem Wort Gottes und situativ ausgerichteten
Weisungen, - von begrenztem Koran und transzendenter, unauslotbarer
Fülle der Worte Gottes. Damit drängen auch Fragen an, die dem
Islam nach seinem traditionellen Selbstverständnis schwer fallen
oder gar verwehrt zu sein scheinen: nach dem Grad und Umfang der
Verbindlichkeit traditioneller Geltung überhaupt; nach der
geschichtlichen und kulturellen Bedingtheit des Korans, seiner
menschlichen Vermittlung, seiner Abhängigkeit von vorausgehenden
Traditionen. Diese Probleme werden sich im Nebeneinander der
Religionen, Kulturen und weltanschaulichen Mentalitäten nicht
einfach beiseite schieben lassen.
Eine offene Situation
Selbst wenn der Islam bei seiner dogmatischen Antwort - der
unmittelbaren und uneingeschränkten Verbalinspiration des Korans -
bleibt, wird er vielleicht die Spannungen, die sich daraus ergeben,
doch ernsthafter wahrnehmen und aushalten müssen, als dies zumeist
geschieht. Schließlich wäre es möglich, dass muslimische
Theologen das christliche Verständnis von Offenbarung und Heiliger
Schrift besser zur Kenntnis nähmen und angemessener würdigten,
selbst wenn sie es nicht als das ihre anerkennen können. Dass sich
bei alldem auch unser eigenes Verständnis von Offenbarung und
Heiliger Schrift noch in mancher Hinsicht als offen, gar undeutlich
erweist, könnte die Sache eher bereichern als erschweren.
Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn
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