Was bedeutet uns Erez Israel?
Von Christoph Schönborn (Biografie)
Unumgänglich ist die Tatsache - und für den jüdischen wie den
christlichen Glauben handelt es sich um eine Tatsache - , dass es
einmal und nur einmal in der Menschheitsgeschichte ein Land gab und
gibt, das Gott für immer als "sein Erbteil" (1 Sam
26,19), sein "Eigentum" (Jer 2,7) in Besitz genommen hat
und das er dem Volk, das er sich zum "Eigentumsvolk"
erwählt hat, als Gabe anvertraut hat (Deut 1,36). In diesem
"guten Land" (Ex 3,8) besteht seit 1948 der Staat Israel.
Der Staat Israel ist nicht identisch mit Erez Israel, und doch wird
kaum jemand bezweifeln, dass die Gründung dieses Staates etwas mit
der biblischen Landverheißung zu tun hat.
Die Frage "Was bedeutet uns Erez Israel?" ist
unweigerlich mit der Frage verbunden: "Was bedeutet uns der
Staat Israel?" Diese zweite Frage müsste, aufs erste gesehen,
leicht zu beantworten sein: Israel ist ein Staat unter anderen, mit
seinen Rechten und Pflichten, seiner Geschichte, seinen Sorgen und
Freuden. Und doch ist Israel nicht einfach ein Staat unter anderen,
denn da ist die Verheißung Gottes, Er selbst werde sein Volk aus
allen Völkern sammeln und es heimbringen und es wieder wohnen
lassen im Land, das Gottes Eigentum ist, und in Jerusalem, dem Ort
seiner Ruhe, und auf dem Zion, seinem heiligen Berg; und da ist die
Gewissheit in vielen Herzen, dass die Gründung des Staates Israel
etwas mit dieser Verheißung zu tun hat, auch wenn dieses
"Etwas" nicht genau benannt werden kann, auch wenn diese
Verheißung noch bei weitem nicht voll verwirklicht ist.
Heimat der christlichen Glaubensgemeinschaft
Warum aber: "Was bedeutet uns Erez Israel?" Dieses uns
ist bewusst offen gehalten. Es betrifft uns, die wir hier in
Österreich Heimat gefunden oder vorgefunden haben. Es betrifft aber
auch jene Glaubensgemeinschaft, der ich angehöre, die Christen.
Denn für sie ist dieses Land, ist Erez Israel in einer ganz eigenen
Weise auch Heimat. Von klein auf haben wir von Nazaret und Betlehem
gehört und von Jerusalem, von den Orten, die mit Jesus von Nazaret
zusammenhängen, von dem wir glauben, dass er der Messias, Christus
ist. Was das freilich für das Verständnis von Erez Israel in
christlicher Sicht bedeutet, ist noch bei weitem nicht genügend
geklärt. Seit 100 Jahren ist hier vieles in Bewegung geraten. Die
zionistische Bewegung konnte nicht ohne Auswirkung auf das
theologische Nachdenken über die Bedeutung der biblischen
Landverheißung für die Christen bleiben. Seit dem unfasslichen
Geschehen der Schoah hat dieses Nachdenken eine Dringlichkeit
erhalten, die die Frage des Verhältnisses der Christen zu den Juden
in ein ganz neues Licht stellt. Das II. Vatikanum hat hier
entschiedene Schritte getan. Zahlreiche theologische Arbeiten, viele
Begegnungen und Gespräche haben seither die begonnene Neubesinnung
weitergeführt. In den Rahmen dieses Bemühens fügen sich auch die
folgenden, sehr bruchstückhaften Überlegungen ein.
Das meistgelesene Buch der Welt
Ich wähle einen auf den ersten Blick vielleicht überraschend
gewählten Zugang zum Thema: Vor einigen Tagen saß ich in der Bahn
mir gegenüber ein junger Asiate, vermutlich ein Koreaner. Nach
einiger Zeit zog er aus seinem Koffer eine Bibel hervor und begann
darin andächtig zu lesen. Ich sah, er las im 1. Buch der Könige.
In meinen Erwägungen über den heutigen Vortrag kam mir der
Gedanke: Wie kommt dieser Asiate dazu, die Geschichte der Könige
eines kleinen vorderasiatischen Volkes als ein heiliges Buch, als
sein heiliges Buch zu lesen? Wie komme ich, ein Nichtjude dazu, in
meinem täglichen Breviergebet zu beten: "An den Strömen von
Babel, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten...Die
Zunge soll mir am Gaumen kleben, wenn ich an dich nicht mehr denke,
wenn ich Jerusalem nicht zu meiner höchsten Freude erhebe" (Ps
137, 1-6)? Wie kommt es, dass heute überall in der Welt die Bibel
Israels gelesen wird, dass sie, zusammen mit der christlichen, das
am meisten übersetzte, am meisten verbreitete, am meisten gelesene
Buch der Welt ist?
Markion produziert "rein christliche
Bibel" im Jahre 144
Im Jahre 144 nach Christus wurde in Rom ein Mann, der Markion
hieß, aus der christlichen Gemeinde ausgeschlossen. Der Grund für
seine Exkommunikation: Er hatte eine "rein christliche
Bibel" produziert, ohne das "Alte Testament" und mit
einem von allen, wie er meinte, jüdischen Elementen gereinigten
Neuen Testament. Markions Lehre war klar: Für ihn war der Gott der
Juden, der Schöpfer dieser bösen Welt, ein böser Gott. Er wollte
den unbekannten Gott lehren, den Jesus geoffenbart habe, der reine
Liebe sei, der nicht der jüdische Gesetzesgott sei. Der Kirche und
ihren Lehren warf er vor, sie seien "pseudoapostoli et Judaice
evangelizatores" (Adolf von Harnack, Markion, TU 45, Leipzig
1924, Seite 197). Er wollte eine strikte Trennung von Gesetz und
Evangelium und beschuldigte die Kirche, sie betrachte Gesetz und
Evangelium und somit Altes und Neues Testament als Einheit (ebd.
198). Man kann die Tragweite dieser Exkommunikation kaum
überschätzen: Markion gründete eine Gegenkirche, die noch bis ins
5. Jahrhundert bestand. Die katholische Kirche ging einen anderen
Weg. Sie sagte ja zum Alten Testament. Und dieses Ja bedeutete, dass
die Bibel Israels mit der christlichen Mission in alle Welt
hinausging, weit über die Kreise der jüdischen Diaspora hinaus, zu
allen Völkern, in allen Sprachen.
Verbreitung der Bibel Israels durch die
christliche Mission
Theodor Herzl schrieb 1897 in einer spitzen Polemik gegen den
deutschen Rabbinerrat, der seinen "Judenstaat" heftig
abgelehnt und von einer "jüdischen Mission" auf Erden
gesprochen hatte, den überraschenden Satz: "Wenn es eine
jüdische Mission gibt, so war es das Christentum" (Amos Elon,
Morgen in Jerusalem. Theodor Herzl. Sein Leben und Werk,
WienMünchen-Zürich 1975, Seite 223). Wie immer Herzl diesen Satz
gemeint hat, er spricht die Tatsache an, um die es hier geht: Die
christliche Mission hat die Bibel Israels in alle Welt
hinausgetragen, nicht als irgendein historisches Dokument, sondern
als bindende Offenbarung Gottes, die allen Menschen zugedacht ist.
Die Entscheidung gegen Markion, das Ja zum Alten Bund als
verbindlicher, bleibender gültiger Offenbarung, bedeutet, dass
Menschen aus allen Völkern und Stämmen, Sprachen und Nationen die
Bibel als sie betreffendes, für sie gültiges Buch empfingen.
"Und so kam es, dass die Torah, die Propheten und die anderen
Schriften sich in der ganzen Welt verbreitet haben und als Wort
Gottes aufgenommen wurden... Wo die Bibel als inspiriertes Wort
angenommen wird, wird stets das jüdische Volk und seine Geschichte
als der grundlegende Bezugspunkt der heiligen Geschichte
vorgestellt, in die jedes der Völker in Christus eingeladen ist.
Deshalb wird auch dort, wo kein Jude lebt, aber wo die Bibel
gegenwärtig ist, von den Juden die Rede sein" (J.M. Lustiger,
"Let my people go", in: NRT 115 (1993), 481-495; hier
483f.).
Die Geschichte Israels wird zur Geschichte der
Völker
Die Konsequenzen, die Wege, aber auch die Irrwege, die aus diesem
wahrhaft weltgeschichtlichen Vorgang folgten und immer noch folgen,
gilt es jetzt wenigstens in groben Umrissen zu skizzieren. Die erste
und wohl am tiefsten in das Leben der Völker, die die Bibel als
Wort Gottes annehmen, eingreifende Konsequenz besteht darin, dass
die Geschichte Israels zur Geschichte aller Welt werden soll (vgl.
J. Ratzinger, Jesus von Nazareth, Israel und die Christen, in: ders.,
Evangelium, Katechese, Katechismus, München-Zürich-Wien 1995,
63-83). Wo immer die Bibel angenommen wird, dort treten Menschen,
Völker, Kulturen, Sprachen ein in die Geschichte des Volkes Gottes,
dort wird Israels Geschichte zur ihren. Was Jahr für Jahr im
jüdischen Seder gesagt wird, dass nämlich ein jeder der
Teilnehmenden sich selber als einen betrachten solle, der aus
Ägypten mit auszieht (gemäß der Tradition, die sagt: "Von
Geschlecht zu Geschlecht ist jeder verpflichtet, sich selbst
anzusehen, als sei er aus Ägypten gezogen" mPes X,5; vgl. bBer
12a-13a), das wird für alle wahr, die durch die Annahme des Wortes
Gottes zu Miterben der Verheil3ung geworden sind.
Auch schwarze Sklaven identifizierten sich mit
dem jüdischen Volk
Wie tief das in das Selbstvertrauen der Völker eindringen
konnte, ihr Leben und Denken, Fühlen und Handeln bestimmt hat,
dafür sollen im Folgenden einige Beispiele und Hinweise gegeben
werden. Vorweg sei ein besonders eindrückliches Beispiel genannt,
auf das Kardinal Lustiger in seinem schon zitierten Vortrag hinwies:
das Zeugnis der Schwarzen in der "Neuen Welt". Die
schwarzen Sklaven, die ihrer Würde, ihrer Kulturen, ihres Landes
beraubt wurden, mussten ihrer Lage einen Ausdruck, eine Deutung
geben. Sie fanden diese durch den christlichen Glauben, der es ihnen
möglich machte, sich selber und ihr Geschick mit dem jüdischen
Volk zu identifizieren, das im "Sklavenhaus Ägypten"
litt. Diese Identifikation erlaubte ihnen zu überleben und zu
leben. Ihr Glaube wurde zur Quelle ihrer Befreiung. Als Christen
verstanden sie sich auch als Bne Israel, als Söhne Israels. Von
daher stammen wohl auch die alten Verbindungen zwischen Schwarzen
und Juden in Amerika.
Osternachtsfeier als Ausdruck gemeinsamer
Wurzeln
Doch bleiben wir nicht bei diesem besonders auffallenden
Beispiel. Die Identifikation mit der Geschichte des Volkes Israel
reicht bis an die Wurzeln der christlichen Geschichte. Selten kommt
dies so stark zum Ausdruck wie in der christlichen Osternachtsfeier,
in der überall auf Erden nicht nur der Nacht gedacht wird, in der
Christus aus dem Grab erstand, sondern auch der Befreiung aus
Ägypten: "Dies ist die Nacht," so singt das "Exultet",
das Lob der Osterkerze, "die unsere Väter, die Söhne Israels,
aus Ägypten befreit und auf trockenem Pfad durch die Fluten des
Roten Meeres geführt hat". So heißt es im Gebet nach der
Verlesung des Berichts vom Auszug aus Ägypten: "Gott,...gib,
dass alle Menschen Kinder Abrahams werden und zur Würde des
auserwählten Volkes gelangen" und: "Gib, dass alle
Menschen durch den Glauben an der Würde Israels (an der israelitica
dignitas) teilhaben..."
Ungerechtfertige Übernahme der israelischen
Geschichte?
Was damals mit Israel geschah, wird in der Osternacht von allen,
die aus den Völkern in Verheißungen Israels eingetreten sind,
jetzt auch als ihre eigene Befreiung gefeiert. Hier mag sich
Unbehagen melden. Ist eine solche Sicht nicht eine widerrechtliche
Inbesitznahme? Wird hier nicht versucht, dem jüdischen Volk seine
eigene Geschichte zu rauben, indem sie spiritualisiert und
universalisiert wird? Ist dann nicht eine der Konsequenzen, dass
auch die Landverheißung und die Hoffnung auf die Heimkehr nach Erez
Israel spiritualisiert wird? Denn der Exodus führte ins Gelobte
Land, dieses war sein Ziel. Was aber bedeutet die Landverheißung,
wenn die Völker durch das Evangelium, mit der Bibel, diese
Verheißung erhalten? Was bedeutet Erez Israel dann? Diese Frage
weist aufeine lange, schmerzensreiche, schuldbeladene Geschichte
hin, die nicht zu Ende ist, in der aber neue, hoffnungsvolle Seiten
aufgeschlagen wurden. Ehe wir eine Antwort zu formulieren versuchen,
muss ich nochmals, scheinbar, einen weiten Bogen um die Kernfrage
schlagen. Es soll kein Umweg sein.
Das erwählte Volk Israels
Was in der christlichen Liturgie geschieht, was mit dem
Evangelium von der Geschichte des einen Volkes Gottes zur Geschichte
vieler Völker geworden ist, das hat seine tiefen Wurzeln in der
Sendung des jüdischen Volkes selbst. Denn ob das Volk Israel es
will oder nicht, das Joch der Erwählung hat es in die Mitte der
Geschichte, in einen universalen Auftrag hineingestellt, der allen
Völkern gilt, seit Gott zu unserem Vater Abraham gesagt hat:
"Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen
erlangen" (Gen 12,3). Eine Prophetie aus dem Buch Jesaja
beleuchtet diese universale Sendung: "Am Ende der Tage wird es
geschehen: Der Berg mit dem Haus des Herrn steht fest gegründet als
höchster der Berge; er überragt alle Hügel. Zu ihm strömen alle
Völker. Viele Nationen machen sich auf den Weg. Sie sagen: Kommt,
wir ziehen hinauf zum Berg des Herrn und zum Haus des Gottes Jakobs.
Er zeige uns seine Wege, auf seinen Pfaden wollen wir gehen. Denn
von Zion kommt die Weisung des Herrn, aus Jerusalem sein Wort. Er
spricht Recht im Streit der Völker, er weist viele Nationen
zurecht. Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und
Winzermesser aus ihren Lanzen" (Jes 2,2-4).
De Sion exibit lex
Diese Prophetie ist leider noch nicht voll erfüllt. Immer noch
zieht man, Volk gegen Volk, das Schwert. Doch eines ist zum Teil
schon Wirklichkeit geworden: De Sion exibit lex, "von Zion
kommt die Weisung des Herrn". Wenn auch die große
"Völkerwallfahrt" zum Berg des Herrn nicht vollendet ist,
so ist doch bereits vom Zion sein Gesetz zu allen Völkern
ausgegangen. Nochmals: Wir können die Bedeutung der
antimarkionitischen Entscheidung des frühen Christentums nicht hoch
genug ansetzen. Denn was bedeutet es für die Völker, die das
Evangelium angenommen haben, dass sie mit ihm auch die Tora und die
Propheten und die anderen Schriften erhalten haben? Dazu einige mehr
stichwortartige Hinweise.
Bibel als Basis europäischen Denkens
Jahrhunderte lang hat Europa mit der Bibel lesen gelernt, nicht
nur mit den Evangelien, sondern ebenso intensiv mit den Psalmen, mit
der Tora, den Propheten, den Weisheitsschriften. Mir ist nicht
bekannt, wie weit es jemals zum Gegenstand wissenschaftlicher
Untersuchungen gemacht wurde, dass die Völker Europas in der Welt
der Bibel ihre "education sentimentale" erhielten. Die
Bibel ist ja nicht einfach ein Geschichtenbuch, ein literarisches
Dokument, ein historisches Zeugnis. Sie ist das Lebensbuch, das wie
kein anderes die Seelenlandschaft Europas - und inzwischen auch
weiterer Teile der ganzen Erde - geformt hat.
Bilder der Seele aus der Bibel
In der Bibel finden die Völker die großen, prägenden
Identifikationsgestalten: Abraham, den Vater aller Glaubenden;
Isaak, seinen Sohn, den er zu opfern bereit war; Jakob, den
listenreichen, der nicht weniger als Odysseus die Phantasie, das
Vorstellen und Fühlen geprägt hat; unvergleichlich die
Josefsgeschichte und die des Königs David; das Bild des Dulders
Hiob, das des Daniel in der Löwengrube und viele andere: Sie alle
haben die Bilder der Seele geformt, mit denen Menschen aus allen
Völkern und Sprachen ihre eigene Lebensgeschichte zu deuten
vermochten, ihrem Schmerz einen Namen geben konnten. Die Sprachen
Europas sind tief von ihrer biblischen "Muttersprache"
geprägt, mit ihren Worten und Bildern haben sie Gestalt angenommen.
Aus der Bibel haben Generationen ihr affektives, sittliches,
geistliches Leben genährt. Das Hohelied hat nicht weniger als Ovids
Liebeskunst die Bilder der Liebe geprägt.
Psychoanalyse wäre von der Bibel ableitbar
Es ist tragisch, dass der atheistische Jude Sigmund Freud den
"Familienroman", die seelische Konstellation des
Verhältnisses von Vater, Mutter und Kind, nicht an biblischen
Gestalten orientiert hat, sondern am griechischen Mythos des
Oedipus, und dass er, in der Berggasse fast als Nachbar Theodor
Herzls wohnend, Moses, den Führer ins Gelobte Land, mit seinen
fragwürdigen Spekulationen quasi "umgebracht" hat (in
seiner Spätschrift "Der Mann Moses"). Wie anders sähe
die Psychoanalyse aus, hätte sie sich an den großen biblischen
Gestalten orientiert, an Abraham und seinem Sohn, an Tobit und Sara,
an König Davids Sünde und Reue!
Auch Königsgestalten wurden der Bibel
entnommen
Das Bild des Herrschers war in Europa lange Zeit von den
Königsgestalten des Alten Testaments geprägt. Nicht die
orientalischen Despoten, nicht die römischen Kaiser waren das
Vorbild, sondern David und Salomo. Im Alten Testament lernten die
christlichen Herrscher die Maßstäbe gerechter Herrschaft, im Alten
Testament wurde ihnen auch warnend vor Augen gestellt, wie tragisch
die Folgen von Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch aussehen.
Shakespeares Königsdramen sind nicht denkbar ohne die
Königsbücher der Bibel. Sie lesen sich wie deren Ausfaltung.
Alle Menschen sind gleichen Ursprungs
Mit der Bibel erhielten die Völker die sittliche Botschaft des
Volkes Gottes. Diese besteht gewiss im Dekalog, in den Mahnungen der
Propheten. Sie besteht aber allem zuvor in der grundlegenden
Botschaft von Gen 1,26-27: "Lasst uns Menschen machen als unser
Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des
Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die
ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land. Gott schuf also
den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als
Mann und Frau schuf er sie." Das kleine Volk Israel wurde zum
Träger und Boten der universalen Botschaft, dass die Menschen
wahrhaft eine Familie bilden, verwandt untereinander und verbunden
durch den gemeinsamen Ursprung im Stammelternpaar, gleicher Würde
voreinander durch den gemeinsamen Ursprung im Willen und Werk des
Schöpfers. Mit der Bibel ging diese Botschaft um die Welt, sie
wurde zur Grundlage dafür, dass allen Menschen die gleichen
Menschenrechte zuzuerkennen sind. Wie wenig selbstverständlich
dieser biblische Universalismus war und ist, kann man bei einem
Philosophen wie Kelsos nachlesen, der im 2. Jahrhundert Juden wie
Christen vorhält, die Idee eines gemeinsamen Ursprungs und daher
einer gleichen Würde aller Menschen sei widersinnig und "die
Sprache des Aufruhrs". Griechen und Barbaren seien eben nicht
auf gleicher Stufe. So hat sich wahrhaft die Prophetie des Jesaia
erfüllt: De Sion exibit lex, vom Zion geht Gottes Weisung aus an
alle Völker der Erde.
Das Vorbild des Tempel Salomons
Ein letztes Beispiel, das uns erneut zur Frage Erez Israel
zurückführt: Mit der Bibel ging das Bild des "Zeltes Gottes
unter den Menschen", des Tempels in Jerusalem hinaus zu allen
Völkern. Das Bild der Stadt Jerusalem, des Tempels, hat sich tief
in das Vorstellen und Denken, in das Gestalten und Bilden der
Völker eingeprägt, die die Bibel als Gottes Wort empfangen haben.
Kein Bauwerk hat die Baugeschichte Europas so sehr geprägt wie der
Tempel Salomons in Jerusalem wie er in der Vorstellung der
Jahrhunderte weiterlebte (vgl. dazu Paul von Naredi-Rainer, Salomons
Tempel und das Abendland. Monumentale Folgen historischer Irrtümer,
Köln 1994; Otto von Simson, Die gotische Kathedrale. Beiträge zu
ihrer Entstehung und Deutung, Darmstadt 1972, 59, 138t).
Loslösung von örtlichen Bezugspunkten
Was bedeuten diese vielfältigen Bezüge, diese 1000 Fäden, die
die Christenheit mit Jerusalem verbinden, mit dem Tempel, mit Erez
Israel? Gewiss, viele pilgern ins "Heilige Land", seit nun
bald 2000 Jahren, um dort selber die Spuren der Patriarchen, Davids,
Jesu und der Apostel zu verehren. Doch geht es ihnen um Erez Israel
im Sinne der biblischen Verheißung des Landes`? Hat das Land für
die Christen auch nur annähernd die Bedeutung bewahrt, die es in
den biblischen Verheißungen hat? Die christliche Mission hat zwar
die Tora, die Propheten und die anderen Schriften zu allen Völkern
hinausgetragen, aber vermittelt durch einen ganz bestimmten
Verstehensschlüssel: Professor Zwi Werblowsky von der Hebräischen
Universität hat das treffend formuliert: "Schon das Neue
Testament zeigt eine deutliche Tendenz zu dem, was man als
`Entterritorialisierung' des Heiligkeitsbegriffes bezeichnen
könnte, sowie die folgerichtige Auflösung örtlich festgelegter
Symbole. Nicht der Tempel und das Allerheiligste sind der
Mittelpunkt, sondern Christus; nicht die Heilige Stadt oder das
Heilige Land stellen den `Bezirk' der Heiligkeit dar, sondern die
neue Gemeinde, der Leib Christi" (Die Bedeutung Jerusalems für
Juden, Christen und Moslems, Broschüre, Jerusalem 1988, 6-7).
Christus ist überall
So kann für die christliche Tradition Jerusalem und das
"Heilige Land" in gewisser Weise überall sein, wo immer
Menschen ein christliches, gottgefälliges Leben führen. Diese
"Universalisierung" der Landverheißung dürfte sich schon
in den Seligpreisungen Jesu ankündigen, wenn er sagt: "Selig,
die keine Gewalt anwenden [oder: selig die Sanftmütigen], denn sie
werden das Land erben" (Mt 5,5). Ist das eine
"Verfälschung" der ursprünglichen Landverheißung? Ja,
mancher könnte es als eine Art "Usurpation" empfinden,
dass die jüdische Hoffnung auf Erez Israel von der christlichen
Tradition "spiritualisiert" wurde, und dies mit dem
Anspruch, das "wahre Israel" darzustellen, an die Stelle
des "alten" Israel getreten zu sein. Ich werde auf diese
Problematik und ihre schmerzensreiche Geschichte noch abschließend
eingehen.
Ursprung des Heimatgefühls könnte in der
Bibel liegen
Vorerst aber sei auf einen positiven Aspekt dieser
"Universalisierung" der Landverheißung hingewiesen. Ich
formuliere hier mehr eine Intuition als eine ausgearbeitete,
verifizierte These. Ich glaube, die Menschen und Völker, denen die
Bibel als Wort Gottes zukam, lernten mit dem Volk Israel, in dessen
Geschichte sie eintraten, auch die Liebe zum Land der Verheißung,
die Sehnsucht nach Jerusalem und Zion; sie lernten so etwas wie
"Heimat" kennen; in der Schule der Bibel, der Psalmen, der
heiligen Geschichte wuchs so etwas wie eine Kultur der Heimatliebe.
Ja, ich frage mich, ob das, was uns in Europa als Liebe zur Heimat,
zum Vaterland bekannt ist, nicht auch eine Frucht der Erziehung
durch die Bibel ist. Die ganze biblische Bild-, Sprach- und
Gefühlswelt von Fremde und Heimat, von Exil und Heimkehr hat den
Sinn für die Heimatliebe mitgeprägt. Etwas von der Freude an Erez
Israel ist mitgewandert in die Fremde der Völker und hat dieser den
Glanz der Heimat gegeben. Etwas von der Sehnsucht nach Erez Israel
hat auch die Sehnsucht der Herzen nach der Heimat geformt,
vielleicht besonders ausgeprägt im deutschen Kulturraum. Diese
Heimatliebe blieb im Lot, solange sie als Gegengewicht die Sehnsucht
nach dem himmlischen Jerusalem, der ewigen Heimat kannte. Denn auch
das lernten die Völker von der Bibel, dass wir mit Abraham
"Fremdlinge und Beisassen" sind und dass wir hier keine
bleibende Stätte haben.
Falsche Auffassung von Heimatliebe
Wo freilich dieser Ausblick auf die kommende Erde, die
zukünftige Welt, ausfiel, wo die Heimatliebe gottlos wurde, schlug
sie um in den Nationalsozialismus, der die Erwählung Israels
usurpiert und sie auf ein anderes Volk, eine Rasse, eine Klasse
überträgt und diese verabsolutiert, zum Idol gemacht. Ansätze
dazu gab es in der europäischen Geschichte schon früh. So etwa,
wenn Eusebius von Cäsarea das unter Kaiser Konstantin christlich
gewordene Römische Reich einfach mit dem Volk Gottes identifiziert:
"Kein kleines und unbedeutendes, das nur in irgendeinem Winkel
der Erde wohnt", sondern das große, volkreiche Römische Reich
ist für ihn das "neue Volk Gottes" (E. von Ivanka,
Rhomäerreich und Gottesvolk, Freiburg-München 1968, 49-61 ).
Die Konsequenz der Idee des "auserwählten
Volkes" im Nationalsozialismus
Die Identifikation des eigenen Volkes als des auserwählten und
damit des eigenen Landes als des "gelobten" ist eine der
Quellen des europäischen Nationalsozialismus. Man kann den
Nationalsozialismus als Usurpation der Landverheißung an Gottes
erwähltes Volk sehen. Solches zeichnet sich schon früh in
Frankreich ab: Seit dem 13. Jahrhundert gibt es die Ideologie,
Frankreich sei das "Neue Israel", Frankreich sei Gottes
Königreich (vgl. J.-M. Lustiger, loc. cit., 493). Doch erst mit dem
19. Jahrhundert bekommt der Nationalismus jenes bedrohliche,
pervertierte Gesicht einer das eigene Volk, die eigene Nation
vergötzenden Machtideologie, die zu den grol3en Katastrophen des
20. Jahrhunderts geführt hat. Die radikale Perversion der
biblischen Erwählung und Landverheißung erfolgt in der
Rassenideologie des Nationalsozialismus und in der Klassenideologie
des Marxismus-Leninismus. Ernst Bloch hat gesagt: Ubi Lenin, ibi
Jerusalem. Niemals darf dem zugestimmt werden.
Der jüdische Nationalsozialismus des Theodor
Herzl
Im Raum dieser wildgewordenen biblischen Erwählungsideen des
Nationalsozialismus hat der emanzipierte, agnostische Jude Theodor
Herzl seinen jüdischen Nationalismus entwickelt. Auch wenn Herzl
mit der Idee eines Judenstaates in Uganda oder anderswo spielte, die
Anziehungskraft von Erez Israel erwies sich als stärker und
größer. Und mit der Besinnung auf Erez Israel begann für den
emanzipierten Theodor Herzl eine Rückbesinnung auf seine Quellen.
Auf dem ersten Zionistenkongress 1897 in Basel sagte er: "Der
Zionismus ist die Heimkehr zum Judentum, noch vor der Rückkehr ins
Judenland". Was bedeutet uns also Erez Israel? Auf dem zweiten
zionistischen Kongress sagte Theodor Herzl: "Wenn es überhaupt
legitime Ansprüche auf ein Stück der Erdoberfläche gibt, so
müssen alle Völker, die an die Bibel glauben, das Recht der Juden
anerkennen" (A. Elon, op. cit., 256). Von diesen beiden Worten
Herzls ausgehend, können drei zusammenfassende Schlussbemerkungen
formuliert werden:
Die "Heimkehr zum Judentum"
Es war entscheidend wichtig, dass das frühe Christentum, die
Kirche Roms, zu Markion ein klares Nein gesprochen hat und damit die
ganze Bibel, Altes und Neues Testament, in die ganze Welt
hinausgetragen hat. Die positiven Folgen dieses Ja zum Gesetz und
den Propheten waren das Hauptthema meiner Überlegungen. Ein Ja
unterblieb freilich weitgehend, und diese Unterlassung hatte schwere
negative Folgen: das Ja zur Fortdauer des erwählten Volkes auch
dort, wo es in Jesus von Nazaret nicht den Messias Israels, den
Heiland der Welt erkennen konnte. Es bedurfte einer langen Zeit,
einer Zeit voll Blut und Wunden, bis mit der Konzilserklärung
Nostra Aetate und den nachfolgenden Erklärungen der Päpste im
christlichen Bewusstsein deutlich hervortrat, was bereits Paulus
über Gottes bleibende Treue zu seinem Volk und seinem Bund gesagt
hat: "Sie sind Israeliten: damit haben sie die Sohnschaft, die
Herrlichkeit, die Bundesordnungen, ihnen ist das Gesetz gegeben, der
Gottesdienst und die Verheißung, sie haben die Väter, und dem
Fleisch nach entstammt ihnen der Christus..." (Röm 9, 4-5);
"Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott
gewährt" (Röm 71, 29). Herzl sprach von der Heimkehr zum
Judentum. Eine "Heimkehr" zu den Wurzeln ereignet sich
auch in der Kirche. Immer deutlicher wird das Wort des Paulus
bewusst: "Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel
trägt dich" (Röm 11, 19).
Juden sollten immer Gott in Erez Israel dienen
Papst Johannes Paul II. hat am 17. November 1980 in Mainz gesagt,
dass "der Alte Bund niemals gekündigt worden ist". Dieser
Bund verpflichtet die Juden, Gott in Erez Israel zu dienen, im Land
der Verheißung. Insofern ist die Heimkehr nach Erez Israel ein
heiliges Gebot, das sich aus dem bleibenden Bund ergibt. Freilich
ist diese Pf7icht nicht identisch mit der Gründung eines
souveränen Staates. Das wusste Herzl selber, wenn er eine
Theokratie für den "Judenstaat" ablehnte. Das hindert
nicht daran, den Wunsch nach einer nationalen Heimstätte des
jüdischen Volkes zu bejahen, ja zu begrüßen und zu unterstützen,
wie es vielfach von christlicher Seite geschah. Nur musste diese
Gründung auf dem mühevollen, leidensreichen Weg einer
völkerrechtlich verankerten, auch der palästinensischen
Bevölkerung gerecht werdenden Weise erfolgen.
Gehen des Weges der Gerechtigkeit
Dieser Weg zur völkerrechtlichen Sicherung des Friedens geht
immer auch und entscheidend über Menschen, die den Weg der
Gerechtigkeit gehen. Beim Propheten Jesaja steht: "Zion wird
durch Recht erlöst werden und seine Bewohner durch
Gerechtigkeit" (Jes 1, 27). Und in Exodus 23, 9 steht:
"Einen Fremden sollst du nicht ausbeuten. Ihr wisst doch, wie
es einem Fremden zumute ist; denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde
gewesen." Die Heimkehr nach Erez Israel ist ein Zeichen der
Hoffnung, aber noch nicht ihre Erfüllung. Noch sind wir Pilger, und
das ist uns allen gemeinsam, die wir versuchen, Kinder Abrahams zu
sein, der selber sich als "Pilger und Beisassen" verstand.
Noch sind die Kinder Israels versprengt, auch wenn die Sammlung
begonnen hat. Noch herrschen beschämende Spaltungen welches Bild
der Uneinheit geben die Christen im Heiligen Land, aber auch die
Juden und die Muslime -, doch eines erbitten wir alle von Gott, und
das ist uns gemeinsam: "Erbittet Frieden für Jerusalem. Wer
dich liebt, sei in dir geborgen" (Ps 122, 6).
Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn
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