Unterwegs zum universalen Gottesstaat ? Der Islam als
realisierte prophetische Botschaft
Von Tilman Nagel
Die Forschung über die Entstehung des Islams wurde zunächst
noch vielfach von der Frage bestimmt, ob Muhammad wirklich ein
Prophet gewesen sei oder nicht viel eher ein Abenteurer, der sein
Streben nach Macht hinter frommen Sprüchen versteckte. Welche
Auswirkungen und Begleiterscheinungen hatte seine Botschaft in der
frühen mekkanischen Zeit und welche Strömungen gibt es
gegenwärtig innerhalb der islamischen Welt, die, aus einem
europäischen Blickwinkel betrachtet, nach der Errichtung eines
islamischen Gottesstaates streben?
Es steht außer Zweifel, dass Muhammad, nachdem er zum Propheten
berufen worden war, ganz von dem Eindruck eines bevorstehenden
Weltgerichts überwältigt wurde. Dem sollte eine völlige
Zerstörung der gewohnten Verhältnisse vorausgehen, das Unterste
werde zuoberst gekehrt werden: "Die Pochende! Was ist die
Pochende? Woher weißt du, was die Pochende ist? Am Tage, da die
Menschen wie verstreute Motten sein werden und die Berge wie
gerupfte Wollflocken! Wessen Waagschalen dann schwer wiegen, der
wird ein angenehmes Leben haben. Wessen Waagschalen aber leicht
wiegen, mit dem geht es in den Abgrund! Woher weißt du, was dieser
ist? Sengendes Feuer! " (Sure 101). Muhammad ist aber mehr als
ein bloßer Verkünder des Weltendes. Dies wird schon in Sure 74
deutlich, deren erste fünf Verse den Anfang aller Offenbarungen
bilden sollen, die er empfing: "Der du dich mit dem Gewand
bedeckt hast! Steh auf und warne! Und deinen Herrn, den rühme! Und
dein Gewand, das reinige! Und die Unreinheit, die meide!"
Muhammad versteht sich mithin als ein Warner - ein vielfach im Koran
belegter Gedanke. Warnung meint aber, dass noch Zeit ist, sich auf
das einzustellen, was einem droht. Und so wird schon in den
vermutlich ältesten Worten des Korans - die sich noch allein an den
Propheten wenden - von Forderungen gesprochen, die Gott stellt,
damit, wenn jener schlimme Tag graut, einer, der sie erfüllt, das
Unheil überstehe.
Muhammads Verkündigung vom Ende der Welt
Dass eines Tages die Welt durch ihren Schöpfer vernichtet werde
und die Menschen, durch ihn abgeurteilt, in das Paradies oder die
Hölle eingewiesen würden, war im Mekka jener Tage keine unbekannte
Aussage. Vereinzelte Gottsucher, im Arabischen "Hanifen"
genannt, hatten auch die gleichen Ideen verkündet und versuchten,
für sich selber die naheliegenden Schlussfolgerungen hieraus zu
ziehen. Nicht die Vorstellung eines Endgerichts war neu, unerhört
war vielmehr, dass Muhammad sich von Gott aufgerufen sah, die Masse
seiner achtlosen Landsleute zu warnen, ihnen vorzuhalten, das sie
genau das aufs Spiel setzten, was die Christen das Heil zu nennen
pflegen. Muhammad gibt der schon bekannten, jedoch für
bedeutungslos gehaltenen Einsicht in eine Rechenschaftspflicht des
Menschen eine als unangenehm empfundene Zuspitzung: Das Gericht
kommt ganz gewiss! Und auch ihr, die ihr jetzt nichts davon wissen
wollt, indem ihr lieber glaubt, mit dem Tod sei schon alles zu Ende,
auch ihr werdet dann zur Verantwortung für euer Tun gezogen!"
Wenn sich der Himmel spaltet! Wenn sich die Sterne verstreuen! Wenn
die Meere zum Abfließen gebracht werden! Wenn die Gräber
durchwühlt werden! Dann weiß eine jede Seele, was sie getan und
gelassen hat! O Mensch, warum täuschst du dich über deinen
edelmütigen Herrn, der dich geschaffen, gerade und richtig gebildet
hat?... Aber über euch sind Wächter gestellt, edle, aufzeichnende,
die wissen, was ihr tut. Die Frommen sind im Paradies, und die
Übeltäter sind in der Hölle ... Woher weißt du, was der Tag des
Gerichts ist? ... Am Tag, da keine Seele für die andere etwas tun
kann! Das Sagen hat dann Gott allein!" (Sure 82).
Anfangs mangelnde Glaubwürdigkeit Muhammads
Die lebhaftesten Ausmalungen des Weltendes finden sich in den
Schwurformeln, die die ältesten Suren einleiten. Die Offenbarungen
waren zunächst dem Schema der Sprüche der altarabischen Wahrsager
nachgebaut, weshalb, wie bekannt ist, Muhammad auch mit ihnen und
mit den Dichtern verglichen wurde, die man von Dämonen besessen
meinte. Seiner Glaubwürdigkeit dürfte dieser Umstand geschadet
haben, denn die heidnische Frömmigkeit und Gesittung waren in Mekka
im Abklingen begriffen. Ist nicht ein leichter Spott herauszuhören,
wenn die Mekkaner den Propheten fragten: "Wann wird denn nun
jene Stunde sein und alles das, wovon du berichtest?"
"Dein Herr verfügt über sie! Du hast nur die Aufgabe, die zu
warnen, die sich fürchten! Am Tag, da sie sie sehen, wird es ihnen
vorkommen, als hätten sie erst einen Abend oder den dazugehörigen
Vormittag verbracht! " (Sure 79, 4246). Ohne Rücksicht auf die
menschliche Zeitrechnung, die den Tag von Sonnenuntergang zu
Sonnenuntergang zählt, wird sie hereinbrechen, plötzlich und
unvermutet, wie es an anderen Stellen heißt (z. B. Sure 12,107;
Sure 47;18).
Das religiöse Umfeld Muhammads
Entscheidend ist es, den Umkreis jener religiöser Vorstellungen
zu definieren, in die die von Muhammad entworfene Endzeitszenerie
eingebettet war. Er dadurch kann die Befürchtung eines unmittelbar
bevorstehenden Weltgerichts in der mekkanischen Phase des Propheten
Muhammads gegenwärtig war. Schon in der 82. Sure, die durch deren
nachdrückliche Einbeziehung in die Lebenswirklichkeit des Alltags
als ein Beispiel für die Zuspitzung der Idee des Gerichts
angeführt wurde, findet man die Auffassung, dass jenes Ende der
Tage keineswegs so nahe sei, dass für den Menschen schon alles
derart verloren sei, dass er nur noch Buße tun und auf die Gnade
des Richters hoffen könne. Man kann durchaus schon in frühen
Offenbarungen Hinweise auf Forderungen Gottes nach eigenen
Leistungen der Menschen finden; wie in den ersten Versen von Sure 74
wird des öfteren zur Lobpreisung Gottes aufgerufen, der nun als der
gütige Schöpfer erscheint, dem der Mensch für zahllose Wohltaten
Dank schuldet. Gott erwartet des weiteren, dass man rein vor ihn
trete, wobei rituelle und sittliche Reinheit ineinander spielen.
Endziel einer völligen Neugestaltung des Lebens
Die dank günstigen geopolitischen Umständen seit etwa einem
Jahrhundert reich gewordenen Mekkaner neigen zu anmaßender
Überschätzung ihrer eigenen Kräfte (vgl. Sure 82, Schluss); sie
scheuen auch vor Betrug nicht zurück, sie veruntreuen das Vermögen
ihrer Mündel - von dem Schmutz derartiger Verfehlungen sollen sie
sich befreien, und zwar durch die Abführung einer Läuterungsgabe (arab.:
azzakat), die den Bedürftigen zugute kommen soll. Die schon von den
Gottsuchern erwogenen eschatologischen Spekulationen hochreligiöser
Herkunft wurden von Muhammad zur, wie er hoffte, unwiderlegbaren
Grundlage des Entwurfs eines neuartigen Alltagslebens gemacht, das
nicht mehr die Sache weniger Frommer, sondern aller Menschen sein
sollte, denen seine Botschaft zu Ohren kam. Die an ihm zweifelnden
Mekkaner erkannten sehr wohl, dass ihnen nicht einfach das
unmittelbar bevorstehende Ende der Tage angekündigt wurde, das wie
eine Katastrophe hereinbrechen und alle, Gerechte wie Sünder,
verschlingen werde, sondern dass ihnen hier und jetzt unter Hinweis
auf das Gericht eine Änderung des Lebens von Grund auf abverlangt
wurde - was ihnen vermutlich viel unangenehmer war. Dies jedenfalls
ist aus den vielfältigen Streitgesprächen mit dem Propheten zu
schließen, von denen die mittelmekkanischen Suren Zeugnis ablegen.
Nicht die Zeit nach dem Eschaton, sondern die Spanne bis zum
Eschaton ist das, worauf es ankommt.
Geänderte Vorraussetzungen für Muhammad in
Medina
In Mekka war Muhammad die Macht vorenthalten worden; in Medina
fiel sie ihm - zumindest unter seinen Anhängern und jenen, die für
deren Unterhalt aufkamen - von Anfang an zu. Es lässt sich nun
beobachten, wie die in Mekka aufgekeimten Ansätze in eine
bestimmte, stark durch die faktischen Gegebenheiten beeinflusste
Richtung weiterwuchsen. Kehren wir noch einmal zum rituellen Gebet
zurück! In Mekka umgrenzte es den lichten Tag. Hier nun, in Medina,
wurde auch die Nacht als eine Zeitspanne fortwährenden göttlichen
Wirkens in den Kultus der Gemeinde einbezogen. "Lob sei ihm in
den Himmeln und auf der Erde - und des Abends und wenn ihr in die
Zeit gegen den Mittag eintretet!" heißt es in dem mekkanischen
Vers 18 von Sure 30; in Medina wird ihm Vers 17 vorgeschaltet:
"Gepriesen sei Gott, wenn es Abend wird und wenn es Morgen
wird. " - Ein außerordentliches Problem ergab sich freilich
daraus, dass man in Mekka unmittelbar an der Wand der Kaaba gebetet
hatte, die damals nur einen schmalen Umgang besaß, da die Häuser
der Qurais in ihrer unmittelbaren Nähe errichtet worden waren und
sich zu ihr hin öffneten. Wahrscheinlich hatten Muhammad und seine
Anhänger an der Südseite ihre Gebete vollzogen, so dass, wie
überliefert wird, das Heiligtum von ihnen aus gesehen die Richtung
auf as-Sa'm, nach Norden, markiert hatte. Die in Mekka stets geübte
unmittelbare Anwesenheit am Heiligtum, als an jenem Ort, an dem sich
Gottes gesetzgebender Wille einst dem Abraham offenbart haben soll,
war in Medina nicht herzustellen.
Entwicklung in Medina
Schon ein Jahr bevor Muhammad seine Vaterstadt verlassen musste,
hatten manche seiner Gefolgsleute, die von den Mekkanern
drangsaliert worden waren, in Medina Zuflucht gesucht. Ein
Gebetsplatz wurde abgesteckt, und ihre Riten wurden, wie berichtet
wird, weiterhin nach Norden (as-Sa'm) vollzogen. Möglicherweise im
Zusammenhang der Auseinandersetzungen mit den Juden verordnete
Muhammad dann im 2. Jahr der Hedschra eine Änderung, die von
großer symbolischer Bedeutung war. In der aus jener Zeit stammenden
Sure 2 über die Besetzung Mekkas durch die Anhänger Muhammads wird
nun Abraham als der Gottesmann herausgestellt, der auf Geheiß des
Schöpfers zusammen mit seinem Sohn Ismael die Kaaba errichtet und
damit den Mittelpunkt jeglichen gottgeweihten Kultes schafft.
Dorthin sollen sich von nun an die Gläubigen beim Gebet wenden.
Mekka, die Kaaba, ist der Mittelpunkt des von Muhammad gestifteten
Ritus. Wenn man jeweils auch nicht unmittelbar am Heiligtum Allahs
anwesend sein kann, so wird durch die Einführung der neuen
Gebetsrichtung diese Anwesenheit doch zumindest viermal am Tag
symbolisch hergestellt. Zugleich beweist sich die Gemeinde viermal
am Tag als eine Gemeinschaft eigener Art, die sich bewusst von der
weitgehend judaisierten Umgebung absetzt: Diejenigen, denen schon
vor langer Zeit die Schrift gebracht wurde, wollen nicht zugestehen,
dass man sich eigentlich nach Mekka wenden müsste; an der anderen
Gebetsrichtung bestätigt sich, dass sie nicht der wahren Religion
angehören.
Unterschiede zwischen medinensischer und
mekkanischer Kultpraxis
Dreierlei zeichnet die medinensische Kultpraxis gegenüber der
mekkanischen aus: Die Gottesverehrung umschließt nun auch die
Nacht, die, wie in Sure 73 erwähnt wird, auch von Mitgliedern der
Gemeinde zu Andachtsübungen genutzt werden soll; die
Anhängerschaft Muhammads lernt, sich als eine Religionsgemeinschaft
eigener Art zu verstehen deren irdischer Mittelpunkt die Kaaba ist.
Da die Anwesenheit am mekkanischen Heiligtum jedoch auch symbolisch
hergestellt werden kann, ist diese Religionsgemeinschaft zugleich
universal (Tilman Nagel, Medinensische Einschübe in mekkanischen
Suren. Göttingen 1995 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaft
Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, 3. Folge, S. 145-148).
Weiter ist sie dadurch gekennzeichnet, dass sie ein eigenes
Offenbarungsbuch besitzt. Wie an anderer Stelle ausführlich
dargelegt, begann die Verschriftlichung der Offenbarung schon in
Mekka (ebd., S. 113-127) Sie lief in Medina weiter. Dort kam es
jedoch zu einem heftigen Zwist zwischen Muhammad und den Juden, die
sein Offenbarungsbuch natürlich nicht als dem ihrigen ebenbürtig
oder gar überlegen anerkennen wollten. Muhammads Haltung musste
ihnen überdies zweideutig erscheinen. Denn er beharrte in der
Auseinandersetzung mit ihnen darauf, dass er trotz der schon
niedergeschriebenen Teile der Offenbarung weiterhin von Gott
angesprochen werde: Zu dem ununterbrochenen fürsorglichen Walten
Gottes an seiner Schöpfung gehörte auch, dass er seinem Propheten
unablässig seinen Willen kundgab. Der Botengeist (arab.: ar-ruh),
der als Übermittler der Worte Gottes identifiziert wird, ist Teil
der die ganze Schöpfung durchziehenden Fügung (arab.: al-amur),
die von Gott ausstrahlt.
Beschreitung des Heilsweges schon im Diesseits
Allumfassend wie Gottes Sorge ist auch seine Rede, die ständig
ergeht. Durch diese Sorge und durch die Rede Gottes wird der
Gläubige, der das Diesseits im Hinblick auf das Ende zu nutzen hat,
geborgen und getragen - und das hohe Ziel der von Gott durch den
Propheten gestifteten Gemeinde, nämlich bereits im Diesseits mit
Erfolg einen Weg des Heilserwerbs zu beschreiten, erscheint
erreicht: "Die aber glauben und gute Werke tun, werden die
Paradiesgärten als Wohnstätte bekommen, und das auf ewig. Nie
wieder werden ,sie sich von dort wegwünschen. Sprich: 'Wäre das
Meer Tinte für die Worte meines Herrn, so wäre es erschöpft noch
vor den Worten meines Herrn selbst wenn wir die Menge (der Tinte)
verdoppeln!' Sprich: `Ich hin nur ein Mensch wie ihr, dem offenbart
wird. Euer Gott ist einer. Wer seinem Herrn begegnen will, der möge
gut handeln und seinem Herrn, den er verehrt, niemanden
beigesellen!'" Eindringlicher als in diesen in Medina der Sure
18 angefügten Schlussversen kann man diese Verheißung kaum
ausdrücken.
Regeln für das Zusammenleben
Waren in der spätmekkanischen Zeit, abgesehen von der
Läuterungsgabe und dem rituellen Gebet, feste Institutionen noch
nicht greifbar und wurde richtiges oder falsches Verhalten der
Gläubigen nur in allgemeinen Wendungen beschrieben, so ist der
medinensische Teil des Korans voll von Anordnungen, in denen
bestimmte Handlungen verlangt oder einzelne Bereiche des
Zusammenlebens der Mitglieder der Gemeinde geregelt werden. Bei
vielen Anordnungen, die der Prophet jetzt erlässt, wird mittelbar
oder unmittelbar Gott als der eigentliche Ursprung des Gebotes
beschworen. Die unter der - durch Muhammad vermittelten -
Rechtleitung Gottes stehende Glaubensgemeinschaft ist von einer
radikalen Werkfrömmigkeit geprägt, einer Werkfrömmigkeit, die
sich, den politischen Umständen entsprechend, vor allem als
Kampfgemeinschaft zu bewähren hat. Sie hat dem Propheten Gehorsam
zugeschworen und dabei ein gutes Geschäft gemacht; denn sie hat
sich selber Gott überantwortet, alle ihre Mitglieder haben mit
ihrer eigenen Person Gott ein Darlehen gewährt, das er ihnen
überreichlich verzinsen wird (Sure 9, 111 ). Die wahren Gläubigen
sind diejenigen, die, in Mekka verfolgt, nach Medina kamen und
diejenigen, die sie aufnahmen und unterstützten (Sure 8, 74). Der
das eigene Leben geringschätzende Einsatz "auf dem Pfade
Gottes" - das wird in medinensischen Offenbarungen immer wieder
versichert - sei nämlich sogar geeignet, vergangene Verfehlungen
vom Kontostand zu tilgen.
Weltveränderung anstatt Weltuntergang
Es zeigt sich, dass die prophetische Rede von Weltuntergang
keinesfalls zu einem resignierenden Abwarten dessen, was da bald
oder später kommen würde, führte, sondern einen energischen
Willen zur Umgestaltung des Diesseits freisetzte und legitimierte.
Die Voraussetzungen für eine solche Wendung des Eschatologischen
sind schon, wie wir erörterten, in der frühen mekkanischen Zeit
angelegt. Gott ist zwar als Schöpfer seinsmäßig streng von seinem
Werk zu trennen, aber durch die ständig von ihm ausgehende Fügung
stets in ihm gegenwärtig. Er wird seine Schöpfung nicht wie ein
missratenes Werkstück verwerfen. Schon in Mekka war Muhammad klar,
dass seine Botschaft einen Umsturz der politischen und
gesellschaftlichen Verhältnisse bedeuten musste; er wich dieser
Konsequenz nicht aus und schien nach seiner Vertreibung zunächst
ein Verlierer zu sein. Die Umstände, mit denen er in Medina fertig
werden musste, brachten sein Lebenswerk jedoch zur Reife; ihre
Eigenständigkeit wurde ihm deutlich. Die alte Frage nach dem
angeblichen Bruch in seinem Leben und nach den Gründen hierfür
sollte von der Tagesordnung der Islamwissenschaft gestrichen werden.
Wie und unter welchen Umständen das in vielen Zügen sehr
eigentümliche medinensische Gemeinwesen aus dem in Mekka
Geleisteten hervorging, ist eine sinnvollere und größeren Ertrag
versprechende Frage.
Die Zeit nach Mohammads Tod
Erst nach Muhammads Tod verblasste allmählich die Überzeugung,
nur als Kampfgemeinschaft werde sich das neue Gemeinwesen behaupten.
Bestimmte geschichtliche Wandlungen erzwangen diese Veränderung. Im
sogenannten Ersten Bürgerkrieg kehrten die Gläubigen die Waffen
gegeneinander, und da war nicht mehr zweifelsfrei auszumachen,
welche Seite sich mit Recht auf Gottes Willen berufen konnte. Ferner
traten nun zahlreiche Neubekehrte in die Glaubensgemeinschaft ein.
Sie hatten keinen Anteil an der mehr und mehr verklärten heroischen
Anfangszeit gehabt. Sollten die Glieder dieser Gemeinschaft
weiterhin ihren Rang aus den Heldentaten der Vergangenheit ableiten
müssen, so könnte ihnen in Hinkunft nur ein geringes Ansehen
zuteil werden. Daher musste der Appell an die persönliche
Einsatzbereitschaft leiser.
Riten bringen neuen Antrieb
Wenn die Vergangenheit auch in Berichten immer wieder als eine
Epoche höchster Geltung des göttlichen Willens beschworen wurde,
so durfte dieser nun doch nicht mehr vorzugsweise den Kampf, der
eigenes Leben nicht schont, fordern. Anderes, für die Späteren
Nachvollziehbares, musste an Bedeutung gewinnen: eben die Riten. So
rückt der "Islam" als Inbegriff der Ritenfrömmigkeit,
obschon im medinensischen Überlebenskampf als nicht ausreichend
für ein Leben in wahrer Gläubigkeit geltend (vgl. Sure 49, 14),
nunmehr in den Vordergrund (Tilman Nagel, Medinensische Einschübe
in mekkanischen Suren, Göttingen 1995, 176 ff). Nicht mehr
"die Gläubigen" ist nun die Selbstbezeichnung der
Gemeinschaft - wie es noch in den medinensischen Suren und in der
ersten Zeit nach Muhammads Tod gewesen war -, sondern "die
Muslime". Das sind diejenigen, die auf rituelle Weise ihr
Verhältnis zu Gott ins reine zu bringen haben. Dieser
"Islam" lässt sich in den bekannten fünf kultischen
Pflichten zusammenfassen: im Aussprechen des Glaubensbekenntnisses,
im rituellen Gebet, in der Läuterungsgabe, im Fasten und in der
Pilgerfahrt.
Der Prophetenhadith
Beschrieben werden diese Pflichten sowie zahlreiche das Äußere
des Zusammenlebens der Muslime regelnde Bestimmungen im
Prophetenhadith. Dies ist eine in ihren Anfängen bis etwa zum Jahre
700 zurückreichende Literaturgattung, in der Einzelaussagen zu
unterschiedlichsten Themen durch eine fiktive Verknüpfung mit
Muhammad mit einem Höchstmaß an Autorität versehen werden. Die
Entstehung dieser Literaturgattung und die Tatsache, dass sich
"Muslime" als Selbstbezeichnung der neuen
Religionsgemeinschaft durchsetzt, fallen bezeichnenderweise in
denselben Zeitraum. So wächst der Rechtgläubigkeit als einer
umfassenden Ritualisierung - zunächst vor allem des Verhältnisses
Gott - Mensch, später auch des Verhältnisses der Muslime
untereinander - im Prophetenhadith ihre unentbehrliche
Quellengrundlage zu. Sie sollte zumindest im sunnitischen Islam de
facto die gleiche Autorität wie das Gotteswort, der Koran,
erlangen, eine Entwicklung, die sich in späten medinensischen Suren
bereits keimhaft anmeldet.
Regelung des Verhältnisses Mensch – Gott,
Mensch – Mensch in der sunna
Es ist allerdings, nachdem sich die Bezeichnung
"Muslime" eingebürgert hatte, immer wieder auch die
Erkenntnis aufgebrochen, dass der Glaube mehr sei als der Islam. Die
Aufforderung, den Islam hinter sich zu lassen und erneut zum wahren
Glauben vorzustoßen, bringt stets die Verwerfung eines wesentlichen
Teils der islamischen Religionsgeschichte, nämlich jenes der
Hingewandtheit zu Gott mittels des Ritus. Die rituelle Regelung des
Verhältnisses Mensch - Gott ist in ihren Einzelbestimmungen in der
in das späte 7. Jahrhundert zurückgehenden Überlieferung von der
sunna, dem normsetzenden Vorbild Muhammads, auffindbar. Damit
einhergehend auch der weitaus größte Teil der gesetzlichen
Festlegungen, die die Beziehungen der Menschen untereinander ordnen.
Das erste Ideal, das der kämpferischen Gläubigkeit, wurde damals
von einem anderen, dem der in treuer Ritenerfüllung geeinten
Gemeinschaft (arab.: al-gama'a), in den Hintergrund gedrängt. Das
in der sunna geformte und tradierte Vorbild Muhammads legt ein Maß
an Pflichten fest, das zum Erwerb des Heilsanspruchs hinreichend
ist.
Überstrenges Festhalten an den Normen der
sunna
Darüber hinaus hören wir seit dem ausgehenden 7. Jahrhundert
von Muslimen, die sich mit diesem Durchschnitt nicht zufrieden gaben
und ihn in vielfacher Weise, häufig bis ins Wahnwitzige
übersteigert, zu überbieten trachteten. Ihnen wurde schon im 9.
Jahrhundert die Erfüllung, ja Übererfüllung der in der sunna
gesetzten Normen zu einem Weg, an dessen fernem Ziel das
"Entwerden im Einen" stand. Es wurde also noch einmal die
Frage der individuellen Sinnhaftigkeit des kollektiv geübten Kultes
aufgeworfen, eine Frage, die sich bereits im Koran stellte und
damals, den obwaltenden Umständen gemäß, mit dem Hinweis auf den
kämpferischen Einsatz auf dem Pfade Gottes beantwortet worden war.
Formation zweier Richtungen
Seit dem 10. Jahrhundert trennen sich dann allmählich die
sunna-Gelehrsamkeit und das Ringen um den individuellen Sinn der
Riten; für beide Ziele entwickeln sich bestimmte gesellschaftliche
Formationen - auf der einen Seite die hadith-Spezialisten, die
Kenner des durch Muhammad vermittelten Wissens (arab.: al-'ilm)
heilswichtiger, normativer Kenntnisse, die mit der
Rechtswissenschaft (arab.: al fiqh) in der Form der Rechtspflege und
in der Form des Erteilens von Fetwas den Muslimen nutzbar gemacht
werden; auf der anderen Seite die Ordensgemeinschaf ten der Sufis,
denen nur das in asketischer Lebenshaltung geübte ununterbrochene
Vergegenwärtigen des Vorbildes Muhammads, des gelebten `ilm mithin,
die Grundlage für ein von Heuchelei freies Handeln (arab.l: al'amal)
gewährleisten sollte. Die große Leistung der muslimischen
Gelehrten einerseits und Frommen andererseits seit dem ausgehenden
11. Jahrhundert besteht nun darin, ein Auseinanderdriften von
kollektiv geübtem Ritus und individueller Sinngebung der
Glaubenspraxis auf halbem Wege aufgehalten zu haben. Dies ist ein
verwickelter geschichtlicher und gesellschaftlicher Vorgang, der in
der Forschung noch keineswegs durchschaut, geschweige denn
hinreichend untersucht und dargestellt worden ist.
Ständig schwankende Übereinstimmung der
beiden Strömungen
Bis ins 16. Jahrhundert hinein künden ab und an auf tretende
schwerwiegende Spannungen zwischen zu sehr in das individualistische
Gotterleben abgleitenden Sufis und zu sehr sich in den Buchstaben
der Scharia verirrenden Rechtsgelehrten von der Schwere des hier
geschilderten Konflikts. In osmanischer Zeit scheint ein Ausgleich
weitgehend hergestellt zu sein: Es gibt kaum Gelehrte, die nicht
zugleich Mitglieder eines Sufi-Ordens sind. Erst in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts wird das Verhältnis zwischen den
beiden gesellschaftlichen Gegebenheiten wieder prekär. Die Ziele
des Sufitums werden als irrational getadelt, das Zurückbleiben der
islamischen Welt hinter dem Westen wird in polemischer Weise dem
Sufitum angelastet; es beginnt eine Periode flachsten islamischen
Gesetzesrationalismus, oberflächlichster
"Rationalisierung" der Riten, die erst in jüngster Zeit
durch Rückbesinnung auf das eigentliche Ziel des Sufitums ein wenig
gemildert wird.
Rationalität des Menschen bringt eine neue
Reinheit
Die Verkünder der in den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts
ins Uferlose wuchernden Literatur über die "islamische
Gesellschaft" werden nicht müde hervorzuheben, dass erst durch
die sich in der westlichen Technik zur Geltung bringende menschliche
Rationalität, die diese aber nicht im islamischen Sinne gebraucht,
zu sich selbst geführt werden kann - und mithin unter neuen
Vorzeichen `ilm und 'amal zur Harmonie verschmelzen. Denn, wie schon
Muhammad `Abduh (gest. 1905) lehrte, erst in der islamischen
Gesellschaft kommt der von Gott dem Menschen anerschaffene Verstand
zu seiner vollständigen Reife, indem er sich aus ureigenem Antriebe
dem göttlichen Willen fügt, den wahren Eingottglauben bekennend.
Ganz rein tritt nun der Mensch, der vom Götzenkult und
Wunderglauben befreit ist, seinem Schöpfer entgegen; nicht mehr
irregeleitet von falschen Autoritäten setzt er seine Ratio zur
Gestaltung der Welt nach den Geboten des Schöpfers ein (Annemarie
Schimmel (Hg.), Der Islam III - Islamische Kultur - Zeitgenössische
Strömungen Volksfrömmigkeit, Stuttgart 1990, 21-25).
Abkehr von der Muhammad-Spiritualität
Die sogenannte Muhammad-Spiritualität, die im Sunnitentum über
Jahrhunderte hinweg die Gewissheit des Gelingens der fruchtbaren
Verschmelzung von Wissen und Handeln verbürgte, ist bei `Abduh, wie
schon angedeutet, nicht mehr im Spiel; wie in der bewunderten und
zugleich verabscheuten westlichen Zivilisation kann die befreite
Ratio der Festlegung auf jegliche Spiritualität entbehren. Die
Durchdringung und Gestaltung des Diesseits, jene große Aufgabe des
Verstandes, wird somit gelingen; freilich nur, und das ist der
entscheidende Unterschied zur westlichen Denkweise, wenn der
Verstand sich dem göttlichen Gesetz unterwirft, das nach der
Überzeugung nicht nur `Abduhs ganz mit den Bestrebungen eines
freien Verstandes konform geht.
Rückkehr zum alten Gedankengut nach Ende der
Kolonialzeit
Mit der Auflösung des britischen und französischen
Kolonialreiches in den sechziger Jahren und mit der Zurückdrängung
des politischen Einflusses dieser beiden Mächte auf die arabische
Welt - Vorgänge, für die vor allem Gamal `Abd an-Nasir steht -
gewann dieses aus dem späten 19. Jahrhundert stammende Gedankengut
eine gesteigerte Anziehungskraft. Es schien einen Gegenentwurf zu
den Kolonialmächten, unter denen man gelitten hatte, zu verheißen,
ja ein Gegenprogramm, das die eigene Überlieferung in
überraschender Weise aufwertete: Es versprach dazu auch, alles zu
überbieten, worin die Macht der Fremden gegründet hatte - und das
nicht nur graduell, sondern auch qualitativ. Denn alle Mängel und
Missstände müssten aus einer Gesellschaft, aus einer Gemeinschaft
von Menschen verschwinden, in der die Ratio wahrhaft zu sich selbst
gefunden hatte. - So war die Ära `Abd an-Nasirs, die wir in der
Regel nur unter dem Blickwinkel des Ost-West-Konfliktes und der
Hinwendung der arabischen Länder zum sozialistischen Lager
wahrnehmen, in Wirklichkeit die große Zeit muslimischer
Gesellschaftsentwürfe, deren Pathos uns bisweilen weltfremd, ja
unerträglich anmutet, doch seither nicht nur die Begeisterung und
die Hoffnungen weiter Kreise in der islamischen Welt nährte,
sondern auch ernstzunehmende politische Folgen zeitigte.
Entwicklung hin zu einer neuen Gesellschaft mit
islamischem Recht
Belege für den lebhaften Wunsch der "Vereinten Arabischen
Republik", auf der Grundlage des Islams eine neue Gesellschaft
aufzubauen, stellen die Initiativen zur Schaffung einer
eigenständigen, von den Anleihen am europäischen Recht gereinigten
Gesetzgebung dar. Sie griffen im wesentlichen auf die Scharia
zurück und setzten zunächst eine Sichtung des überlieferten
Materials und der theoretischen Konzepte in Gang, die die
islamischen Rechtsgelehrten schon seit dem frühen Mittelalter
entwickelt hatten. Schon 1955 war in Damaskus an der Universität
eine Fakultät für islamisches Recht gegründet worden, die einen
seit Beginn der fünfziger Jahre bestehenden Plan aufgriff und mit
der Verwirklichung eines ehrgeizigen Projektes begann: mit der
Schaffung einer Enzyklopädie des islamischen Rechts. Dieses Werk
sollte das gewaltige Quellenmaterial unter Berücksichtigung der
Lehren aller Rechtsschulen in alphabetisch geordneten Sachartikeln
verfügbar machen. Auf diese Weise könnte es dann dem modernen
Gesetzgeber dienlich sein.
Schaffung eines "Hohen Rates für
islamische Angelegenheiten"
Nach der Bildung der "Vereinten Arabischen Republik"
wurde dieses mittlerweile angelaufene Vorhaben weiter
vorangetrieben. Syrische und ägyptische Fachleute bildeten 1960
einen "Hohen Rat für islamische Angelegenheiten", der
einen eigenen Ausschuss mit der Leitung der Arbeiten an der
Enzyklopädie beauftragte, deren erster Band 1963 erschien - damals
noch mit Abd an-Nasirs Namen im Titel (Mausu'at Gamal `Abd an-Nasir
lil-fiqh al islami, Bd. l, Kairo 1963, Einleitung, 58 f). Inzwischen
ist das Werk auf über 20 Bände angewachsen. Über zahlreiche
Gebiete des islamischen Rechts kann sich der Benutzer nun sehr
einfach unterrichten, denn ausführlich wird in den Artikeln nicht
nur die Materie selber, sondern auch die geschichtliche Entwicklung
und die zum Teil recht unterschiedliche Behandlung der betreffenden
Frage durch die einzelnen Rechtsschulen dargelegt.
Scharia als Basis der Gesetzgebung
Der nächste Schritt erfolgte 1966. Der eben erwähnte "Hohe
Rat für islamische Angelegenheiten" gründete einen weiteren
Ausschuss, der sich mit der "Offenlegung der Prinzipien der
Scharia" befassen sollte, damit diese, wie es im
Gründungsdokument heißt, das Fundament der Gesetzgebung werde.
Hier ging es, anders als in der Enzyklopädie, vor allem um die
Theorie der Scharia, um die Methodik, ihre Forderungen und
Wertvorstellungen mit einer sich wandelnden Welt in Einklang zu
bringen. Auch diese Arbeit knüpfte an die Erkenntnisse der
mittelalterlichen islamischen Rechtswissenschaft an. Prinzipien wie
etwa das Wohl des Gemeinwesens oder die aus den Einzelbestimmungen
deduktiv zu erschließenden Absichten des Gesetzgebers, also Gottes
selbst, bildeten wichtige Themen der Untersuchungen (Al-figh
al-islami - asa.s at-tasri, herausgegeben von AI-Maglis al-a'la
lis-su'un al-islami-ja, Kairo 1971, 3-9). In jedem Fall freilich war
die Argumentation, mit der die Mitglieder dieses Ausschusses die
Probleme der Schaffung eines zeitgenössischen Scharia-Rechts
angingen, von der Annahme geleitet, es habe eine ideale Gemeinde der
Gläubigen in der Frühzeit des Islams gegeben, und die modernen
Gesetze müssten jene Verhältnisse wieder ins Auge fassen, um sie
wiederherzustellen. Ist erst die islamische Gesellschaft
wiederverwirklicht, dann werden Wissen und Handeln wieder zu einer
Harmonie gebracht sein, die keinerlei Misshelligkeiten, keinerlei
betrügerische Machenschaf ten mehr bedingen kann.
Durch islamisches Recht zum Ideal der
islamischen Gesellschaft
Das Schlagwort von der idealen islamischen Gesellschaft fasst
mithin alle die Hoffnungen zusammen, die sich an die langfristige,
gewaltige Arbeit der Schaffung eines durch und durch islamischen
Rechts knüpfen. Zu den vielen Publikationen, die solche Hoffnungen
nährten, gehört das 1963 in Kairo gedruckte Buch "Die
Elemente und Werte der islamischen Gesellschaft" von Ibrahim `Iwadain.
Er wiederholt am Beginn seiner Darlegungen die schon gestreiften
Gedanken Muhammad `Abduhs, denen zufolge die Religion das einzige
und wahre Licht sei, das den Menschen die ihm gemäße Lebensweise
finden lassen als die Menschheit den nötigen Reifegrad dafür
erreicht hatte, sei der Islam entstanden, der die Grundideen aller
Offenbarungsreligionen zusammenfasse, jedoch viel weitere Ziele
ansteuere, als jene es tun. Denn anders als alle Religionen zuvor,
die nur die Liebe der Individuen untereinander gepredigt hätten,
wolle der Islam die ideale Gesellschaft formen, eine Gesellschaft,
die den ganzen Erdball umspannen müsse. Der Islam bildet das
Individuum neu und macht es bereit, Glied dieser Weltgesellschaft zu
werden (Ibrahim `Iwadain, Al-Mugtama' al-islami - Muqauwimatu-hu
wa-qi jamuhu, Kairo 1963, 8f).
Eine durch die Religion bestimmte Gesellschaft
Dies bedeutet für den Autor nun aber gerade nicht, sich den
zivilisatorischen Bedingungen zu unterwerfen, die das scheinbar
siegreiche gesellschaftliche Modell des Westens überall auf der
Erde hervorgebracht hat. Was die Gesellschaft eine, sei das bewusste
Wollen, das Befolgen jener Impulse, die einer heilen natürlichen
Veranlagung (arab.: al-fitra as-salima) entspringen. Mit dieser
Vorausbedingung ist bereits der Grundstein für eine Verwerfung
jeglichen Modells einer durch andere als religiöse Faktoren
geeinten Gesellschaft gelegt. Denn mit dem Begriff der natürlichen
Veranlagung gewinnt der Autor den Anschluss an die Redeweise des
Korans, wo es in Sure 30, Vers 30 heißt: "Richte dein Antlitz
als Gottsucher auf die (wahre) Religion. Dies ist die Veranlagung,
mit der Gott die Menschen geschaffen hat. Die Veranlagung, mit der
Gott die Menschen geschaffen hat, kann man nicht austauschen ...
"
Bezeichnung nicht-religiöser Gesellschaften
als unvollkommen
Es gibt Gesellschaften, denen eine andere Lebensmitte als diese
"heile natürliche Veranlagung" eigen ist - beispielsweise
ein bestimmtes Siedlungsgebiet, eine gemeinsame Sprache, gemeinsame
Interessen, Wünsche, Ziele - alles dies kann, so schreibt `Iwadain,
nur in höchst unvollkommener Weise eine Gesellschaft
zusammenhalten, es sind ,, künstliche Faktoren ", die ihre
Wirkung verlieren werden (Ibrahim `Iwadain, Al-Mugtama' al-islami -
Muqauwimatu-hu wa-qi jamuhu, Kairo 1963, 13-19) Allein in der
islamischen Gesellschaft, so müssen wir folgern, findet der Mensch
zu sich selbst, zu der ihm von Gott anerschaffenen Bestimmtheit zum
Schöpfer hin. Alle geographischen, rassischen, politischen,
wirtschaftlichen Faktoren, nicht zuletzt auch die
Klassenzugehörigkeit sind in dieser Sicht nichts weiter als zu
überwindende Merkmale einer von unreifen Menschen gebildeten
Gesellschaft, sind Kennzeichen eines sich selbst entfremdeten
Daseins, dessen Leiden der Islam allein heilen kann (Ebd., 20).
Kein Unterschied zwischen Freiheit und
Gleichheit
Im Eingottglauben islamischer Art liegen für `Iwadain die
vollkommene Freiheit und die völlige Gleichheit aller Menschen
begründet. Werden im Westen Freiheit und Gleichheit als zwei
Gegebenheiten betrachtet, die einander ausschließen, sobald sie je
für sich mit letzter Entschlossenheit angestrebt werden, so ist
für `Iwadain ein solcher Widerspruch zwischen den beiden gar nicht
erkennbar. Der Bezugspunkt beider liegt vielmehr außerhalb eines
jeden Menschen, in Gott, dem Schöpfer. Vor ihm sind alle Geschöpfe
gleich; denn sie nehmen ihm gegenüber den Status der Knechtschaft
ein. "(Gott) ist es, der sie alle davor bewahrt, Knechte von
Knechten zu sein", schreibt `Iwadain, eine Feststellung, aus
der im zeitgenössischen islamischen Schrifttum stets die These von
der Freiheit des Muslims abgeleitet wird. Die wahre Gleichheit und
Freiheit, die es nur im Islam gibt, werden den Menschen aber nicht
ohne ihr Zutun zuteil, betont `Iwadain und spricht damit das
subversive Potential seiner Utopie an.
Harmonie der islamischen Werte mit der Natur
des Menschen
Die Werte der neuen, rein islamischen Gesellschaft - es wird
übrigens im islamischen Schrifttum nicht vom "Staat
Gottes" oder ähnlichem gesprochen -, die Werte also, denen
sich die Gesellschaft verpflichtet weiß, harmonisieren völlig mit
der natürlichen Veranlagung des Menschen. Ehe diese ganz befreit
ist, muss die Seele von jedem Schmutz, der sich abgelagert hat,
gereinigt werden, und die einmal erzielte Lauterkeit muss dann
erhalten bleiben. Diesem Ziel dienen in erster Linie die kultischen
Handlungen, z.B. das rituelle Gebet. Danach wird die Erziehung zu
Verantwortung, Freiheit und Solidarität gelingen, mithin zu einem
Verhalten, das man heute demokratisch nennt (Ibrahim `Iwadain,
Al-Mugtama' al-islami - Muqauwimatu-hu wa-qi jamuhu, Kairo 1963,
58). Die kultischen Handlungen, die Verantwortung für sich und das
Gemeinwesen, die ständige Beratschlagung über die Belange des
gemeinsamen Lebens und die Kooperation, dies sind laut `Iwadain die
erhabensten Werte der islamischen Gesellschaft.
Gemeinschaft steht im Vordergrund
Dass die islamische Gesellschaft nicht vom Individuum her gedacht
ist, wird sogleich sichtbar, wenn `Iwadain die Funktionsbreite der
Solidarität beschreibt. Der erste Bereich erfasst die Beziehung des
Einzelmenschen zu sich selbst. Seine Empfindsamkeit und
Empfänglichkeit gegenüber der Umwelt sollen geweckt werden; er
soll eine freie Persönlichkeit ausbilden, was soviel bedeutet wie:
"Er soll ein Ziegelstein im Bau der Gesellschaft sein."
Diese Solidarität mit sich selbst begründet mithin keine
Individualität, der aufgegeben wäre, in eigener Verantwortung den
Weg in die Gemeinschaft zu suchen, ohne sich je ganz zu verlieren;
sie ist vielmehr " nur dem Äußeren nach individuell, ihr
eigentliches Wesen bestätigt jedoch, dass es sich um eine auf die
Gesellschaft bezogene Solidarität in dem weiten Sinn handelt, den
der Islam meint" (Ibrahim `Iwadain, Al-Mugtama' al-islami -
Muqauwimatu-hu wa-qi jamuhu, Kairo 1963, 128). Ist schon der erste
Funktionsbereich von dieser Art, so bringen die übrigen zwei, die
Familie und schließlich die Gesamtheit der Muslime, den
kollektivistischen Charakter der "natürlichen
Veranlagung" vollends zur Geltung (Ebd., 129ff).
Fehlen einer herrschaftsausübenden Institution
Welches sind die kennzeichnenden Merkmale der zeitgenössischen
Utopie des idealen islamischen Gemeinwesens und welche Beziehungen
bestehen zur realen Politik? Was fehlt ist etwa eine Vorstellung von
den Institutionen, die die Herrschaft ausüben sollen. Wir können
sagen, dass der islamische Staat im Idealfall ganz in der
Gesellschaft aufgeht. Hiermit wird ein charakteristisches Merkmal
des islamischen politischen Denkens, das ihm schon seit seiner
Entstehung anhaftet, bis in die Gegenwart durchgehalten. Behauptete
der Kalif in den politischen Ordnungsvorstellungen des Mittelalters
noch die Funktion desjenigen, der die faktische, in ihren realen
Auswirkungen nicht analysierte Macht legitimierte bzw. der dafür
sorgte, dass das Ziel der Machtausübung die Befolgung des
prophetischen Vorbilds war, so stößt man nunmehr auf eine
Leerstelle Diese Leerstelle besetzen in der Regel anonyme Träger
von nicht näher bestimmten Herrschaftsfunktionen, denen man zur
Pflicht macht, sich mit den Kennern der Scharia zu beraten. Schon im
Mittelalter, etwa bei al-Guwaini (gest. 1085), war die Art, wie
geherrscht wurde, gleichgültig, solange nur nachgewiesen wurde,
dass die Macht der Verwirklichung islamischer Ziele diente (Tilman
Nagel, Die Festung des Glaubens, München 1988, 272 ff). Auch die
moderne islamische Utopie kann sich im Prinzip mit jeglicher Form
von Herrschaft verbinden; die Forderung nach Beratschlagung kann
ebenso gut durch einen Revolutionsrat wie durch ein Gremium von
Scharia-Kennern oder durch ein Parlament eingelöst werden.
Verbindung zu Elementen westlichen Gedankengut
Das Modell der islamischen Gesellschaft lässt sich mit den
unterschiedlichsten Versatzstücken der westlichen politischen
Zivilisation verbinden. Wie schon erwähnt, eröffnet die Lehre von
der natürlichen Veranlagung des Menschen und deren Befreiung im
Islam die Möglichkeit, das gesamte unter dem Schlagwort Verfremdung
geläufige marxistisch geprägte Ideengut aufzugreifen und polemisch
gegen die westliche Zivilisation einzusetzen - bis hin zur
Legitimierung revolutionärer Handlungen. In geradezu virtuoser
Weise hat dies `Ali Sari'ati, einer der geistigen Wegbereiter des
iranischen Umsturzes, in seinen Propagandapredigten geleistet. Ihm
gelang es auch, die im Schiitentum noch latente Idee von der
Kampfgemeinschaft der wahren Gläubigen wiederzubeleben, die gegen
die lauen Muslime zu Felde ziehen.
Eingliederung der Endzeitszenerie in die Schia
Wie im Sunnitentum schon seit eh und je, ist hiermit auch in der
Schia die Endzeit in ein andauerndes Jetzt verwandelt worden; die
eschatologischen Topoi, mit denen nach Muhammads Tod die Idee der
Kampfgemeinschaft der Gläubigen aufgeladen worden war,
rechtfertigen einen Einsatz, dessen Ergebnis die diesseitigen
Verhältnisse auf unbestimmte Zeit formen soll. Damit erreicht
zumindest die politische, also die im Iran herrschende Zwölferschia
wieder jenes Stadium der Einbeziehung der Endzeitszenerie in das
natürliche, alltägliche Geschehen, das wir schon als
kennzeichnendes Merkmal des religiös-politischen Lebenswerkes des
Propheten herausgestellt haben und das das Sunnitentum in der Idee
der Einheit von islamischem Wissen und Handeln auf den Begriff
brachte; untermauert wird es seit dem hohen Mittelalter noch von der
Muhammad-Spiritualität, nunmehr wurzelt es zusätzlich in der
Ideologie von der Befreiung der natürlichen Veranlagung.
Nähe zum Sozialismus
Zu den wichtigsten politischen Strömungen, die sich mit der
Lehre von der idealen islamischen Gesellschaft wenigstens zum Teil
verbanden, gehört der Sozialismus; Solidarität und
Gemeinschaftsbezogenheit der Gedanken und Handlungen des wahren
islamischen Menschen legen diese Affinität nahe.
Anziehungskraft der islamischen
Gesellschaftsutopie auf europäische Intellektuelle
Ganz zum Schluss sei noch kurz auf die Anziehungskraft der
islamischen Gesellschaftsutopie auf manche europäische
Intellektuelle eingegangen. Sie fühlen sich, wie der einstige
deutsche Diplomat Murad Hofmann in seinen Schriften bezeugt, meist
von der Verheißung der Aufhebung der Verfremdung angesprochen.
Hofmann verbindet das überschwengliche Lob für diese Seite des
Islams, die es ihm ermögliche, ohne Bevormundung durch eine
Heilsinstitution sein Verhältnis zum Schöpfer zu regeln, mit den
heute gängigen antikirchlichen Ressentiments. Ihm verheißt der
Islam die Befreiung des Individuums (Murad W. Hofmann: Jaumi jat
almani muslim, ins Arabische übertragen von `Abbas Rusdi Al' Ammari,
Kairo 1993, 73, 119 f.) - ein vermutlich auf Unkenntnis beruhendes
Missverständnis, wie wir nach allem, was dargelegt wurde,
feststellen müssen.
Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn
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