Der
Islam: Friedenspotential
oder Aufruf zum "heiligen Krieg"?
Von Lisa J. Abid
Besitzt
der Islam ein "Friedenspotential"? Oder ruft er zum "heiligen
Krieg" auf? Die Terroranschläge vom 11. September 2001 wurden nicht
nur von den Regierungen muslimischer Länder und von offiziellen islamischen
Institutionen verurteilt; auch viele private Stimmen von Muslimen aus aller
Welt drückten Betroffenheit und Trauer aus und distanzierten sich in aller
Entschiedenheit von Gewalt gegen Unschuldige.
Das
Verhältnis der internationalen Gemeinschaft zu den Muslimen entwickelte
sich eher ambivalent: da stand plötzlich die Frage im Raum, ob die Welt nun
doch auf einen "Kampf der Kulturen" zusteuert, und es wurde klar,
dass allein mehr Informationen und Dialog, mehr Verständnis füreinander
einen solchen vermeiden können. In der Folge entwickelte sich einerseits
eine bessere interreligiöse Gesprächsatmosphäre, andererseits tauchten
auch wieder Klischee-beladene Schlagworte und Vorstellungen auf. Der Grund
dafür ist häufig ein Informationsdefizit, und das kann zu
Pauschalverurteilungen führen.
Dschihad
und Scharia
Begriffe
wie Dschihad oder Scharia werden von Nichtmuslimen oft missverstanden,
leider aber auch von einzelnen muslimischen Personen oder Gruppen sowie von
manchen Politikern in einer Weise missbraucht, die ihre ursprünglichen
Ziele pervertiert und ihrem religiösen Sinn Hohn spricht.
Terroristische
Auswüchse
Nichts kann
einen solchen Missbrauch oder gar terroristische Auswüchse rechtfertigen.
Nicht die Religion des Islam begünstigt diese, sondern das Gefühl vieler
Muslime, an den Krisenherden der Weltpolitik ebenso übervorteilt zu werden
wie durch das Weltwirtschaftssystem. Soziale Spannungen und politischer
Totalitarismus haben aber auch im Inneren der islamischen Welt Herde von
Gewalt entstehen lassen. Doch nicht selten ist es der Westen selbst, der
muslimischen Gesellschaften Regime verordnet, die sie nie gewählt haben -
und die sie auch nicht abwählen können, weil eben jene Regime vom Westen
gestützt werden. Wenn solche Gebiete dann noch durch
"Reißbrett-Grenzen" kolonialen Ursprungs begrenzt oder
durchschnitten werden, die sozio-kulturelle Gegebenheiten außer Acht
lassen, dann sind Konflikte vorprogrammiert. Unter diesen Umständen sollte
man sich nicht darüber empören, dass die islamische Welt noch immer nicht
die Demokratie "gelernt" hat - vor allem wenn man bedenkt, dass
die Demokratie in vielen europäischen Ländern nicht viel älter als ein
halbes Jahrhundert ist.
Friedensbemühungen
Das
sollte aber den Muslimen nicht als bequeme Ausrede für all ihre
Verfehlungen und Versäumnisse dienen. Heute liegt es auch an ihnen selbst,
sich als konstruktiver Faktor in die internationale Gemeinschaft
einzubringen, in einen echten "Dialog der Zivilisationen"
einzutreten und weltweite Friedensbemühungen zu unterstützen. Nicht wenige
Muslime haben dies erkannt und nehmen eine selbstkritische Haltung ein. Der
Islam muss aus seinen Grundlagen heraus gangbare Alternativen erarbeiten und
dadurch seinen Beitrag zu Frieden und Gerechtigkeit leisten. Nur am Rande
sei hier erwähnt, dass sich in der Frühzeit des Islam basisdemokratische
Ansätze finden, aus denen moderne demokratische Modelle für die
muslimischen Länder entwickelt werden müssten.
Ziel
der nachfolgenden Betrachtung ist nicht eine politische Analyse von
Konfliktursachen. Es soll vielmehr der Frage nachgegangen werden, ob die
islamische Religion ein Faktor zur Förderung des Friedens sein kann.
Unter allen Weltreligionen hat ja gerade diese jüngste den Ruf, militant
und kriegerisch zu sein - wurde sie doch "mit Feuer und Schwert"
verbreitet und ruft sie doch zum Kampf gegen "Ungläubige" auf -
oder?? Gibt es noch eine andere Perspektive?
Islam
heißt Friede
Es
gibt sie, und sie findet sich schon im eigentlichen islamischen
Selbstverständnis, denn das Wort "Islam" trägt in seiner Wurzel
die Bedeutung "Frieden" in sich. Die arabische Wortwurzel s-l-m steht für
"wohlbehalten, in Sicherheit", eben "in Frieden sein".
Auch das Wort Salam,
Friede, ist daraus gebildet. Islam ist das Friedenmachen durch Hingabe an
Gott: ein Muslim, der sich Hingebende, findet dadurch Frieden mit sich
selbst, seinen Mitmenschen und mit der gesamten Schöpfung.
Salam
alaikum
"Friede sei mit euch!" ist
der traditionelle muslimische Friedensgruß, mit dem sich nach dem
Beispiel des Propheten die Muslime überall auf der Welt begrüßen. Und es
ist bezeichnend, dass Mohammed nicht nur Muslime so begrüßte. Als ein
Gefährte ihn fragte, was im Islam am besten sei, entgegnete er: "Dass
du den Armen speist und den Friedensgruß entbietest dem, den du kennst und
dem, den du nicht kennst." 1) Der
Friedensgruß hat auch eine rituelle Funktion: nach jedem der fünf
täglichen Pflichtgebete wenden die Muslime den Kopf nach rechts und links
und entbieten den Friedensgruß der ganzen Schöpfung.
Das
koranische Friedensideal
Das
koranische Friedensideal basiert auf dem Grundsatz der Gerechtigkeit.
"Gott lädt ein zum Haus des Friedens", heißt es im Koran (Sure
10: Vers 25). Mancher Islam-Wissenschaftler
mag nun den Zeigefinger erheben und auf die klassischen islamischen
Staatstheoretiker verweisen: da gibt es doch auch ein Dar al-harb, das
"Haus des Krieges" ‑ nämlich
alles Territorium außerhalb der islamischen Welt ‑ das klingt
bedrohlich. In der Tat spielte diese Vorstellung von einer Welt des Islam
(Dar al-Islam) und einer ihr feindlich gesinnten Außenwelt in der
islamischen Staatsrechtslehre eine nicht unbedeutende Rolle und
mani-festierte sich auch in der Geschichte. Dann gab es aber noch das
Gebiet, in dem diese beiden Antagonisten auf vertraglicher Basis friedliche
Beziehungen pflegen konnten: Dar as‑sulh, das "Haus des
(politischen) Friedens". Dieser Vertragszustand wird heute durch die
diplomatischen Beziehungen repräsentiert. Nur dort, wo keine bestehen, sind
möglicherweise feindselige Handlungen zu gewärtigen. "Gott verbietet
euch nicht, gegen jene, die euch nicht des Glaubens wegen bekämpft haben
und euch nicht aus euren Heimstätten vertrieben haben, gütig zu sein und
redlich mit ihnen zu verfahren; wahrlich, Allah liebt die Gerechten. "
(Koran, 60:7) ‑ Denn, so wird vorausgeschickt: "Vielleicht wird
Allah Zuneigung setzen zwischen euch und denen unter ihnen, mit denen ihr in
Feindschaft lebt." (60:6)
Kriegerische
Verse
Gewiss,
der Koran enthält eine ganze Reihe von Versen, die sehr kriegerisch tönen.
Jedoch muss man den historischen Hintergrund kennen, um sich darüber ein
Urteil zu bilden. Unmittelbarer
Anlaß für ihre Offenbarung war die akute Bedrohung der damals noch kleinen
und schwachen muslimischen Gemeinde, die der Prophet Muhammad in Medina
gegründet hatte ‑ eine Bedrohung, die von den heidnischen Arabern in
der reichen Pilger‑ und Handelsmetropole Mekka ausging. Der
entscheidende Überlebenskampf des frühen islamischen Stadtstaates von
Medina wurde gegen diesen Widersacher geführt. Christliche Gemeinden gab es
damals nicht im näheren Umfeld der Stadt des Propheten, und zu
Auseinandersetzungen mit jüdischen Stämmen kam es nach anfangs guten
Beziehungen nur deshalb, weil die Muslime Vertagsbruch befürchteten und das
noch heidnische Mekka die Juden zu Verbündeten gegen die Muslime zu
gewinnen suchte. Die grundsätzliche Einstellung des Islam gegenüber
anderen Religionen ist jedoch im Koran klar niedergelegt: "Wahrlich,
die Gläubigen und die Juden und die Christen und die Sabier
(Johanneschristen, Sabäer ?) ‑ wer immer wahrhaft an Gott glaubt und
an den Jüngsten Tag und gute Werke tut ‑ sie sollen ihren Lohn
empfangen von ihrem Herrn, und keine Furcht soll über sie kommen, noch
sollen sie trauern." (2:62, ähnlich in 5:69).
Kein
Auftrag zur Gewalt
Von
einem Auftrag zur Verbreitung des Islam durch Gewalt und Krieg kann keine
Rede sein: "Es sei kein Zwang im Glauben." (2:256)
Der Prophet wird sogar von Gott gewarnt: "Und wenn dein Herr
gewollt hätte, würden die, die auf der Erde sind, alle zusammen gläubig
werden. Willst du nun die Menschen dazu zwingen, dass sie glauben?
(10:99).
Tradition
der Gewaltlosigkeit
Zur
Frage, ob der Islam eine Tradition der Gewaltlosigkeit kenne, ist bisher
auch von muslimischer Seite viel zu wenig geforscht worden. Tatsache ist,
dass der Prophet Mohammed nach Empfang der ersten Offenbarung ca. im Jahre
570 aktive Gewaltfreiheit lebte. Während der ersten Periode seiner Sendung
bekam er nicht nur schlimmste Beleidungen zu hören, sondern war auch
Drohungen und massivem Druck ausgesetzt und mit tätlichen Attacken seitens
der Aristokratie von Mekka konfrontiert. Nachdem er mit der öffentlichen
Verkündigung seiner Lehre begonnen hatte, wurde er beschimpft, attackiert
und mit Unrat und Steinen beworfen - trotz seiner bisher geachteten Stellung
in der mekkanischen Gesellschaft, in der er als "al-Amin" (der
Aufrichtige, Zuverlässige) bekannt war. In der Handels- und Pilgermetropole
Mekka waren es zuerst vor allem die Randgruppen, die sich ihm anschlossen:
Sklaven, arme Leute, Jugendliche und Frauen - letztere oft gegen den Willen
ihrer Ehemänner, Väter oder Brüder. Die Vornehmen Mekkas, die um ihre
Privilegien fürchteten, erwirkten einen Boykott der Muslime. Die kleine
Gemeinde musste außerhalb von Mekka in der Wüste wohnen und durfte nicht
mit lebenwichtigen Gütern versorgt werden, keinen Handel treiben und die
Heirat mit ihnen war verboten. Mohammed und seine Anhänger, von denen in
dieser Zeit nicht wenige gefoltert und getötet wurden, ertrugen diesen
Zustand mit Geduld, in Würde und ohne Gegenwehr. Eine kleine Gruppe von
Muslimen wanderte damals auf Anraten des Propheten nach Abessinien aus, wo
sie vom Negus, dem christlichen König, freundlich aufgenommen wurden. Unter
ihnen war auch eine Tochter Mohammeds und deren Ehemann. - Ungefähr 12
Jahre dauerte diese harte Zeit der Prüfungen und des Exils. Es ist die
klassische Periode muslimischer Gewaltlosigkeit. Aber auch nach der
Auswanderung des Propheten nach Medina im Jahre 622 änderte der Islam nicht
sein Gesicht. Mohammed war als Friedensstifter nach Medina gerufen worden
und er schaffte es tatsächlich, die dort lebenden verfeindeten Stämme zu
versöhnen. Er verfasste ein Dokument, dessen Text bis heute erhalten ist
und das wohl als eine der ältesten geschriebenen Verfassungen gelten kann.
Darin erhalten Muslime und Andersgläubige - vor allem die in und um Medina
lebenden Juden - gleiche Rechte und Pflichten.
Mekka
gegen Medina
In
den folgenden Jahren musste sich die Gemeinschaft von Medina gegen ständige
Angriffe von Armeen aus dem feindlichen Mekka zur Wehr setzen.
Über die Behandlung von Kriegsgefangenen gibt es aus dieser Zeit
wichtige Dokumente, die für sich selbst sprechen. Als die zahlenmäßig
weit unterlegenen Muslime die bestens gerüsteten Angreifer bei den Brunnen
von Badr in die Flucht schlugen und Gefangene nahmen, verlangten sie von
diesen ein bemerkenswertes Lösegeld: jeder des Lesens und Schreibens
Kundige musste zehn Muslime in dieser Kunst unterrichten und ging dann frei!
Ähnlich verfuhr der Prophet auch bei späteren Gelegenheiten. Als es
Mohammed im Jahre 630 schließlich gelang, die Stadt Mekka kampflos
einzunehmen, übte er keine Rache sondern vergab seinen Feinden.
In
Arabien hatte der Islam seine rascheste Ausbreitung bereits während des
Friedensvertrages von Hudaybiya erfahren. Der Prophet schloss dieses
Abkommen mit den Mekkanern sechs Jahre nach seiner Auswanderung. Es war ein
Vertrag, der für die Muslime zuerst sehr unvorteilhaft aussah, den sie aber
im Gegensatz zu ihren mekkanischen Gegnern strikt einhielten. Vertragstreue
ist dem Muslim als heilige Pflicht auferlegt, zahlreiche Koranstellen
ermahnen ihn dazu. Diese Verpflichtung gilt auch für jeden einzelnen
Anhänger des Islam, der in einem nichtmuslimischen Land lebt. Wenn er in
seiner Religionsausübung nicht behindert wird, wenn den Muslimen die Rechte
einer Minderheit zugestanden werden, sind sie diesem Staat zur Loyalität
verpflichtet. Grundlage ihres "persönlichen Vertragszustandes"
ist damit die Verfassung oder das Grundgesetz des jeweiligen Landes, das
ihnen diese Rechte garantiert und ihre Pflichten als Bürger oder
Minderheiten festlegt. Daran müssen sie sich halten. I.K. SALEM formuliert
dies folgendermaßen: "Die Muslime, die aufgrund einer allgemeinen oder
besonderen Bescheinigung der dort etablierten Behörden in gesetzlicher
Weise in den 'Dar al-harb' einreisen, haben die Verpflichtung, die Gesetze
des Staates, in dem sie sich aufhalten, zu befolgen und in jedem Fall im
Rahmen der Bestimmungen des gewährten 'aman' zu handeln."2) Das Wort 'aman'
steht hier für die Sicherheitsgarantien, die ein Staat fremden
Staatsbürgern sowie den eigenen Minderheiten gewährt. Repräsentiert
werden diese Garantien durch die einschlägigen Gesetze und Verordnungen.
Stellenwert
des Dschihad
Welchen
Stellenwert hat nun der Dschihad, der angeblich "heilige Krieg"?
Die Muslime sind zwar dem Dschihad verpflichtet, aber schon das Wort hat mit
Krieg (harb, s. oben) nichts zu tun. Es bedeutet vielmehr
"Anstrengung" für eine gute Sache. Als Einsatz für die
Gerechtigkeit kann es auch Verteidigungsanstrengungen bedeuten, und so ist
es zu verstehen, wenn dieser Terminus im Koran im Sinne von "Kampf,
höchster Einsatz" verwendet wird. Aus der Zeit des Propheten ist
belegt, dass Dschihad keineswegs mit Waffengewalt zu tun haben muss:
"Der beste Dschihad ist das Wort der Wahrheit und des Rechts vor einem
ungerechten Herrscher" erklärte Muhammad. 3) Also Einsatz für
Redefreiheit und Menschenrechte im weitesten Sinn, und das vor 1400 Jahren!
Er definierte ferner einen "großen" und einen "kleinen
Dschihad". Ersterer ist der Kampf gegen die eigenen Unzulänglichkeiten
und Fehler, gegen Egoismus eben den eigenen 'Schweinehund', wie es HOFMANN
4) so plastisch beschreibt. Dagegen gilt der Kampf mit der Waffe nur als
"kleiner Dschihad".
Aggressive
Verbreitung des Glaubens?
Dennoch
bleibt die Frage nach einer aggressiven Verbreitung des Glaubens, die den
Anhängern des Propheten Muhammad oft angelastet wird. Wäre nicht der
Dschihad im Verlauf der islamischen Geschichte auch als militärischer Kampf
verstanden und praktiziert worden, so würde sich die Diskussion dieses
Themas dennoch nicht erübrigen. Denn die Menschheitsgeschichte kennt wohl
kaum eine Religion oder Ideologie, die nicht in irgend einer Form als
Machtmittel missbraucht worden wäre. Auch die muslimische Welt kann hier
keine historische Unschuld beanspruchen. Terror steht jedoch in krassem
Gegensatz zu den theologischen Prinzipien des Islam. Es wäre daher
unverantwortlich, anti-islamische Stimmungsmache zu betreiben und ein neues
"Feindbild Islam" aufzubauen. Wer Frieden wünscht, schafft sich
besser keine Feindbilder. - So gesehen sind die Bemühungen um einen Dialog
zwischen den Weltreligionen wahrhafte Friedensarbeit und können gar nicht
hoch genug eingeschätzt werden.
Erlaubnis
sich zu verteidigen
Ein
Muslim, der es mit den heiligen Texten des Islam genau nimmt, kann immer nur
der Zweite sein, der zum Schwert greift: "Die Erlaubnis (sich zu
verteidigen) ist denen gegeben, die bekämpft werden, weil ihnen Unrecht
geschah ...." (Koran 22:39 ) Alle ernstzunehmenden Kommentatoren haben
diesen Vers, wo zum ersten Mal in der koranischen Offenbarung von Kampf die
Rede ist, als Schlüsselstelle angesehen. 5) In ihm ist die
Grundvoraussetzung für alle kriegerischen Handlungen niedergelegt:
nämlich, dass es sich nur um Verteidigung handeln darf. Sämtliche
späteren Verse, die im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen
Muhammads mit den heidnischen Mekkanern noch zu diesem Thema geoffenbart
wurden, sind an diesen ersten Vers gebunden. Wenn sie auch kriegerisch
klingen mögen, sie sind konditionell, d.h. sie sind strikt gebunden an die
Grundbedingung, dass vom Feind eine Aggression ausgeht, dass nicht die
Muslime diese Aggression begonnen haben. 6) Die Widersacher der Muslime
hatten es auf die Vernichtung des eben erst entstandenen Stadtstaates von
Medina abgesehen - hätte Mohammed und seine Anhänger sich nicht zur Wehr
gesetzt, hätten sie von ihren Feinden keinen Pardon erwarten können.
Zweck
heiligt nicht die Mittel
Im
Islam heiligt der Zweck nicht die Mittel - dies ist ein Grundprinzip.
Humanität verlangt der Islam sehr präzise auch für den Kriegsfall:
"...und kämpft auf dem Wege Gottes gegen diejenigen, die euch
bekämpfen, doch übertretet nicht (das Maß; oder: indem ihr zuerst den
Kampf beginnt). Wahrlich, Gott liebt nicht die Übertreter." (Koran
2:190). Vielleicht ist es deshalb interessant anzumerken, dass in der
islamischen Kriegsführung Massenvernichtungsmittel, bei denen Unbeteiligte
zu Schaden kommen, verboten sind: der 4. Kalif Ali verbot die unbegrenzte
Belagerung einer Stadt, denn die darin befindlichen Zivilisten Hunger und
Durst auszusetzen, wäre Sünde. Außerdem untersagte er, feindliche
Kämpfer zu verfolgen, die vom Schlachtfeld flüchteten. 7) Immerhin
hat diese ethische Grundhaltung dazu geführt, dass von einer islamischen
Gelehrtenkonferenz in Pakistan in den siebziger Jahren ein atomarer
Erstschlag für nicht statthaft erklärt wurde.
Die
frühe islamische Geschichte illustriert auch diese konsequent ethische
Haltung der Muslime. Omar, der 2. Kalif, lehnte es ab, in Jerusalem in einer
Kirche zu beten, da die Muslime dies als Präzedenzfall nehmen könnten, um
Kirchen in Moscheen umzuwandeln! Leider ist man diesem Prinzip in der
Geschichte nicht immer treu geblieben: im Zuge der späteren Konfrontation
mit dem christlichen Europa wurden sowohl Kirchen zu Moscheen als auch
Moscheen zu Kirchen. Der erste Kalif Abu Bakr trug seinen Truppen im
Einklang mit den Weisungen des Propheten auf: "Wenn ihr siegreich seid,
nützt euren Vorteil nicht aus und hütet euch davor, eure Schwerter mit dem
Blut derer zu beflecken, die sich ergeben. Rührt die Frauen nicht an,
schont die Kinder und die Kranken. Haut keine Palmen oder Obstbäume um,
tötet kein Vieh und zerstört keine Feldfrüchte und Häuser. Zerstört
nichts ohne absolute Notwendigkeit. Behandelt die Gefangenen gut ... handelt
nicht mit Falschheit, sondern seid aufrecht, edel und haltet euer Wort.
Stört nicht die Mönche und Einsiedler und zerstört nicht ihre Klausen
..." 8) - Also keine Politik der "verbrannten Erde". Und was
hätten diese ersten schlichten und volksnahen Kalifen angesichts der
Entwicklung der Atombombe gesagt? Sie, die die sinnlose Zerstörung sogar an
Tieren und Bäumen verabscheuten - hätten sie sich nicht entsetzt darüber,
dass menschliche Gehirne Waffen entwicklen, die lebende Organismen
vernichten und die nützliche bauliche Infrastruktur schonen?
Islamische
Eroberer
Islamischen
Eroberern wird oft zur Last gelegt, sie hätten innerhalb weniger Jahrzehnte
Gebiete von Spanien bis Indien und Zentralasien unterworfen. Diese
Anschuldigung zieht jedoch die Herrschafts- und auch die sozialen
Verhältnisse dieser Länder um die Mitte des 7. Jh. nach Chr. nicht in
Betracht. Denn jenen von Römern und Persern de facto kolonisierten Völkern
waren die arabischen Muslime gar nicht unwillkommen. Sie standen ihnen durch
nachbarliche Beziehungen und ethnische Verwandtschaft näher als die ferne
Zentralregierung und wurden weniger als Fremdherrschaft empfunden. Die Syrer
hatten sich gegen die seit Alexander verordnete Hellenisierung gesträubt
und sympathisierten mit den arabischen Eroberern. 9) Der
bekannte Historiker und Biograf Ibn al-Muqaffa schreibt in seinem Buch
"Geschichte der Alexandriner Patriarchen": "Benjamin, der koptische Patriarch, kehrte zurück nach
Alexandrien, nachdem er sich dreizehn Jahre vor der byzantinischen
Unterdrückung versteckt hatte, nachdem (der muslimische Feldherr) Amr ibn
al-'As für seine Sicherheit
garantiert und ihn aufgefordert hatte, die Sache seiner christlichen
Gemeinde in die Hand zu nehmen. Klöster, Kirchen und übriges Besitztum der
ägyptischen Christen wurden an sie zurückgegeben und nicht angetastet. Sie
konnten nach langer Zeit wieder ihren Glauben in voller Freiheit und in
einer Zeit des religiösen Friedens ausüben."
Die
Ungläubigen
Belegt
ist auch, dass mit den "Ungläubigen" (Kafir = eigentlich
"einer, der die Wahrheit nicht anerkennt", Plural Kuffar), die im
Koran erwähnt sind, keinesfalls Menschen gemeint sein können, die einer
Offenbarungsreligion angehören und gemäß ihrem religiösen Verständnis
an Gott glauben. 10) Obwohl ausdrücklich nur Juden und Christen im Koran
als "Volk der Schrift" genannt werden, d.h. sich im Besitz von
geoffenbarten Texten befinden, ist der Islam in diesem Punkt sehr tolerant.
Denn der Bogen möglicher Offenbarungsempfänger spannt sich nach
koranischem Verständnis viel weiter: "Und in jedem Volk erweckten wir
einen Gesandten, (der da predigte): Dienet Gott und meidet die Götzen"
... (16:36). Muslime müssen daher auch andere Religionsstifter achten, denn
möglicherweise waren sie Boten Gottes, wenn auch ihre Schriften oder
ursprünglichen Aussagen im Dunkel der Geschichte verloren sein mögen. In
der islamischen Literatur wird eine solche Möglichkeit z.B. für Buddha und
andere in Erwägung gezogen. Die iranischen Zoroastrier erhielten schon im
frühen Verlauf der islamischen Geschichte den Status von Ahl al‑Kitab,
"Leuten des Buches", denen im Avesta möglicherweise eine uralte
Offenbarung zuteil geworden war, mochten ihre Lehren auch z.T. verschüttet
sein. Dem entsprechend garantiert das islamische Rechtssystem, wo es
unverfälscht zur Anwendung kommt, die Rechte der religiösen Minderheiten.
Gott
wünscht Frieden
Immer
wieder drückt das heilige Buch der Muslime aus, dass Gott Frieden wünscht,
und zwar für alle Religionen: "Und wenn Gott nicht die einen Menschen
durch die anderen zurückgehalten hätte, so wären gewiß Klausen, Kirchen,
Synagogen und Moscheen, in denen der Name Gottes häufig genannt wird,
zerstört worden. Gott wird sicher dem beistehen, der Ihm beisteht."
(22:40)
Die
Muslime werden ausdrücklich gewarnt: "Lasst nicht durch den Hass
anderer euch zu Ungerechtigkeit verführen. Seid gerecht, das ist näher der
Gottesfurcht." (5:8) HOFMANN
kommentiert folgerichtig: "Absurd ... die Vorstellung, dass der Koran,
der die Individualbekehrung zum Islam mit Gewalt ablehnt ..., die
Massenbekehrung mittels Krieg anstrebe. Angesichts dieser eindeutigen
Aussagen des Koran erübrigt es sich, sich mit Irrungen und Wirrungen der
islamischen Jurisprudenz des Mittelalters auf diesem Gebiet herumzuschlagen.
... Im übrigen hat der Krieg im Zeitalter der ABC‑Waffen und der
Hochtechnologie einen Charakter angenommen, der alle früheren theoretischen
Erörterungen dazu ‑ sei es durch katholische Scholastiker (Lehre vom
gerechten Krieg/justum bellum), sei es durch islamische Rechtsgelehrte
‑ im Zweifel obsolet gemacht hat." 11)
Frieden
schließen
Klar
und deutlich ist dem Muslim ans Herz gelegt, Frieden zu schließen, sobald
der Gegner auch nur entfernt dazu bereit ist: "Sind sie aber zum
Frieden geneigt, so sei auch du ihm geneigt und vertrau auf Gott; siehe, Er
ist der Hörende, der Wissende" (8:61). - In jedem Falle sind Vernunft
und vertrauensbildende Maßnahmen gefordert, um den Frieden herzustellen und
zu erhalten.
Eine
Quelle von Feindseligkeiten, die gerade heute wieder traurige Aktualität
gewonnen hat, lehnt der Islam überhaupt von Grund aus ab: Nationalismus und
Rassismus. Ganz schlicht sagt der Koran (49:13) dazu: "Oh ihr Menschen,
Wir erschufen euch von einem Mann und einer Frau und machten euch zu
Völkern und Stämmen, auf dass ihr einander kennen möget. Wahrlich, der
Edelste von euch vor Gott ist der Gottesfürchtigste unter euch ..."
"Und
unter Seinen Zeichen sind die Schöpfung der Himmel und der Erde und die
Verschiedenheit eurer Sprachen und Farben. Darin liegen Zeichen für die
Wissenden" (30:22).
Kaum eine andere heilige Schrift hat
sich mit solcher Nüchternheit und Klarheit mit dem offensichtlich
unterschiedlichen Aussehen und den verschiedenen Sprachen des
Menschengeschlechts auseinandergesetzt. Kaum je wurde auch in modernen
Texten in so ehrfurchtgebietender Weise und trotzdem bestechender
Einfachheit dieses Thema aufgegriffen. Äußere Unterschiede,
Lebenseinstellungen, "Mentalität" und ihr kultureller Ausdruck
sind das Allernatürlichste ‑ Anfeindungen deswegen sind unnatürlich.
Die einzigen Unterschiede, die zählen, sind moralischer Natur.
"Und
wenn Gott gewollt hätte, so hätte Er euch zu einer einzigen Gemeinschaft
gemacht. Doch wollte Er euch prüfen in dem, was Er euch gegeben hat. Darum
wetteifert miteinander im Guten! Zu Gott werdet ihr dereinst zurückkehren,
und Er wird euch aufklären über das, worüber ihr uneins seid."
(5:48)
Praktische
Schritte
Berechtigt
ist nun die Frage, wie die praktischen Schritte aussehen könnten, die
diesen Idealen Rechnung tragen. Alle Religionen sind gleichermaßen
gefordert, ihren ethischen Maximen in einer Welt zur Geltung zu verhelfen,
in der Erfolg oder Misserfolg einer Gesellschaft in erster Linie am Wachstum
des Bruttosozialproduktes gemessen wird.
Auch
die Muslime sind aufgerufen, Beispiele humanen Zusammenlebens und sozialen
Friedens zu geben. Friedenssuche abseits der großen Politik, im Alltag, am
Arbeitsplatz, an den Bildungsstätten, in der Familie und in der
Nachbarschaft - das ist die große, wenn auch unspektakuläre Aufgabe, der
sich jeder Gläubige widmen kann und soll.
In
einem wahrhaft humanistischen Appell ruft der Koran alle Menschen guten
Willens auf: "Jeder hat ein Ziel, dem er sich zuwendet. So wetteifert
miteinander in guten Werken. Wo immer ihr auch seid, Gott wird euch
zusammenführen .... (2:148). Für den Muslim ein dauernd gültiger Auftrag,
nicht nur ein ökumenisches Wort zu festlichen Gelegenheiten.
|