Fachartikel

Die Rezeption des Korans

Von Hans Zirker (Biografie)

 

Im Verständnis christlicher Theologie galt der Koran lange Zeit als Imitat biblischer Überlieferungen durch Muhammad. Der Koran hat aber, da er nach islamischer Auffassung insgesamt Schrift Gottes ist, absolute Gültigkeit. Die christliche Theologie hat auf die Frage, wie sie in ihrem Verständnis Koran und Muhammad sehen könne, noch keine einvernehmliche Antwort gefunden. Eine lehramtlich endgültige Antwort zu erwarten, wie in christlicher Sicht der Koran zu beurteilen sei, wäre verfrüht. Mehr als wertvoll ist es aber, die Rezeptionsgeschichte des Korans innerhalb und außerhalb des Islams nachzuzeichnen.

Nach muslimischem Glauben müssten prinzipiell alle gutwilligen und vernünftigen Menschen die Wahrheit und Verpflichtungskraft des Korans einsehen. Dass man ihn kennt und ihm nicht als dem Wort Gottes folgt, ist Muslimen sowohl theologisch wie im alltäglichen religiösen Bewusstsein zumeist nicht begreiflich - oder besser: verstehbar nur als innere Widersprüchlichkeit der Ungläubigen. Schon im Koran selbst wird die Einstellung derer, die hören und doch nicht hören wollen, die lesen und doch nicht verstehen wollen, als deren Schuld angeprangert: "Denen, die ungläubig sind, ist es gleich, ob du sie warnst oder nicht warnst; sie glauben nicht. Gott hat ihr Herz und ihr Gehör versiegelt, und über ihren Augen liegt eine Hülle " (2,6f). "...Als zu ihnen ein Gesandter von Gott her kam, der bestätigte, was bei ihnen war, warf ein Teil derer, denen das Buch zugekommen war, das Buch Gottes hinter ihren Rücken, als ob sie nicht Bescheid wüssten" (2,99-100). Für eine verständnisvollere Beurteilung derer, die diesen Glauben nicht teilen und dieses Buch nicht derart als unmittelbares Wort Gott annehmen können, fehlt bislang im Islam weiterhin jeder Ansatz.

Die Erläuterungen des Korans durch die Sunna

Dem endgültigen Wort des Korans stehen, um des rechten Verständnisses willen, die geschichtlichen Überlieferungen dessen zur Seite, was der Prophet sagte, was er tat und was er im stillschweigenden Einverständnis billigte. Zusammenfassend bezeichnet man dies als die "Sunna", d. h. "die übliche Praxis, die Gewohnheit" (des Propheten). Jede "Erzählung" (hadit), die von ihm etwas Erhebliches mitzuteilen weiß, trägt bei zu dem großen und vielstimmigen Kommentar, den die Gefährten Muhammads und die späteren Sammler ihrer Überlieferung der Nachwelt zum besseren Verständnis des Korans hinterließen.

Stellenwert der Hadithe

Selbst wenn die Hochschätzung der Hadithe die Bewertung des Korans als des einzig authentischen und endgültigen Wortes Gottes nicht im geringsten einschränkt, so macht sie es doch möglich, dass neben ihm von einer "zweiten Quelle" des muslimischen Glaubens und Rechts gesprochen werden kann. Trotz aller Unterschiede zur ersten gelten im allgemeinen auch die Hadithe als von Gott inspiriert. Andererseits aber ist der Traditionsvorgang selbst, die Kette seiner Tradenten, nicht von vornherein als schlechthin vertrauenswürdig gesichert. Dies schafft eine zwiespältige Situation: Mit den Hadithen wird in die Umgebung des Korans, also des unmittelbaren Wortes Gottes, zur Steigerung von dessen Deutlichkeit und Wirksamkeit eine Fülle von Überlieferungen gestellt, die auch von den Gefährten Muhammads und weiteren Vermittlern, demnach von menschlicher Aktivität abhängig sind.

Vergleich Sunna - Koran

Außerdem kann festgestellt werden: Im Unterschied zu dem einen, in seinem Umfang eindeutig begrenzten Koran ist die Sunna des Propheten in zahlreichen Büchern niedergeschrieben. Den 114 Suren mit insgesamt über 6000 Versen stehen in der bedeutenden Sammlung von al-Buhari ungefähr 7300 einzelne Hadithe gegenüber, in der ebenfalls klassischen Sammlung von Ahmad ibn-Hanbal gar fast 30 000. Während der Text des Korans in seiner Gültigkeit selbstverständlich nirgends umstritten ist, lösten die Hadithe unter den muslimischen Theologen vielfache Untersuchungen darüber aus, welche Überlieferungen als "gesund" oder - in einem minderen Rang - als nur "gut" anerkannt werden können und welche im Gegensatz dazu als "schwach" oder gar als "erfunden" beurteilt werden müssen. Und schließlich kann bei allen Hadithen nur ihr überlieferter Inhalt, nicht dagegen die literarische Form auf die Würde des Propheten zurückgeführt werden (während beim Koran auch die Sprachgestalt zum Offenbarungsbestand gehört). Die Hadithe gewähren also nicht nur, wie es die eigentliche Absicht aller Erläuterungen ist, größere Sicherheit darüber, was das rechte Verständnis des Korans sei, sondern sie lassen auch bestehende Unsicherheiten deutlicher erkennen, ja sie können sie im Einzelfall ihrerseits noch vermehren.

Gravierende Differenz bei den Schiiten

Eine besonders gravierende Differenz innerhalb des Islams schafft die Orientierung an der Tradition dadurch, dass den Schiiten nur solche Hadithe als rechtmäßig gelten, deren Überlieferungskette über Ali läuft, da sie nur ihn als einzig legalen Nachfolger Muhammads anerkennen. Dementsprechend sind für sie die meisten der Gefährten des Propheten, die in sunnitischer Sicht bedeutende Gewährsmänner darstellen, unzuverlässig; standen sie doch politisch auf der falschen Seite. Deshalb erstellte und autorisierte die Schia eigene Sammlungen.

Hadithe als Unterstützung des Korans

Eine solche Sicherung der Botschaft des Korans durch eine erläuternde Tradition belegt den Tatbestand, dass der muslimischen Gemeinde in ihrer geschichtlichen Dauer und regionalen Ausdehnung, ihrem sozialen Wandel und ihrer Vielfalt an Handlungssituationen die primäre Offenbarungsschrift allein faktisch nicht hinreichen konnte. Diese musste auf konkretere Normen hin ausgelegt und den jeweils gegebenen Bedürfnissen und Notwendigkeiten angepasst werden. Die Hochschätzung der Hadithe verweist also auch auf eine gewisse funktionale Unzulänglichkeit des Korans. Dies zeigt sich besonders deutlich bei der Anreicherung der prophetischen Überlieferungen durch unauthentische Materialien: "Erst als sich herausstellte, dass aus dem Wortlaut der Schrift allein eine klare Entscheidung kaum abzulesen war, hat man in verstärktem Maße begonnen, die anonymen ahbar (Nachrichten) und die theologischen Slogans, die man bis jetzt zur Exegese heranzog oder in umstrittener Weise aus ihr ableitete, den Prophetengenossen und schließlich dem Propheten selber in den Mund zu legen".

Exegese

Da der Koran nicht schlechthin ein überzeitliches Buch ist, sondern ständig auf einmalige Situationen zur Zeit Muhammads Bezug nimmt, kann man auch in gewissem Maß historische Forschung über ihn betreiben. Aber andererseits ist er doch nicht in dem Sinn geschichtlich bedingt wie nach christlicher (und jüdischer) Theologie die biblischen Texte, wo Faktoren der Umwelt den Text selbst prägen; im Koran bestimmt allein Gott den Text - aber den Umständen angemessen: Gott hat seine "Anlässe der Offenbarung ", die dem Menschen, den äußeren Gegebenheiten nach, erkennbar sein können. Wenn man diese mit im Blick hat, kann man den Koran besser verstehen. Islamische Exegese hat also nicht nur eine philologische Aufgabe, der Grammatik und Semantik (den sprachlichen Regeln und Bedeutungen) nachzugehen, sondern auch eine historische (unter Ausschluss vor allem der Traditionskritik).

Die dogmatische Frage: In der Zeit geschaffen oder ungeschaffen ewig?

Angesichts der theologischen Stellung des Korans diskutierte die muslimische Theologie ausführlich das Problem, ob der Koran in der Zeit geschaffen oder ungeschaffen ewig sei. Als gültige Auffassung setzte sich schließlich durch, dass der Koran als Wort Gottes ewig, als konkretes geschichtliches Buch jedoch geschaffen sei. - Die Auseinandersetzungen ähneln den christologischen Streitigkeiten um die göttliche und menschliche Natur Jesu. (Nur hatten theologische Dispute im Islam nie die Bedeutung für den Glauben und die Glaubensgemeinschaft wie im Christentum. Es gibt im Islam keine lehramtlich erlassenen Dogmen.)

"Gesicherte" und "mehrdeutige" Verse

Für die islamische Hermeneutik des Korans erheblich ist schließlich eine Unterscheidung, die er selbst in der 3. Sure vorgibt: "In ihm sind gesicherte Verse - sie sind die Mutter der Schrift - und andere, mehrdeutige. Die, in deren Herzen Verirrung ist, folgen dem, was von ihm mehrdeutig ist, bestrebt, aufzuwiegeln und bestrebt, es zu deuten. Seine Deutung aber kennt niemand auf3er Gott. Die im Wissen fest gegründet sind, sagen: `Wir glauben es. Alles ist von unserem Herrn. ' Aber nur die Einsichtigen lassen sich mahnen" (3,7).Hier kommt der pragmatische Charakter des Korans und des Islams zur Geltung: Der Koran soll auf die Gewähr von Gemeinschaft und gemeinschaftlichem Handeln ausgerichtet sein. Wo dagegen Diskrepanzen, Rechthaberei, Streit um Bedeutungen aufkommen - und seien sie anscheinend durch den Koran selbst nahegelegt -, da verfehlt man seinen eigentlichen Sinn. Warum überhaupt der Koran bestimmte Verse mehrdeutig belässt, beantwortet er selbst nicht. Sein Ruf zur Selbstbescheidung sollte genügen. In diesem Sinn erklärt etwa der islamische Rechtsgelehrte Malik im 8. Jahrhundert zur Aussage des Korans, dass Gott sich nach den sechs Tagen der Schöpfung "auf dem Thron zurechtsetzte" (7,54): "Das Sich-zurecht-Setzen ist bekannt, das Wie ist unbekannt, der Glaube daran ist Pflicht, aber die Frage danach Ketzerei" (Grundsatz des saudi-arabischen Gelehrten unseres Jahrhunderts Ibn Baz).

Einschätzung des Korans in der christlichen Tradition

Die christliche Theologie wehrte den prophetischen Anspruch Muhammads von Anfang an vehement ab, da sie ihn im Widerspruch zu ihrem eigenen Glaubensverständnis erfuhr, nach dem sich Gott in Jesus Christus endgültig geoffenbart hat. Bis zur Neuzeit bewegten sich dabei ihre Urteile über den Koran zwischen seiner Schmähung als phantastisch-lügnerisches Machwerk und seiner relativen Anerkennung als Imitat biblischer Überlieferungen. Im Zuge der Aufklärung veränderten sich die Beurteilungen der nichtchristlichen Religionen und damit grundsätzlich auch die des Islams. Doch Hand in Hand mit der Aufgeschlossenheit für die fremde Religion kam deren wissenschaftliche Erforschung, die mit keinen anderen als innerweltlichen Faktoren rechnen konnte. Der Koran kam so als ein Werk in den Blick, das in vielem die Abhängigkeiten seines menschlichen Schöpfers erkennen ließ - oft sahen Islamwissenschaftler darin auch die Eigenmächtigkeit dieses Autors am Werk. Gleichzeitig hielt man aber auch danach Ausschau, wie man die methodisch areligiöse Einstellung der Wissenschaft mit einem gewissen Respekt gegenüber dem Islam, seinem heiligen Buch und dessen Propheten zusammenbringen könne. Man bewunderte dann sein Werk etwa als das eines religiösen Genies, vereinzelt aber auch als das eines raffinierten Taktikers.

Übereinstimmung zwischen christlichen Theologen und Islamwissenschaftlern

Auf jeden Fall kam die Grundeinstellung der Islamwissenschaftler dem sehr nahe, was die christlichen Theologen an Urteilsmustern parat hatten. Umgekehrt sahen sich die christlichen Theologen durch die Islamwissenschaftler unterstützt. Beide trafen sich darin, dass sie die muslimischen Glaubenselemente aus traditionsgeschichtlichen Herkünften ableiteten und damit Relativierungen unterwarfen, die der Islam selbst nachdrücklich bestreitet. Bezeichnend dafür sind etwa folgende Urteile Rudi Parets: "Da der Prophet glaubte, zur selben Botschaft aufgerufen zu sein, die seinerzeit - im wesentlichen identisch - im Judentum und Christentum verkündet worden war, hatte er Interesse daran, möglichst viel jüdisches und christliches Gedankengut in Erfahrung zu bringen. Den Erfolg seines Lerneifers können wir aus dem Koran deutlich ablesen. In erster Linie waren es Geschichten von alttestamentlichen Gottesmännern, die er in das Repertoire seiner Verkündigung aufnahm" (Rudi Paret, Mohammed und der Koran, Stuttgart 1985, 62f). Für derartiges psychologisierendes Bewerten fehlt - nach wissenschaftlichen Maßstäben - die sachliche Grundlage. Ähnlich findet man in einem stärker theologisch orientierten Lexikon über die Darstellung von Adams Sündenfall im Koran die Feststellung, dass Muhammad dabei "wohl hauptsächlich die jüdische Haggada verarbeitet hat" (Günter Riße, Adam, in: Lexikon der Religionen, Hrsg. Von Hans Waldenfels, Freiburg 1987,6) 

Prophetie aus dem Unterbewusstsein?

Soweit man in islamwissenschaftlichen Studien, um des gerechten interreligiösen Vergleichs willen, einräumte, dass "Muhammed ein echter Prophet war" (Theodor Nöldeke, Geschichte des Korans. Bearbeitet von Friedrich Schwally. Erster Teil: Über den Ursprung des Qorans. Leipzig 1909, Nachdr. Hildesheim 1970, 2), verband man dies mit einer Bedeutung, die religiös neutral war: "Das Wesen des Propheten besteht darin, dass sein Geist von einer religiösen Idee erfüllt und endlich so ergriffen wird, dass er sich wie von einer göttlichen Macht getrieben sieht, jene Idee seinen Mitmenschen als von Gott stammende Wahrheit mitzuteilen"(Ebd. 1). Einerseits bleibt Muhammads alleinige Autorschaft damit unbeeinträchtigt, andererseits kann man ihm zugleich die reflektierte Verantwortung seines Buchs absprechen. Wenn er "das von Fremden Empfangene in langer Einsamkeit mit sich herumtrug, es auf seine Denkweise wirken und nach dieser wieder sich umformen ließ, bis ihn endlich die entschiedene innere Stimme zwang, trotz Gefahr und Spott damit vor seine Landsleute zu treten, um sie zu bekehren"' (Th.Nöldeke/F. Schwally, 3), dann ist der Koran letzten Endes das Ergebnis einer genial-unpersönlichen Traditionsgeschichte.

Entschlüsselung des Offenbarungserlebens Muhammads

Besonders raffiniert ist die Erklärung, nach der Muhammad "in der ersten Zeit seines Auftretens in Mekka ein vollkommen aufrichtiger Charakter mit einem stark hervortretenden Idealismus war", später dagegen "mitunter eine kleine Komödie gespielt und einen prophetischen Anfall arrangiert hat" (Frants Buhl, Das Leben Muhammeds, Darmstadt ~1961, 141f). Muhammad sei es "nach und nach möglich geworden..., selbst jene pathologischen Zustände hervorzurufen, ohne dass ihm dies klar vor Augen stand, und ohne dass er irgendeinen Unterschied in der Objektivität zwischen den so provozierten Anfällen und den früheren bemerkte." (ebd. 142) In solchen Erklärungen verbanden sich islamwissenschaftliche Forschungen eng mit naiven psychologischen Mutmaßungen. Christliche Theologie konnte sich dadurch in ihren eigenen glaubensbedingten Urteilen über den Islam bekräftigt sehen und zugleich die alten, gar zu groben Diskriminierungsmuster aufgeben. Einerseits war es ihr von nun an möglich, den Koran in religiös-gewohnter Sprechweise auf den "Geist der Inspiration" zurückzuführen, und andererseits konnte sie doch im selben Atemzug das Offenbarungserleben Muhammads als ein Zusammenspiel rein seelischer Faktoren entschlüsseln.

Mutmaßungen über den Inspirationsspielraum Muhammads

Der damit eröffnete Interpretationsspielraum lässt theologische Würdigungen von Muhammads prophetischer Rolle in unterschiedlichen Graden der Anerkennung und Distanzierung zu. Einerseits spricht man psychologisierend vage von der Tiefe seines Bewusstseins die ihn so handeln hat lassen, andererseits stellt man in theologisch deutlicher Zuordnung und Bewertung fest, dass dies in der Sprache des Glaubens "teilweise dem entspricht, was Christen unter dem Heiligen Geist verstehen. Beides jedoch ist weit entfernt sowohl von dem, was sich mit historischer Kritik ausmachen lässt, wie von dem, was man gegenüber dem traditionellen Verständnis des Islams verantworten kann.

Der Koran - Muhammads Wort ?

Nach herkömmlicher islamwissenschaftlicher Gewohnheit zitieren auch christliche Theologen bis heute den Koran weithin unbefangen und selbstsicher mit der Formel "Muhammad sagte... ". Doch schon ein rein literarischer Sachverhalt müsste diese wissenschaftlich gängige Sprechweise in ihrer scheinbaren Selbstverständlichkeit irritieren: Sie lässt den erheblichen Unterschied zwischen dem Koran und den Hadithen verschwinden. Während die Hadithe inhaltlich wie formal Muhammads Aussagen überliefern, ist das Redesubjekt des Korans primär Gott, wie realistisch oder fiktional man dies auch immer verstehen mag. Obwohl natürlich die Wissenschaft Gott nicht als Autor eines literarischen Werks ansehen kann, muss sie dennoch, wenn sie der Religion und nicht nur einem von ihr zubereiteten Objekt gerecht werden will, den phänomenologischen Unterschied beachten, dass im Glaubenssystem des Islams der Koran nicht die Rede Muhammads ist und dies auch in der Sprachgestalt des Buches seinen Ausdruck findet. Wer aus dem Koran in derselben Weise wie aus den Hadithen zitiert, verfälscht die religiöse Realität, die er zu untersuchen und zu besprechen vorgibt. In nichts verstieße man gegen die wissenschaftlichen und sprachlichen Spielregeln oder gäbe man den eigenen weltanschaulichen Standort preis, wenn man bei Zitaten statt dessen formulierte: "Der Koran sagt... ". Im Gegenteil wird nur so die sprachliche Genauigkeit gewahrt. Es geht in dieser Sache nicht allein um eine Konvention von Formulierungen, sondern um die entscheidende Frage, welches Objekt man wahrzunehmen bereit ist: eine Religion nach ihrem Selbstverständnis oder ein eigenmächtig zubereitetes Konstrukt. Vereinzelt rechnet man auch auf muslimischer Seite mit der Möglichkeit, den Koran als "Wort Gottes" einerseits mit seiner Herkunft aus dem Bewusstsein und den Erfahrungen Muhammads anderseits zusammenzusehen: Der Koran ist reines göttliches Wort, aber gleichermaßen zutiefst bezogen auf die innerste Persönlichkeit des Propheten Muhammad.

Dezente Forderung nach objektiver Behandlung Muhammads durch die Christen

Während sich das Zweite Vatikanische Konzil bei seiner Würdigung des Islams nicht in der Lage sah, Muhammad und den Koran auch nur mit dem Namen zu erwähnen, schreibt sechzehn Jahre später das päpstliche Sekretariat, für die Nichtchristen in seiner Schrift "Wege zum christlichislamischen Dialog" (Vgl. Sekretariat für die Nichtchristen/Maurice Borrmans (1985): Wege zum christlich-islamischen Dialog, Frankfurt 1985 (orig.: Paris 1981)):

Die Christen müssten im Blick auf Muhammad "objektiv abschätzen und `im Glauben' entscheiden, wo genau seine Inspiration, seine Aufrichtigkeit und seine Treue lagen im Rahmen seiner persönlichen Antwort auf den Ruf Gottes und in jenem umfassenderen Bereich einer von der Vorsehung geleiteten Weltgeschichte." (ebd. 78f) Sieht man von dem unerreichbaren Ziel einer "objektiven" Entscheidung ab, ist hier deutlich das Problem benannt, dem gegenüber die Kirche zuvor verlegen schwieg.

Muhammad: "Prophetisches Genie" oder "Prophet"?

Die Stellungnahme des Sekretariats für die Nichtchristen beschränkt aber ihr bescheidenes Zugeständnis, dass Muhammad "gewisse `prophetische' Besonderheiten" aufweise, schnell auf doppelte Weise: Erstens sieht sie ihn nicht wie die biblischen Propheten als einen von Gott Ergriffenen, sondern als einen, der aus sich selbst tätig wird und dabei zugleich ganz unselbständig bleibt. Zweitens wird er schließlich doch gar zu deutlich hinter die Propheten zurückgesetzt, da er sich nicht völlig dem anschloss, den sie angekündigt haben. Doch ein solches Verständnis wird weder Muhammad gerecht noch der alttestamentlichen Prophetie; denn in dieser wird Jesus gerade nicht so "angekündigt", dass man Jahrhunderte später nur ihr folgen müsste, um Jesus "völlig" im christlichen Sinn zu begreifen. So führt diese kirchliche Erklärung zwar erheblich über die Äußerung des Zweiten Vatikanischen Konzils hinaus, trägt aber kaum weniger deutlich Zeichen der Verlegenheit. Weiter gehen diejenigen christlichen Theologen, die in Erwägung des von Muhammad erhobenen Anspruchs, seiner subjektiven Glaubwürdigkeit, der ihm entgegengebrachten Zustimmung und der aufbauenden Kraft, die von seiner Botschaft ausgeht, zu dem Urteil kommen, dass "Muhammad ein echter Prophet ist" (William Montgamery Watt, Islam and Christianity today. A contribution to dialogue, London 1983, 61 ("Muhammad is a genuine prophet"). Es liegt auf der Hand, dass sie sich damit noch nicht schlechthin mit dem Bekenntnis der Muslime identifizieren; aber darum geht es auch nicht. In erster Linie haben christlicher Glaube und christliche Theologie für sich selbst zu sagen, wie sie in ihrem Verständnis Koran und Muhammad sehen können. Ein unter Christen allgemein konsensfähiges Urteil ist dabei freilich nicht zu erwarten.

Fragen an die muslimische Theologie

Eine pauschale, gar lehramtlich endgültige Antwort, wie in christlicher Sicht der Koran zu beurteilen sei, wäre zu großspurig. Wir werden differenzierter auf die Aussagen des Korans schauen und zugleich auch einen offenen Raum für persönliche Wertungen und Verständigungen schaffen müssen. Dabei bleiben auch Fragen an die muslimische Theologie, zunächst im Blick auf Unterscheidungen, die sie selbst deutlich einräumt: nach dem Verhältnis nämlich von (göttlicher) Schrift und (menschlicher) Exegese, - von dem, was "eindeutig festgestellt" ist, und dem, was in seiner Vieldeutigkeit belassen werden soll, - von universalem, endgültigem Wort Gottes und situativ ausgerichteten Weisungen, - von begrenztem Koran und transzendenter, unauslotbarer Fülle der Worte Gottes. Damit drängen auch Fragen an, die dem Islam nach seinem traditionellen Selbstverständnis schwer fallen oder gar verwehrt zu sein scheinen: nach dem Grad und Umfang der Verbindlichkeit traditioneller Geltung überhaupt; nach der geschichtlichen und kulturellen Bedingtheit des Korans, seiner menschlichen Vermittlung, seiner Abhängigkeit von vorausgehenden Traditionen. Diese Probleme werden sich im Nebeneinander der Religionen, Kulturen und weltanschaulichen Mentalitäten nicht einfach beiseite schieben lassen.

Eine offene Situation

Selbst wenn der Islam bei seiner dogmatischen Antwort - der unmittelbaren und uneingeschränkten Verbalinspiration des Korans - bleibt, wird er vielleicht die Spannungen, die sich daraus ergeben, doch ernsthafter wahrnehmen und aushalten müssen, als dies zumeist geschieht. Schließlich wäre es möglich, dass muslimische Theologen das christliche Verständnis von Offenbarung und Heiliger Schrift besser zur Kenntnis nähmen und angemessener würdigten, selbst wenn sie es nicht als das ihre anerkennen können. Dass sich bei alldem auch unser eigenes Verständnis von Offenbarung und Heiliger Schrift noch in mancher Hinsicht als offen, gar undeutlich erweist, könnte die Sache eher bereichern als erschweren.

 

Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn

 

>> Die Erläuterungen des Korans durch die Sunna

>> Stellenwert der Hadithe

>>Vergleich Sunna - Koran

>> Gravierende Differenz bei den Schiiten

>> Hadithe als Unterstützung des Korans

>> Exegese

>> Die dogmatische Frage: In der Zeit geschaffen oder ungeschaffen ewig?

>> "Gesicherte" und "mehrdeutige" Verse

>> Einschätzung des Korans in der christlichen Tradition

>> Übereinstimmung zwischen christlichen Theologen und Islamwissenschaftlern

>> Prophetie aus dem Unterbewusstsein?

>> Entschlüsselung des Offenbarungserlebens Muhammads

>> Mutmaßungen über den Inspirationsspielraum Muhammads

>> Der Koran - Muhammads Wort ?

>> Dezente Forderung nach objektiver Behandlung Muhammads durch die Christen

>> Muhammad: "Prophetisches Genie" oder "Prophet"?

>> Fragen an die muslimische Theologie

>> Eine offene Situation

 
Seitenanfang