Die universale islamische Umma
"Umma" ist das arabische Wort für die Gemeinschaft
der Muslime. Sie gilt ihnen als die beste Gemeinschaft im
göttlichen Schöpfungs- und Heilsplan. Als Umma bezeichnete der
Koran zunächst einmal sprachliche, religiöse oder ethnische
Gemeinschaften. Im Laufe der Zeit wurde dann darunter die Gesamtheit
der gläubigen Muslime in aller Welt verstanden, unabhängig von
ihrer Rasse, Sprache oder Nationalität und auch unabhängig von
ihrer Zugehörigkeit zu einer besonderen religiösen Form des
Islams. In wieweit gibt es nun Religionspluralität in der konkreten
Geschichte des Islams und wie reagieren islamische Gesellschaften
auf die verschiedenen Religionen im Bereich der eigenen islamischen
Umma?
Das arabische Wort Umma hat eine lange Geschichte und ist immer
noch bzw. heute wieder äußerst lebendig. Jedenfalls ist es für
einen Arabischsprechenden mit Assoziationen behaftet, deren
emotionale Bedeutung einem Außenstehenden nur schwer zu vermitteln
ist.
Die Bedeutung von "umma"
Umma kommt etwa dreißig Mal im Koran vor. Meistens bezeichnet es
eine Gemeinschaft, genauer gesagt, eine Volksgemeinschaft. Aber auch
die Geister, die sog. Dschinn, bilden nach koranischem Verständnis
eine umma (vgl. 7,38). Sieht man einmal von dieser eigentümlichen
Stelle ab, so ist für das koranische Verständnis von umma
charakteristisch, dass das Wort meistens mit dem Begriff rasul,
"Gesandter" korreliert wird. Im Koran heißt es, dass zu
jeder umma ein Gesandter mit der Botschaft des Monotheismus
geschickt wird. In diesem Sinne ist Muhammad der Gesandte, der zur
arabischen umma gesandt ist. Diese arabische umma wandelt sich dann
durch die Predigt Muhammads zur umma muslima, also zu der umma, die
Gott ergeben ist. Dieser Ausdruck kommt, bezogen auf die
Nachkommenschaft Abrahams, im Koran Sure 2, Vers 128 vor, nicht
jedoch der heute geläufigere Ausdruck umma islamiya -
"islamische Gemeinschaft"; letzterer ist erst eine moderne
Prägung.
Umma als Ausdruck für Gemeinde
Doch zurück zu den emotionalen Assoziationen des Wortes umma.
Wie ich meine, hängen sie mit einem einzigen, oft zitierten
Koranvers zusammen, nämlich Sure 3, Vers 110; dort heißt es:
"Ihr seid die beste Gemeinschaft (arab. umma), die für die
Menschen hervorgebracht wurde, da ihr das Gute gebietet, das
Verwerfliche verbietet und an Gott glaubt." Vielleicht wäre es
besser, umma an dieser Stelle mit "Gemeinde" zu
übersetzen, weil dieses Wort zwei charakteristische Bedeutungen
hat, nämlich einerseits die soziale, politische Gemeinde,
anderseits die religiöse Gemeinde. Genau diese beiden Aspekte
beinhaltet das Wort umma im Arabischen bis heute. Es ist dieser
Vers, auf den sich das immer wieder zu beobachtende
Selbstbewusstsein von Muslimen gründet, die "beste", ja
die vollkommene Religion zu besitzen, so wie es ein anderer
Koranvers (Sure 5, 3) vielleicht noch deutlicher und schärfer
formuliert - ein Vers, den man, in eigentümlicher Kontinuität zu
deuteronomistischem Gedankengut, durchaus als Hinweis auf einen
neuen Bundesschluss (vgl. Sure 33, 4!) betrachten kann: "Heute
habe ich an euch eure Religion (arab. din) vollendet und über euch
meine Gnade (oder: mein Wohlgefallen; arab. ni 'ma) zum Ziel
gebracht und bin mit dem Islam als eurer Religion zufrieden."
In dieser Aussage nimmt das arab. Wort din "Religion"
einen zentralen Platz ein.
Islam als die "richtige" Religion
Im Gegensatz zum Alten wie zum Neuen Testament ist auffällig,
wie im Koran von einer ganz spezifischen "Religion" (arab.
din oder milla) gesprochen wird, die islam genannt und gegen andere
Religionen abgegrenzt wird. Das Wort islam bedeutet: Ergebung Gott
gegenüber. Nach koranischer Lehre ist diese Religion uralt; sie
wird nämlich in den medinensischen Suren als die Religion Abrahams
(arab. millat Ibrahim, vgl. z.B. 2, 135; 4,125) bezeichnet. Wie
wichtig das Bewusstsein, der "richtigen" Religion
anzugehören, für den frühen Islam war, geht aus Münzaufschriften
hervor. Auf der Rückseite der omayyadischen Goldmünze, des Dinars,
steht Sure 9, Vers 33: "ER ist es, der seinen Gesandten mit der
Rechtleitung und der wahren Religion (din alhaqq) gesandt hat, um
ihr zum Sieg zu verhelfen über alles, was es sonst an Religion
gibt, auch wenn es denen, die Gott einen Teilhaber geben, zuwider
ist."
Der Umgang mit anderen Religionen
Andere Religionen als der islam werden im Koran nicht abstrakt
auf den Begriff gebracht und unter einem umfassenden Begriff
subsumiert, sondern sie werden einfach mit den Namen ihrer Anhänger
aufgezählt. Der umfassendste Beleg dazu ist Sure 22, Vers 17 (vgl.
ähnlich Sure 2, 62 und Sure 5, 69): "Siehe, diejenigen, die
glauben, diejenigen, die Juden sind, die Sabier, die Christen, die
Magier und diejenigen, die Gott einen Teilhaber an die Seite stellen
- siehe, Gott entscheidet zwischen ihnen am Tag der Auferstehung;
siehe, Gott ist über alles Zeuge" Hier werden also sechs
Gruppen genannt: (a) "diejenigen, die glauben" damit sind
die Muslime gemeint; (b) die Juden; (c) die Christen; (d) die Sabier
(arab. as-sabi `un) - wir werden noch ausführlich darauf eingehen,
wer damit gemeint sein könnte; (e) die Magier (arab. madschus)
damit sind die Anhänger Zarathustras gemeint; (f) "diejenigen,
die Gott einen Teilhaber zur Seite stellen" (arab. muschrikun),
oder die "Beigeseller", d.h. die Anhänger der
altarabischen Lokalkulte, die "Heiden". Aber auch die
Christen könn(t)en damit gemeint sein, d.h. im Gebrauch des
Ausdrucks muschrikün gibt es eine gewisse Unschärfe, die
jedenfalls eine Übersetzung mit "Polytheisten" als
unangemessen erscheinen lässt. Im folgenden möchte ich auf jede
dieser sechs Gruppierungen genauer eingehen.
Muslime sind "diejenigen, die glauben"
"Diejenigen, die glauben" sind nach dem Sprachgebrauch
des Korans die Muslime. Wobei anzumerken ist, dass das Wort
"Muslim" (arab. muslim) im Koran viel seltener vorkommt
als das Wort "Gläubiger" (arab. mu `min). Das gilt auch
für den frühen Islam. Der offizielle Titel des Kalifen ist, wie
die ältesten Münzen lehren (oder wie man es auch aus "1001
Nacht" kennt), "Beherrscher der Gläubigen" (arab.
amir al-mu `minin).
Erwähnung der Juden und Christen
An zweiter Stelle werden die Juden genannt. Für sie werden im
Koran verschiedene Bezeichnungen gebraucht, z.B. "die
Israeliten" (arab. banu Isrä `il, wörtlich: "Kinder
Israel"), womit meist (aber nicht immer) die Israeliten der
Vergangenheit gemeint sind; oder es ist von den "Stämmen"
(arab. asbat) die Rede, auch hiermit sind in der Regel die
altisraelitischen Stämme gemeint. Die zeitgenössischen Juden
heißen im Koran yahud bzw. "diejenigen, die Jude sind" (arab.
alladhina hadu). Was wird nun über die Juden im Koran gesagt? Wie
sieht ihr Bild im Koran aus? Bei den Stellen, die ich im folgenden
behandeln werde, ist auffällig, dass in ihnen die Juden häufig
zusammen mit den Christen genannt werden. So z.B. in den Versen
111-113 der zweiten Sure, in denen es um den Exklusivitätsanspruch
der Juden und der Christen geht: "Sie sagen [gemeint sind die
,Leute der Schrift' oder ,Schriftbesitzer', eine Sammelbezeichnung
für Christen und Juden]: Niemand wird ins Paradies eingehen, außer
denen, die Christen und Juden sind. Das sind doch nur ihre Wünsche
und Vorstellungen. Sag: Bringt doch euren Beweis vor, wenn ihr die
Wahrheit sagt. Nein, nur wer sich Gott ergibt [d.h., wer muslim ist]
und dabei rechtschaffen ist, dem steht bei seinem Herrn sein Lohn
zu. Die brauchen keine Angst zu haben und werden nicht traurig
sein." Hier wird ein vermeintlicher Erwählungsanspruch von
Christen und Juden zurückgewiesen. Ähnliches geschieht in Sure 5,
Vers 18, wo es um die Zurückweisung der Gotteskindschaft und damit
auch eines Erwählungsanspruches geht.
Umma als wandelbarer Begriff
Auch die Juden werden übrigens, was in unserem Zusammenhang
interessant ist, als umma bezeichnet. Das geschieht im Zusammenhang
mit der expliziten Ablehnung der Verdienste der "Väter"
Abraham, Ismael und Isaak (Sure 2, 134, vgl. 141 ). lm Hintergrund
dieses Verses steht der Gedanke, dass die Erwählung der erwähnten
umma vorbei ist; ihr folgt eine andere. Das heißt, jede umma hat
ihren Platz in der Geschichte und kann prinzipiell durch eine andere
, abgelöst werden. Und zu jeder umma kommt der ihr bestimmte
Gesandte (arab. rasul), wie es an mehreren Stellen heißt (vgl. Sure
10, 47; 13, 30; 16, 36). In der Regel ist es so, dass die umma den
Gesandten zurückweist, und dann die Reihe an eine nachfolgende
kommt, welche als "Erbe" der vorhergehenden betrachtet
wird. Dieser Gedanke der Erwählungsnachfolge wird im Koran nur an
wenigen Stellen exemplifiziert. In dem angedeuteten Sinne sind z.B.
die Israeliten (banu Isra `il) die Nachfolger und Erben der Ägypter
(vgl. Sure 44, 25~ 28). Ebenso aber wird durch Stellen wie die oben
zitierte zum Ausdruck gebracht, dass auch Juden und Christen als
jeweils erwählte umma "ausgedient" haben. Dieser Gedanke
wird nun mit der Gestalt Abrahams in Verbindung gebracht, der
erklärtermaßen "weder Jude noch Christ war" (Sure 3,
67). Entscheidend ist, was Sure 2, Vers 135 gesagt ist: "Und
sie [d. h, die "Leute der Schrift"] sagen: Ihr müsst
Juden oder Christen sein, dann seid ihr rechtgeleitet. Sag: Nein,
sondern [Nachfolger] der Religion Abrahams, eines "Hanifen",
der war nicht einer von denen, die Gott einen Teilhaber zur Seite
stellen."
Der Begriff hanif
Die "Religion Abrahams" (arab. millat Ibrahim) durch
einen Begriff näher bestimmt, der nicht leicht zu verstehen ist,
nämlich hanif. Dieses Wort wird fast immer mit
"Monotheist" oder "Rechtgläubiger" übersetzt.
Man nimmt allgemein an, dass es in Arabien zur Zeit Muhammads eine
Bewegung von sog. "Hanifen" gegeben habe, die überzeugt
davon waren, dass es mit der heidnischen Religion zu Ende gehe, und
die sich innerlich dem Monotheismus angenähert hätten. Nun hat das
arabische Wort hanafi (eine Nebenform zu hanif) bei den arabischen
Christen bis heute die Bedeutung "Heide" - und das passt
genau zu der semitischen Etymologie des Wortes, das u.a. mit
hebräisch hanep bzw. altsyrisch hanpa "gottlos, Heide"
verwandt ist. Wen man als "gottlos" oder als
"Heiden" bezeichnet, ist nun stets eine Frage des
Standpunktes. Vom Standpunkt des altarabischen Heidentums ist
derjenige ein hanif, der nicht mehr an seine Götter glaubt, und vom
Standpunkt des Judentums bzw. Christentums jemand, der eben nicht
Jude bzw. Christ ist. Bei Abraham wird zum Wort hanif stets die
negative Einschränkung hinzugefügt: "Keiner von denen, die
Gott einen Teilhaber an die Seite stellen." Und das hat seine
Bedeutung: Abraham war ein Außenstehender, etwas ganz Eigenes. Von
diesem Zusammenhang her kommt man dann zu der Deutung
"Monotheist" für hanif.
Vorwurf der Schriftverfälschung
Ein weiterer Vorwurf, der den Juden gemacht wird (und der im
interreligiösen Dialog bis heute von großer Bedeutung ist), ist
derjenige der sog. Schriftverfälschung (arab. tahrif). In Sure 4,
Vers 46 (vgl. Sure 5, 41 ) heißt es: "Unter denen, die dem
Judentum angehören, gibt es einige, welche die Worte [der Schrift]
entstellen [, indem sie sie] von der Stelle [, an die sie
hingehören, wegnehmen]." Diese Stelle wird stets in dem Sinn
gedeutet, dass die Juden (und übrigens auch die Christen, die stets
mitgemeint sind) die Heilige Schrift nicht in jener ursprünglichen
Form überliefert haben, die, nach islamischer Ansicht, im Koran
gewahrt ist.
Teils skeptische Haltung gegenüber Juden und
Christen
Im folgenden möchte ich auf einige Verse aus der
spätmedinensischen Sure 5 eingehen, aus denen in aller Deutlichkeit
die ambivalente Haltung der jungen muslimischen umma den Juden (und
teilweise auch den Christen) gegenüber hervorgeht. In Sure 5, Vers
51 steht die Warnung, sich Juden und Christen zu Vertrauten bzw.
Freunden (arab. auliya‘) zu nehmen: "Ihr Gläubigen, nehmt
euch nicht die Juden und Christen zu Freunden! Sie sind
untereinander Freunde. Wenn einer von euch sich ihnen anschließt,
gehört er zu ihnen. Gott leitet das Volk der Frevler nicht
recht." Wenn man aus dieser Stelle den Juden und Christen
gegenüber eine gehörige Skepsis herauslesen kann, so folgt in der
gleichen Sure wenig später ein Vers, der diese Aussage stark
relativiert. Dieser Vers stellt eine Parallele zu Sure 22, Vers 17
dar, dem Ausgangspunkt unserer Überlegungen: "Diejenigen, die
glauben, diejenigen, die dem Judentum angehören, die Sabier und die
Christen, die [alle] an Gott und den Jüngsten Tag glauben und tun,
was recht ist, die brauchen [am Tage des Gerichts] keine Angst zu
haben und werden nicht traurig sein."
Eingehende Auseinandersetzung mit den Juden
Der Blick auf den Jüngsten Tag relativiert hier eindeutig die
Differenzen zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften und
betont das Gemeinsame, das für sie alle Hoffnung am Gerichtstag
stiften kann. Wenig später steht aber erneut ein Vers, der in
seiner drastischen Formulierung nichts zu deuten übrig lässt,
sowohl im Negativen wie im Positiven (Sure 5, Vers 82): "Du
wirst sicher finden, dass diejenigen Menschen, die sich den
Gläubigen gegenüber am meisten feindselig zeigen, die Juden, und
diejenigen, die Gott einen Teilhaber an die Seite stellen, sind. Und
du wirst sicher finden, dass diejenigen, die den Gläubigen in Liebe
am nächsten stehen, die sind, die sagen: Wir sind Christen (arab.
nasara). Dies deshalb, weil es unter ihnen Priester und Mönche
gibt, und weil sie nicht hochmütig sind."
Relativierung negativer Bemerkungen gegenüber
den Juden
Man könnte zunächst annehmen, dass eine Stelle, die eine
derartig negative Aussage über das Judentum enthält, dazu geführt
hätte, dass es in der Geschichte von Seiten der Muslime den Juden
gegenüber große Probleme und viel Feindseligkeit gegeben hätte.
Das genaue Gegenteil ist aber der Fall! In der klassischen, durch
die Prophetentradition bestimmten Koranexegese wird diese Stelle an
einem ganz bestimmten historischen Ort lokalisiert und in diesem
Kontext verstanden: Sie bezieht sich auf die Auseinandersetzung
Muhammads mit den Juden von Medina. Die Stelle wird also von der
Koranexegese nicht zu einer Aussage über die Juden schlechthin
verallgemeinert, sondern historisch genau in jenem Rahmen
interpretiert, den die prophetische Tradition ja auch vorgibt. An
der Fülle der Belege, denen leicht noch weitere Parallelstellen
hinzugefügt werden könnten, sieht man, welchen Stellenwert im
Koran die Auseinandersetzung mit den Juden hat. Weniger zahlreich
sind demgegenüber die Stellen, die sich mit den Christen
auseinandersetzen.
Kritik an Spaltung der Christen
Die Christen werden im Koran durchgängig nasara genannt. Für
diese Bezeichnung gibt es mehrere Deutungsmöglichkeiten. Schon im
Neuen Testament und in der frühchristlichen Literatur gibt es ja
verschiedene Bezeichnungen für die Christen. Die einfachste und
naheliegendste Erklärung (mit der ich mich hier begnügen möchte)
ist diejenige, dass das arabische Wort nasara die Übernahme des
syrischen Wortes ist, mit dem die Christen in der altsyrischen
Bibelübersetzung bezeichnet werden. Einiges von dem, was im Koran
ausdrücklich über die Christen steht, wurde schon im Zusammenhang
mit den Juden angeführt. Daher gehe ich nur noch auf einige Stellen
ein, an denen allein von den Christen die Rede ist, so z.B. in Sure
5, Vers 14f.: "Und von denen, die sagen: Wir sind Nasara' [d.h.
Christen], haben wir ihre Verpflichtung (arab. mithaq)
entgegengenommen. Aber dann vergaßen sie einen Teil dessen, wozu
sie ermahnt wurden. Da erregten wir unter ihnen Feindschaft und Hass
bis zum Tag der Auferstehung."
Verpflichtung Gott gegenüber
Hier ist zunächst von einer "Verpflichtung" die Rede,
die für die Christen als umma Gott gegenüber besteht. Statt
"Verpflichtung" könnte man auch "Bund" sagen.
Die wichtigste Stelle, an der von einem solchen "Bund" (arab.
mithaq) die Rede ist, scheint mir Sure 33, Vers 7 zu sein. Dort
heißt es, dass Gott von den Propheten einen mithag entgegengenommen
hat, und dann werden nacheinander Muhammad (in direkter Anrede!),
Noah, Abraham, Mose und Jesus genannt. Bedeutsam an den oben
zitierten Versen aus Sure 5 ist der Hinweis auf das offenkundige
Ende des Bundes mit den Christen - wegen ihrer Schriftvergessenheit
und den daraus resultierenden Spaltungstendenzen innerhalb der
Christenheit. Das wird auch aus anderen Koranstellen ganz deutlich:
Den Christen wird vor allen Dingen vorgeworfen, dass sie in
verschiedene Gruppierungen aufgespaltet sind und ihre Einheit
verloren haben.
Wer sind die "Sabier" ?
Das arab. Wort sabi `un kommt nur an drei Stellen vor, und zwar
neben der eingangs zitierten (Sure 22, Vers 17) noch in Sure 2, Vers
62 und Sure 5, Vers 69. Interessanterweise werden Muhammad selbst
sowie der zweite Kalif Omar ibn al-Chattab in der
Prophetenüberlieferung bzw. in der biographischen Literatur als
"Sabier" bezeichnet. Bemerkenswert dabei ist, dass schon
die älteste islamische Auslegungstradition mit dem Wort sabi `un
kaum noch etwas anfangen konnte, wie sich etwa bei dem bedeutenden
Korankommentator at-Tabari (gest. 923) zeigen lässt. In seiner
Auslegung zu Sure 2, Vers 62 heißt es: "Die Gelehrten streiten
darüber, auf welche Religionsgruppe dieses Wort anzuwenden
ist." Und dann zitiert er verschiedene Deutungen, von denen
hier einige wiedergegeben seien: So seien die Sabier "keine
Juden, keine Christen, sondern solche, die keine Religion
haben"; oder: "Sie befinden sich zwischen den Juden und
den Zoroastriern (arab. madschus); man isst nicht von ihren Opfern
und heiratet ihre Frauen nicht." Wieder eine andere von Tabarii
zitierte Tradition besagt: "Die Sabier behaupten, ein Stamm aus
dem Südirak zu sein; sie sind keine Zoroastrier, keine Juden und
keine Christen." Und dann folgt bei at-Tabari ein besonders
interessanter Satz: "Diejenigen, die Gott einen Teilhaber zur
Seite stellen (also die sog. muschrikun) haben vom Propheten gesagt,
er sei Sabier." Eine weitere Meinung besagt, die Sabier seien
aus der Gegend von Mossul, hätten kein (heiliges) Buch (arab. kitab)
und keinen Propheten, sondern würden sich mit dem Satz begnügen:
"Es gibt keinen Gott außer Gott", und daher würden die
muschrikun Muhammad und seine Anhänger mit den Sabiern vergleichen.
Versuch, die Sabier einzuordnen
Die islamischen Deutungen könnte man insgesamt in folgende vier
Meinungen einteilen: 1. Es seien Leute, die sich von ihrer Religion
abwenden. 2. Es sei eine bestimmte, den Buchbesitzern nahestehende
Gruppe, die Engel verehren, die Gebetsrichtung beachten, den Psalter
lesen. 3. Es seien die Mandaer. Es seien die Sabier von Harran
(Nordmesopotamien), eine dem Sternglauben verpflichtete Gruppe, die
mit ihrer Lehre dem Gedankengut des hermetischen Zirkels zugeordnet
werden kann. Die westliche Forschung hat folgende Lösungen
anzubieten: 1. In der von Annemarie Schimmel betreuten
Koranübersetzung von Max Henning ist in 2,62 und 5,69 von den
"Sabäern" die Rede, womit laut Anmerkung zu 2,62 die
"Johanneschristen" gemeint seien. Aber das ist
linguistisch unmöglich, da die "Sabäer" mit einem
anderen s-Laut geschrieben werden als die Sabier. 2. Es seien die
Anhänger der Sternreligion von Harran (s.o.). Es ist aber sehr
zweifelhaft, ob diese Sabier (aus Nordmesopotamien!) bis nach
Arabien hinein bekannt gewesen sein können. 3. Es sei eine
Täufersekte gemeint. Dabei wird dann das arabische Wort saba `a mit
dem mandaischen saba "taufen" in Verbindung gebracht. Es
seien die sog. Elkesaiten gemeint, die sich selber als Sobiai,
"die sich Eintauchenden", bezeichneten. Ihr Einfluss
sowohl auf den Manichaismus wie den frühen Islam ist mehrfach
behandelt worden. Auch wenn die Frage, wer die im Koran erwähnten
sabi 'un wirklich gewesen sind, wohl nicht endgültig geklärt
werden kann, so muss es doch eine in Arabien ansässige Gruppe
gewesen sein, "eine zwar monotheistische, aber von Juden,
Christen und Muslims verschiedene und zur Zeit Muhammads noch
bestehende besondere Gemeinschaft."' Sowohl die Mandaer als
auch die harranischen Sternenanbeter bezogen sich erst viel später
auf die koranischen "Sabier"-Stellen, um von der
islamischen Obrigkeit als "Schriftreligion" anerkannt zu
werden (s.u.).
Die Zoroastrier
Nur ein einziges Mal werden die Zoroastrier, arab. madschus
("Magier"), im Koran erwähnt, nämlich an der hier
behandelten Stelle 22,17. Der Zoroastrismus war Staatsreligion im
neupersischen Reich der Sassaniden, die zeitweise Teile von
Südarabien beherrschten, so dass auch persisches Gedankengut nach
Arabien gelange. Das kann man z.B. daran erkennen, dass es im Koran
eine ganze Reihe von persischen Fremdwörtern gibt.
Die Gruppe der Heiden
Die letzte noch genauer zu behandelnde Gruppe sind die
sogenannten muschrikun. Ich übersetze das Wort etwas umständlich
als "diejenigen, die Gott einen Teilhaber an die Seite
stellen". In der islamischen Auslegungstradition sind damit die
"Heiden" gemeint, also die Götzenanbeter (so z.B.
at-Tabari zu 22,17: alladhina ya'budun al-authan). Insgesamt bleibt
das Heidentum im Koran übrigens eigentümlich blass. Man erfährt
darüber am ehesten aus Erzählungen, wie etwa derjenigen von der
Auseinandersetzung Abrahams mit seinem Vater und von der
Zerschlagung der Götzenbilder. Das beruht meist auf jüdischem
Erzählgut. Es gibt nur zwei Stellen im Koran, in denen konkrete
Götternamen genannt werden. Das ist zum einen die Geschichte von
Noah; in Sure 71, Vers 23, heißt es: "Und sie [d.h. die
Zeitgenossen Noahs] sagten: Gebt doch eure Götter nicht auf! Gebt
weder Wadd auf noch Suwa` noch Yaghuth, Ya`uq oder Nasr." Diese
Namen sagen wenig, wenn man einmal von Nasr, was soviel wie
"Geier" heißt, absieht. Dass der Geier in altarabischen
Kulten eine Rolle gespielt hat, weiß man. Mit den anderen Namen
kann man weniger anfangen, außer dass einer der Namen "er
hilft" heißt, nämlich der von Yaghuth.
Weibliche Götter als Kompromiss zu Muhammads
Monotheismus
Die andere Stelle, an der Götter, und zwar weibliche Götter,
erwähnt werden, ist Sure 53, Verse 19ff; Muhammad wendet sich hier
an die Mekkaner, und es heißt: (19) "Was meint ihr denn von
al-Lat und al-`Uzza und Manat, der dritten? (20) Sollen euch die
männlichen Wesen zukommen und Gott die weiblichen? (21) Das wäre
eine ungerechte Verteilung." Nach der Tradition, wie sie etwa
bei at-Tabari in der Auslegung zu dieser Stelle angeführt wird,
seien auf die in Vers 19 formulierte Frage die sog.
"satanischen Verse" gefolgt, d.h. Verse, die Muhammad
nicht von Gott geoffenbart, sondern vom Satan eingeflüstert worden
seien, und die deswegen später aus dem Koran "getilgt"
und durch die heutigen Verse 20-21 ersetzt wurden. Sie lauteten:
"Sie [d.h. die erwähnten Göttinnen] sind die hohen Wesen
[oder: Kraniche, Störche, bzw. Vogelwesen], bei denen die
Fürsprache liegt." Die Aussage dieser sog. "satanischen
Verse" wäre also, dass weiblichen arabischen Gottheiten (von
denen übrigens al-Lat auch archäologisch sehr gut belegt ist) als
eine Art Mittlergestalten, als Fürsprecherinnen bei Gott, anzusehen
wären - also der Versuch eines Kompromisses zwischen dem von
Muhammad verkündeten Monotheismus und dem mekkanischen Heidentum.
Aber ein solcher Kompromiss ist nach dem Koran unmöglich.`' Viel
mehr ist über das altarabische Heidentum im Koran nicht zu finden.
Anweisungen zum Umgang mit anderen Religionen
Der maßgebliche Koranvers zum Umgang mit Andersgläubigen (Sure
9, Vers 29) stammt aus spätmedinensischer Zeit und lautet:
"Kämpft gegen diejenigen, die nicht an Gott und den Jüngsten
Tag glauben, und nicht verbieten, was Gott und sein Gesandter
verboten haben, und nicht der wahren Religion angehören, - von
denjenigen, die die Schrift erhalten haben, bis sie kleinlaut (oder:
erniedrigt) aus der Hand Tribut (arab. dschizya) entrichten."
Dieser Vers enthält eine Fülle interpretatorischer Probleme, z. B.
an wen sich die Aufforderung eigentlich richtet, oder warum hier
noch eigens die "Schriftbesitzer" erwähnt werden (die ja
doch mindestens "an Gott und den Jüngsten Tag glauben"!).
In der islamischen Rechtspraxis war der Vers jedoch im wesentlichen
klar. Denn aus ihm leitete man ab, dass Angehörige einer Religion,
die ein Buch vorweisen konnten, ihre Religion weiterhin ausüben
durften, freilich mit gewissen Einschränkungen, etwa was die
öffentliche Zurschaustellung religiöser Symbole (z.B. bei
Prozessionen) betraf. Für dieses Recht mussten sie einen Beitrag
bezahlen, die sog. "Kopfsteuer" (arab. dschizya), wobei
jedoch die Einzelheiten, wie die Höhe des Betrages, von Ort zu Ort
verschieden sein konnten. Mit der Zahlung der dschizva wurde den
"Schriftbesitzern" der Status von Schutzbefohlenen (arab.
dhimmi) zuerkannt. Diese klassische islamische Rechtspraxis
bedeutete zwar Religionsfreiheit, schränkte zugleich aber auch die
Rechte der dhimmis gegenüber den Muslimen ein. Für diese Praxis
gibt es eine Reihe von Musterverträgen, die in der Zeit der ersten
Eroberungen zwischen dem Kalifen Umar und den christlichen Bewohnern
der jeweiligen Städte (z.B. Damaskus, Jerusalem) abgeschlossen
wurden. Darin enthalten sind eine Reihe von Einzelbestimmungen, wie
z.B. das Verbot, Glocken zu läuten, neue Kirchen zu bauen, oder
auch bestimmte diskriminierende Kleidervorschriften. Interessant ist
auch, dass sich die Christen darin verpflichten, ihre Kinder nicht
den Koran zu lehren. Von muslimischer Seite aus war es verpönt,
dass sich ein Christ mit dem Koran beschäftigte; den Koran liest
man nur, wenn man Muslim ist, also erst Islam, dann Koranlektüre!
Koran bleibt teilweise frei für
Interpretationen
An dieser Stelle kann die Frage beantwortet werden, wer nun
eigentlich die "Sabier" waren, bzw. genauer, welche
Gruppe(n) sich so bezeichnete(n). Die Täufergemeinschaft der
Mandaer, die bis heute im Südirak (übrigens in zunehmender
Bedrängnis) überlebt, hat im 9. Jahrhundert, um als
Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden, auf die drei Koranstellen
verwiesen, wo von den "Sabiern" die Rede ist; zudem
konnten sie ein Buch vorweisen, das sog. Johannesbuch, genannt nach
dem auch im Koran erwähnten Vorläufer Jesu. So hat, wie man sieht,
eine für unterschiedliche Interpretationen offene Koranstelle
nachweislich einer Gruppe als Mittel gedient, um als
"erlaubte" Religion anerkannt zu werden. Ja, weil diese
Stelle unklar war, konnten sich sogar mehrere Gruppen auf diese
Stelle beziehen und dadurch den Status von Buchbesitzern und somit
Schutzbefohlenen gewinnen. Auch der Zoroastrismus vermochte aufgrund
der Erwähnung der madschis im Koran zeitweise den Status einer
erlaubten Religion zu gewinnen, doch war die Haltung des Islams ihm
gegenüber nicht einheitlich.
Auseinandersetzungen mit dem Christentum
Wie erging es nun den Christen in der langen Geschichte des
Islam? Man hört und liest sehr oft, der Islam sei mit "Feuer
und Schwert" ausgebreitet worden und habe das Christentum im
Vorderen Orient und in Nordafrika verdrängt. Letzteres ist gewiss
wahr - auch wenn die Zurückdrängung der Christen ein Jahrhunderte
währender Prozess war, der keineswegs abgeschlossen ist. Jedenfalls
ist die mit dem Begriffspaar "Feuer und Schwert"
unterstellte Annahme, der frühe Islam habe die Bewohner der
eroberten Gebiete sogleich "missioniert", absolut
unzutreffend. Die arabischen Herrscher, deren Religion der Islam
war, haben zwar weite Gebiete erobert, aber die Bevölkerung nicht
zu Muslimen gemacht. Das ging schon deshalb nicht, weil
ursprünglich nur ein Araber ein Muslim sein konnte; d.h. man muss
den Charakter des frühen Islams sehr stark im Zusammenhang mit der
Stammestradition und einer davon geprägter Religiosität sehen.
Auch Nicht-Araber wurden Muslime
Es bedeutete eine große Zerreißprobe für den bis dahin rein
arabisch geprägten Islam, als die Perser ab dem 8. Jahrhundert ihr
Recht einforderten, selber vollgültige Muslime zu werden. Erst im
Laufe dieser Auseinandersetzungen zwischen der arabisch geprägten
Führungsschicht des Islams und den persischen Neumuslimen ist die
islamische umma zur universalen Weltreligion geworden. Um als
"Muslim" aufgenommen zu werden, bediente man sich dabei
einer Hilfskonstruktion; man musste nämlich Schutzbefohlener eines
arabischen Stammes werden, sich also gleichsam
"arabisieren". Schon aus diesen Überlegungen heraus
wird klar, dass der Islam in den ersten Jahrhunderten seiner
Existenz nicht missionierte. Die Folge war, dass die Zahl der
Christen in den islamischen Kerngebieten (Levante, Ägypten,
Nordafrika) in den ersten Jahrhunderten relativ hoch geblieben ist.
In Ägypten etwa beginnt die Zeit der massenhaften Konversionen zum
Islam wohl erst in mamlukischer Zeit (ab 1250): Zuvor ist die
Bevölkerungsmehrheit Ägyptens stets koptisch gewesen.
Der Mongoleneinfall
Nicht die Kreuzzüge waren für den Islam der Wendepunkt in der
Einstellung Andersgläubigen gegenüber, auch wenn sie den
orientalischen Christen, die unter islamischer Herrschaft lebten,
sehr geschadet haben. Von tiefgreifenderer Bedeutung war der
Mongoleneinfall. Die Zerstörung Bagdads und die Abschaffung des
Kalifats durch die Mongolen im Jahr 1258 war "das größte
Unglück, das die islamische Welt bislang betroffen" hatte; und
das hatte eine viel nachhaltigere Wirkung als die Eroberung
Jerusalems durch die Kreuzfahrer 1099. Die Mongolen zerstörten mit
dem Kalifat gleichsam den "alten" Islam. Wichtige
Kulturlandschaften wurden verwüstet, Kulturgüter zerstört und
weite Bevölkerungsteile ausgelöscht. Dass die westlichen Christen
versuchten, über die - letztlich gescheiterte - Christianisierung
der Mongolen auch den Islam zu besiegen, hat sich dem islamischen
kollektiven Gedächtnis tief eingegraben.
Der Religionsgelehrte Ibn Taymiyya
Im Zusammenhang mit der Mongolenzeit ist ein Mann zu nennen und
zu verstehen, dessen Wirken für die heutigen fundamentalistischen
Bewegungen im Islam von großer Bedeutung geworden ist: Ibn Taymiyya
(1263-1328), der als Religionsgelehrter und Richter kompromisslos
gegen jeden Versuch aufgetreten ist, eine rein weltliche Herrschaft
islamisch zu legitimieren. Er war es auch, der mit äußerster
Schärfe Stellung gegen die Anhänger des Volksislams und der Mystik
bezog, ja der sie wegen ihrer Verehrung von Heiligen und mystischen
Meistern als muschrikun bezeichnete, also als gleichsam
"moderne" Heiden! Auch die Christen nannte er wegen ihrer
Heiligenverehrung so. Die scharfen Töne gegen die Christen, die man
heute in fundamentalistischen Kreisen des Islams häufig hört,
gehen vielfach auf Ibn Taymiyya zurück. Auch das Modell eines
islamischen Staates, in dem allein das islamische Gesetz, die schari
`a, gilt, ist als Reaktion auf die "Fremdherrschaft" der
Mongolen zu Ibn Taymiyyas Zeit und in unserer Zeit als Reaktion auf
die Herrschaft der Kolonialmächte zu verstehen.
Vorbildliche Religionspolitik
Zum Schluss möchte ich noch erwähnen, dass die Religionspolitik
des Osmanischen Reiches in vielfacher Hinsicht als vorbildlich
gelten kann. Die Osmanen haben das sog. millet-System eingeführt.
Das türkische Wort millet ist eine Übernahme des arabischen Wortes
milla, "Religion". Im osmanischen Kontext hat millet die
Bedeutung einer durch gemeinsame Glaubenszugehörigkeit bestimmten
Volksgruppe: Armenier oder Griechen, jeweils geeint durch ihren
orthodoxen Glauben, galten als millet. Jede millet hatte ihre eigene
Gerichtsbarkeit, was nur dann außer Kraft gesetzt wurde, wenn
Muslime an Rechtsstreitigkeiten beteiligt waren. Dafür war stets
der muslimische Richter (qadi) zuständig. Der osmanische Sultan
hatte nur über das Oberhaupt der jeweiligen millet (z.B. den
griechischen Patriarchen) Einfluss auf deren Mitglieder. Wichtig war
jedoch, dass jedes neugewählte Oberhaupt einer millet der formellen
Zustimmung des Sultans bedurfte. Mit Hilfe des millet-Systems ist es
den osmanischen Herrschern gelungen, lange Zeit einen weitgehenden
Religionsfrieden in ihrem Herrschaftsbereich aufrechtzuerhalten -
ja, das Osmanische Reich gewährte großzügig den Juden Zuflucht,
welche die christlichen Könige Spaniens und Portugals im 16.
Jahrhundert vertrieben hatten! Und mehr noch: Es gibt historische
Belege dafür, dass osmanische Notabeln etwa in Ungarn als
Schlichter zwischen verschiedenen christlichen Konfessionen gewirkt
haben. Der Islam in seiner osmanischen Variante hat also durchaus
einen friedensstiftenden Einfluss gehabt. Wenn die Osmanen
ausgesprochene "Religionskriege" führten, so richteten
sich diese gegen ihre schiitischen Nachbarn, die Perser, waren also
innerislamische Auseinandersetzungen.
Islam zeigt Toleranz im Umgang mit anderen
Religionen
Im Gegensatz zum Christentum hat der Islam religiöse Pluralität
von Anfang an zugelassen, in getreuer Auslegung der (in Teil A
behandelten) koranischen Vorgaben. Und im Verlauf der Geschichte
haben die unterschiedlichen islamischen Gesellschaften bewiesen,
dass sie mit religiöser Pluralität umgehen können, und zwar nicht
nur in dem Sinne, dass sie passive Toleranz geübt hätten. Es gibt
genug Beispiele dafür, dass der frühe Islam in einen fruchtbaren
Dialog mit den Religionen getreten ist, die er in seinen Gebieten
vorfand, ja, dass er von diesen sogar mehr oder weniger beeinflusst
worden ist. Fundamentalistische Misstöne der Gegenwart sollten uns
nicht davon abhalten, die historische Leistung des Islams
anzuerkennen; die Gesellschaften in seinem Herrschaftsbereich waren
- wie könnte es anders sein - islamisch dominiert, aber das
Lebensrecht anderer Religionen, vor allem aber der
"Buchreligionen", wurde darin nicht negiert.
Gekürzt und bearbeitet von Ernst Pohn
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