Gibt es ein Mysterium Israel? Seine Bedeutung für die Völker
"Über Israel kann man nicht ohne Annahme der Offenbarung
im Mysterium reden. Alle historischen, soziologischen und
psychologischen Erkenntnisse von diesem Volk reichen dazu nicht aus,
ja führen irre. Israel ist letztlich selbst ein Mysterium",
bemerkte Heinrich Schlier in seinem Kommentar zum Römerbrief (Der
Römerbrief, Freiburg/Basel/Wien 1979, Seite 338). Worin gründet
letztlich das Mysterium Israel und welche Bedeutung hat Israel für
die Völkerwelt? Und zwar nicht bloß als Dialogpartner des
Christentums, sondern auch mit den Weltreligionen, speziell auch mit
den nichtmonotheistischen Religionen.
JHWH hat Israel erwählt. Warum gerade Israel, dieses in der
Wüste herumziehende Nomadenvolk? Und warum zuvor schon sein
"Ruf" an Abraham ergangen ist, das entzieht sich
menschlicher Einsicht. Es ist und bleibt ein Mysterium. Das Alte
Testament redet an vielen Stellen von dieser Erwählung, besonders
im Buch Deuteronomium.
Die Erwählung Israels zum Volk JHWHs
So in 7,6-8: "Ein für JHWH, deinen Gott, geheiligtes Volk
bist du. Dich hat JHWH, dein Gott, erwählt, um ihm als Volk des
Eigentums anzugehören unter allen Völkern, die auf dem Erdboden
wohnen. Nicht weil ihr zahlreicher seid als alle Völker, hat sich
JHWH zu euch herabgeneigt und euch erwählt; denn ihr seid das
kleinste von allen Völkern, vielmehr weil JHWH euch liebte und weil
er den Schwur hielt, den er euren Vätern geschworen hat
[...]"; 10,14f: "Siehe, JHWH, deinem Gott, gehört der
Himmel und der Himmel des Himmels, die Erde und was darüber ist.
Nur deinen Vätern hat sich JHWH zugeneigt, indem er sie liebte, und
er erwählte ihre Nachkommen nach ihnen, nämlich euch, aus allen
Völkern, wie es heute der Fall ist"; 14,2: "Denn ein
heiliges Volk bist du für JHWH, deinen Gott, und dich hat JHWH
erwählt, dass du als Volk sein besonderes Eigentum seist unter den
Völkern auf dieser Erde". Zweimal wird in diesen drei Texten
die Liebe Gottes zu Israel als Motiv seiner Wahl genannt, aber war
um Gott gerade dieses Volk "liebt", das Volk der Juden,
ist rational nicht zu ergründen, das ist absolutes Mysterium.
Während der Zeit des babylonischen Exils beantwortet der sog.
Deuterojesaja die Frage, ob es für Israel überhaupt noch eine
Zukunft gibt, mit der prophetischen Ansage (41,8-10): "Du aber,
Israel, mein Knecht, du Jakob, den ich erwählt habe, Sprössling
Abrahams, meines Freundes! Du, den ich von den Enden der Welt
geholt, den ich rief von den äußersten Winkeln, zu dem ich sprach:
Mein Knecht bist du, ich habe dich erwählt und nicht verworfen.
Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir! Blicke nicht ängstlich,
denn ich bin dein Gott! Ich stärke dich, ja, ich helfe dir;
wahrlich, ich stütze dich mit meiner hilfreichen Rechten".
Anerkennung der Erwählung Israels auch im Neuen
Testament
Auch das Neue Testament kennt und anerkennt die Erwählung
Israels. Zum Erweis dafür nenne ich folgende Texte: Apg 13,17-19:
"Der Gott dieses Volkes Israel hat unsere Väter erwählt und
das Volk in der Fremde im Land Ägypten erhöht. Mit erhobenem Arm
hat er sie von dort herausgeführt. Fast vierzig Jahre hat er sie in
der Wüste getragen, sieben Völker hat er vernichtet im Land Kanaan
und deren Land ihnen zum Erbe gegeben". Sechs zusammengehörige
Topoi erscheinen in diesem Text: 1. Gott als der Erwählende, 2. Die
Väter Israels als die Erwählten Gottes, 3. Israel als
"Volk" Gottes, 4. Der Hinweis auf den Exodus, 5. Der
Hinweis auf die Landnahme, 6. Das Land Kanaan als Erbbesitz für
Israel. Das Ganze könnte als ein Summarium der alttestamentlichen
Erwählungstheologie bezeichnet werden. Röm 11,28f: "Zwar mit
Blick auf das Evangelium sind sie (die Juden) Gegner euretwegen (der
Heiden wegen), aber mit Blick auf die Wahl (die ehemalige
Erwählung) sind sie Geliebte um der Väter willen. Denn
unwiderruflich sind die Gnadengaben und der Ruf Gottes". Drei
wichtige Stichworte: "Wahl"-"Geliebte"-"Ruf",
bezogen auf Gottes Handeln an Israel, den Juden. Bei den
"Gnadengaben" denkt der Apostel vermutlich besonders an
die Vorzüge lsraels, von denen er in 9,3-5 spricht.
Israels Sonderexistenz
Die Folge der Erwählung Israels durch Gott ist seine
Sonderexistenz, die im Alten Testament wiederholt ausdrücklich
angesprochen wird, so z. B. in besonders eindringlicher Weise in der
Erzählung über den Seher Bileam (Num 22,1-24,25). Der Seher Bileam
wird von Balak, dem König von Moab, beauftragt, das Volk Israel,
das sein Lager in den Steppen von Moab auf geschlagen hatte, zu
verfluchen: "[...] verfluch` mir dieses Volk; denn es ist zu
mächtig für mich". Aber Bileam wird vom "Engel des
Herrn" daran gehindert, Israel zu verfluchen; stattdessen
spricht er in einem Orakelspruch zum König Balak: "Aus Aram
führte mich Balak her, der König von Moab vom Ostgebirge: ,Geh,
verfluche mir Jakob! Geh, drohe Israel!` Doch wie soll ich
verwünschen, wen Gott nicht verwünscht, wie soll ich drohen, wem
JHWH nicht droht? Denn vom Gipfel der Felsen sehe ich es, von den
Höhen aus erblicke ich es: Dort, ein Volk, es wohnt für sich, es
reiht sich nicht unter die Völker" (23,7-9). Vgl. dazu auch
Dtn 4,34: "Oder hat je ein Gott versucht, sich ein Volk mitten
aus einem anderen Volk herauszuholen?", 2 Sam 7,23f:
"Welches andere Volk auf der Erde ist wie dein Volk Israel? Wo
wäre ein Gott hingegangen, um ein Volk für sich als sein Volk
freizukaufen und ihm einen Namen zu machen und für dieses Volk
große und erstaunliche Taten zu vollbringen [...]. Du hast Israel
auf ewig zu deinem Volk bestimmt, und du, Herr, bist sein Gott
geworden". Und vor allem Ez 20,32: "Niemals soll
geschehen, was euch eingefallen ist, als ihr sagtet: Wir wollen wie
die anderen Völker sein, wie die Völkerstämme in anderen
Ländern, und wir wollen Holz und Steine verehren".
Der bleibend gültige Bund Gottes mit Israel
Gott hat mit Abraham einen Bund geschlossen. Davon erzählt vor
allem Gen 17,1-21. Dreizehnmal ist in diesem Text vom
"Bund" die Rede, und dreimal wird dieser "Bund"
als ein "ewiger Bund" bezeichnet, als ein "Bund"
also, der für immer gilt. Geschlossen wird dieser Bund nicht bloß
mit Abraham, sondern zugleich mit der Nachkommenschaft Abrahams:
"Ich schließe meinen Bund zwischen mir und dir samt deinen
Nachkommen, Generation um Generation, einen ewigen Bund"
(17,7). Am Berg Sinai stiftet Gott mit dem "ganzen" Volk
Israel einen Bund im "Blut des Bundes" (vgl. dazu Ex
24,1-8). Im Ps 105,6-10 findet sich ein lobpreisendes Echo auf den
Bundesschluss Gottes mit Abraham: "Bedenkt es, ihr Nachkommen
seines Knechtes Abraham, ihr Kinder Jakobs, die er erwählt hat. Er,
der Herr, ist unser Gott. Seine Herrschaft umgreift die Erde. Ewig
denkt er an seinen Bund, an das Wort, das er gegeben hat für
tausend Geschlechter, an den Bund, den er mit Abraham geschlossen,
an den Eid, den er Isaak geschworen hat. Er bestimmte ihn als
Satzung für Jakob, als ewigen Bund für Israel".
"Gepriesen sei der Herr, der Gott
Israels!"
Auch im Neuen Testament findet sich ein solches Echo, etwa im
Benediktus des Zacharias, des Vaters Johannes des Täufers, in Lk
1,68-79. Es beginnt mit einem Lobpreis: "Gepriesen sei der
Herr, der Gott Israels!" (V 68). Und gepriesen wird er deshalb,
weil "er das Erbarmen mit den Vätern an uns voll endet (hat)
und an seinen Bund gedacht (hat), an den Eid, den er unserem Vater
Abraham geschworen hat" (VV 72.73). Die von Gott selber
verfügte "Verstockung" Israels (vgl. dazu Röm 11,7f25)
hat zur Folge, dass der Jude bis zum Ende der Zeiten neben der
Kirche und den Gojim als Zeuge für die Konkretheit der
Heilsgeschichte und für die rational nicht auflösbare
"Logik" JHWHs in der Führung seines erwählten Volkes
Israel steht. "Wie unergründlich sind seine Entscheidungen,
wie unerforschlich seine Wege!" (Röm 11,33b). Vgl. dazu F.
Mußner, Warum muss es den Juden post Christum noch geben?
Reflexionen im Anschluss an Röm 9-11, in: ders., Dieses Geschlecht
wird nicht vergehen. Judentum und Kirche (Freiburg/Basel/Wien 1991)
5159; ders., Israel in der "Logik" Gottes nach Röm 9-11
und im Denkgebirge Hegels, in W.M. Neidl/F. Hartl (Hg.), Person und
Funktion. Gedenkschrift zum 100. Geburtstag von Jakob Hommes
(Regensburg 1998), Seite 63-78.
Der Ausschließlichkeitsanspruch JHWHs
Was den Dialog Israels, der Juden, zumal mit den
nichtmonotheistischen Weltreligionen besonders zu erschweren
scheint, ist der Ausschließlichkeitsanspruch JHWHs, des Gottes
Israels. Besonders eindrucksvoll kommt die Einzigkeit JHWHs bei
Deuterojesaja zur Sprache: "Ich bin der Erste und der Letzte,
und außer mir ist kein Gott" (44,6). "Ich bin der Herr
und keiner sonst" (45,5f. 14.18.21). Der Dekalog schärft ein
in Ex 20,2f.5: "Ich bin JHWH, dein Gott, der dich aus Ägypten
geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen
Götter haben ... Du sollst dich nicht vor anderen Göttern
niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen",
Oder man denke auch an den Kampf des Propheten Elia gegen die
Baalspriester! "Für dich gibt es keinen anderen Gott. Du
sollst keinen fremden Gott anbeten" (Ps 81,10). "Die
Götzen der Völker sind nur Silber und Gold, ein Machwerk von
Menschenhand. Sie haben einen Mund und reden nicht, Augen und sehen
nicht; sie haben Ohren und hören nicht, eine Nase und riechen
nicht; mit ihren Händen können sie nicht greifen, mit den Füßen
nicht gehen, sie bringen keinen Laut hervor aus ihrer Kehle" (Ps
115, 4-7). Und doch lenkt das AT den Blick Israels auf die Völker,
besonders auch wieder in den Psalmen.
Israel und die Völker
Exemplarisch sei Ps 47 aufgeführt: "Ihr Völker alle,
klatscht in die Hände; jauchzt Gott zu mit lautem Jubel! Denn
furchtgebietend ist der Herr, der Höchste, ein großer König über
die ganze Erde. Er unterwirft uns Völker und zwingt Nationen unter
unsre Füße. Er wählt unser Erbland für uns aus, den Stolz
Jakobs, den er liebt. [Sela] Gott stieg empor unter Jubel, der Herr
beim Schall der Hörner. Singt unserm Gott, ja singt ihm! Spielt
unserm König, spielt ihm! Denn Gott ist König der ganzen Erde.
Spielt ihm ein Psalmenlied! Gott wurde König über alle Völker,
Gott sitzt auf seinem heiligen Thron. Die Fürsten der Völker sind
versammelt als Volk des Gottes Abrahams, denn Gott gehören die
Mächte der Erde; er ist hoch erhaben."
Völkerwallfahrt nach Jerusalem
In V.10 des Ps 47 begegnet uns die Idee der Völkerwallfahrt nach
Jerusalem. Deutlicher in Ps 102: "Der Herr schaut herab aus
heiliger Höhe, vom Himmel blickt er auf die Erde nieder; er will
auf das Seufzen der Gefangenen hören und alle befreien, die dem Tod
geweiht sind, damit sie den Namen des Herrn auf dem Zion verkünden
und sein Lob in Jerusalem, wenn sich dort Königreiche und Völker
versammeln, um den Herrn zu verehren" (VV.20-23). Wer am
"Tag des Herrn" "übrigbleibt von allen Völkern, die
gegen Jerusalem gezogen sind, wird Jahr für Jahr hinaufziehen
(ähnlich wie Israel selbst, vgl. Ps 122), um den König, den Herrn
der Heere, anzubeten und das Laubhüttenfest zu feiern" (Sach
14,16). "An jedem Neumond und an jedem Sabbat wird alle Welt
kommen, um mir zu huldigen, spricht der Herr" (Jes 66,23).
Keine Mission Israels unter den Völkern
Es ist dabei nicht an eine Mission Israels unter den Völkern
gedacht, "sondern Israels Existenz und Geschick, JHWHs
Herrlichkeit über seinem Zion und dessen von dort empfangenes Licht
strahlen und wirken nach außen, und die Völker werden in dieses
Geschehen, das sie sehen und an dem sie JHWH erkennen,
hineingenommen, hineingerissen (vgl. Jes 60,1-3)" (H.D. Preuß,
Theologie des Alten Testaments, Bd. 2, Stuttgart/Berlin/Köln 1992,
323). Und noch ein Text muss hier angeführt werden, nämlich Mich
4,1.2.5: "Am Ende der Tage wird es geschehen: Der Berg mit dem
Haus des Herrn steht fest gegründet als höchster der Berge; er
überragt alle Hügel. Zu ihm strömen die Völker. Viele Nationen
machen sich auf den Weg. Sie sagen: Kommt, wir ziehen hinauf zum
Berg des Herrn und zum Haus des Gottes Jakobs. Er zeige uns seine
Wege, auf seinen Pfaden wollen wir gehen. Fürwahr, von Zion kommt
die Weisung, aus Jerusalem kommt das Wort des Herrn... Fürwahr,
alle Völker gehen [einstweilen] ihren Weg, jedes ruft den Namen
seines Gottes an; wir [die Israeliten] gehen unseren Weg im Namen
JHWHs, unseres Gottes, für immer und ewig" (vgl. dazu, fast
gleichlautend, Jes 2,2-4, und den hervorragenden Kommentar von F.
Sedlmeier, Die Universalisierung der Heilshoffnung nach Micha 4,1-5,
in TThZ 107, 1998, 62-81).
Der Noach-Bund und die "noachitischen
Gesetze"
Vor der Erzählung der Genesis über den Abrahamsbund bringt sie
innerhalb der sog. Urgeschichte die Erzählung über die Sintflut
und den Noachbund. "Dann sprach Gott zu Noach und seinen
Söhnen, die bei ihm waren: Hiermit schließe ich meinen Bund mit
euch und mit euren Nachkommen und mit allen Lebewesen bei euch, mit
den Vögeln, dem Vieh und allen Tieren des Feldes, mit allen Tieren
der Erde, die mit euch aus der Arche gekommen sind" (Gen
9,810). Der Regenbogen wird zum "Zeichen des Bundes, den ich
stifte zwischen mir und euch und den lebendigen Wesen bei euch für
alle kommenden Geschlechter" (9,12). "Steht der Bogen in
den Wolken, so werde ich auf ihn sehen und des ewigen Bundes
gedenken zwischen Gott und allen lebenden Wesen, allen Wesen aus
Fleisch auf der Erde" (9,16). Das ist der ewige Bund zwischen
Gott und dem zweiten Stammvater der Menschheit, Noach, und allen
seinen Nachkommen.
Naoch als Repräsentant der ganzen Menschheit
Noach ist nicht Repräsentant Israels, der Juden, wie Abraham,
vielmehr Repräsentant der ganzen Menschheit für alle Zeiten. Dies
scheint mir ein äußerst wichtiger biblischer Anknüpfungspunkt
für einen Weltdialog aller Religionen zu sein, besonders auch im
Bereich der Ethik und der Frage nach dem Heil der Völker. Jüdische
Rabbinen haben im 2. Jh. n. Chr. darüber nachgedacht und die Lehre
von den "noachitischen Geboten" entwickelt. (Vgl. dazu die
gelehrte Dissertation von Kl. Müller, Tora für die Völker. Die
noachidischen Gebote und Ansätze zu ihrer Rezeption im Christentum;
Studien zu Kirche und Israel 15, Berlin 1994). Die noachidischen
Gebote betreffen: 1. Rechtspflege, 2. Götzendienst, 3.
Gotteslästerung, 4. Unzucht, 5. Blutvergießen, 6. Raub, 7. Ein
Glied von Lebenden.
Das entscheidende Implikat des
Noachidenkonzeptes
"Das entscheidende Implikat des Noachidenkonzeptes ist eine
Lehre vom Anteilgewinnen der weltweiten Menschheit an der Bundes und
Verpflichtungsgeschichte Gottes mit seinem Volk Israel. Das
noachidische Siebengebot stellt ein integrales Moment göttlicher
Torakundgabe dar und repräsentiert den universalen Geltungsbereich
der Weisung vom Sinai" (Müller, Seite 254). In
nachtalmudischer Zeit wurde das Siebengebot auf ein Dreißiggebot
erweitert (s. dazu Näheres bei Müller, Seite 133-136). Heißt es
in der Mischna: "Ganz Israel hat Anteil an der kommenden
Welt" (Sanh 10,1 ), so im Codex des Maimonides entsprechend dem
Ansatz des Rabbi Joschua: "Auch die Frommen der Weltvölker
haben Anteil an der kommenden Welt" (hilchot tschuva 3,5).
"Wer die sieben Gebote übernimmt und gewillt ist, sie zu tun,
der gehört zu den Frommen der Weltvölker und hat Anteil an der
kommenden Welt; dies gilt für jenen, der sie übernimmt und tut,
weil Gott in der Tora so geboten und durch unseren Lehrer Mose
bekannt gemacht hat, dass die Nachkommen Noachs auf diese Gebote
verpflichtet wurden" (Maimonides, hilchot melachim 8,11 ). Dazu
Näheres bei Müller, Seite 80-85. Kl. Müller hat im Frb. Rdbrief,
NF 3 (1996), Seite 250-262 einen Aufsatz veröffentlicht unter dem
Titel "Die noachidische Tora: Ringen um ein Weltethos",
der zweifellos für unsere Überlegungen von Bedeutung ist.
Vier Bedeutungsaspekte der noachidischen
Weisung
Nach Müller verknüpft Israel "mit der noachidischen
Weisung vier Bedeutungsaspekte", nämlich diese (vgl. ebd.
Seite 256-259): 1. "die noachidische Tora ist die auf Noah
zurückgeführte präsinaitische Lebens-Tora ...". Das Prä,
das der Beziehung Gottes zu Israel vorausgeht, ist "das Prä
der Beziehung Gottes zum Menschen überhaupt". Israel anerkennt
mit seiner Tora eine der eigenen Begegnung mit Gott
"vorangehende Beziehung Gottes zur Menschheit", weil eben
Gott der Schöpfer des Ganzen ist und Noach der zweite Stammvater
der ganzen Menschheit. "Eigene Religiosität wird begriffen als
ein Ausschnitt aus einem größeren Ganzen" (Müller). 2.
"In den sieben noachidischen Geboten ergeht nicht nur eine
universale Tora, sondern steckt auch das bleibend Konstitutive und
Essentielle der spezifisch jüdischen Weisung". Mose trägt
Noach in sich! Denn die "noachidischen Grundbestimmungen finden
ihre Entfaltung in der jüdischen Tora - und diese wiederum wird an
das Wesentliche ihrer Substanz erinnert durch das universale
Gebot", das für die gesamte Menschheit gilt. 3. Zur Zeit der
Rabbinen war Israel keine reale politische Größe mehr und so wurde
der ger toschav, d. h. der nichtjüdische Mitbewohner, "zum
Begriff geistig-religiöser Nachbarschaft, zum Ausdruck
theologischer Akzeptanz gegenüber dem nichtjüdischen Menschen. Die
sieben noachidischen Gebote bilden den theologisch-ethischen
Horizont, in dem sich die geistig-religiöse Nachbarschaft zum
außerjüdischen Mitmenschen vollziehen kann." 4. (formuliert
nach Maimonides): "Wer die sieben Gebote übernimmt und gewillt
ist, sie zu tun, der gehört zu den Frommen der Weltvölker und hat
Anteil an der kommenden Welt." So tragen die sieben
noachidischen Gebote zum Aufbau eines Weltethos mit bei. Sie müssen
in den Dialog miteinbezogen werden. Hingewiesen sei in diesem
Zusammenhang kurz auf das Buch Jona, das zu, den Heiligen Schriften
Israels gehört und das uns lehrt: Gottes Bußruf und Heilswille
gilt auch den Heiden, was Jona zunächst nicht wahrhaben wollte.
Jesus und die Heiden
Jesus wusste sich gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses
Israel (Mt 15,24), aber er führte heilbringende Dialoge auch mit
Heiden. - So mit der kanaanäischen Frau aus Syro-Phönizien (Mt
15,21-28), auch wenn er ihr zunächst keine Antwort auf ihre
dringende Bitte gibt, vielmehr diese schroff abweist. Aber
überwältigt von ihrem unerschütterlichen Vertrauen gibt er ihr
dann doch die notwendende Antwort: "Frau; dein Glaube ist
groß. Was du willst, soll geschehen, Und von dieser Stunde an war
ihre Tochter geheilt". - In Kapharnaum tritt ein römischer
Hauptmann, also ein Heide, an Jesus heran und bittet um die Heilung
seines gelähmten Burschen. Es findet ein Gespräch zwischen Jesus
und dem Hauptmann statt, dessen Erfolg die Heilung des Kranken ist
(vgl. Mt 8,5-13). Jesus ist erstaunt über den Glauben des
heidnischen Hauptmanns und bemerkt: "Einen solchen Glauben habe
ich in Israel noch bei niemanden gefunden", und fügt hinzu:
"Viele werden von Osten und Westen kommen und mit Abraham,
Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tische liegen." Also: Heil
auch für die Heiden! - Einen umfangreichen Dialog führt Jesus nach
Joh 4,1-42 mit einer Nichtjüdin am Jakobsbrunnen inmitten des
Wohngebiets des damals noch großen Volkes der Samariter. Die
samaritanische Frau ist ganz erstaunt, dass der Jude Jesus sie um
einen Trunk Wasser bittet. "Wie kannst du als Jude mich, eine
Samariterin, um Wasser bitten?", und der Evangelist fügt für
die Leser kommentierend hinzu: "Die Juden verkehren nämlich
nicht mit den Samaritern".
Jesus überwindet bestehende Feindschaften
Wir wissen, dass z. Z. Jesu tiefe Feindschaft zwischen den Juden
und den Samaritern herrschte. Jesus setzt sich über diese
ethnischen Schranken hinweg und führt ein intensives Gespräch mit
der samaritanischen Frau, in dem er zwar ausdrücklich betont, dass
das Heil von den Juden kommt (4,32 b), aber auch dass jetzt die
Stunde da ist, in der die wahren Anbeter des Vaters ihn weder auf
dem Garizim, dem heiligen Berg der Samariter, noch in Jerusalem
anbeten werden, ihn vielmehr "im Geist und in der
Wahrheit" anbeten werden; "denn so will der Vater
angebetet sein" (4,23b). Mit dieser Handlungsweise hat Jesus
den Ort der Anbetung Gottes auf alle Welt ausgedehnt. Und dies im
Rahmen eines Dialogs mit einer Nichtjüdin, womit der Dialog
überhaupt als Form des Religionsgesprächs deklariert und
legitimiert ist.
Der Jude Jesus
Freilich darf dabei nicht vergessen werden, dass Jesus ein Jude
war. Worin Zeigte sich sein Jude-Sein? Vor allem in folgenden
Punkten: Der Gott Jesu (sein "Vater") ist 1HWH, der Gott
Israels. Die Bibel Israels ist auch die Bibel Jesu. Jesus ruft den
Menschen radikal unter den Willen Gottes, wie es auch die Tora tut.
Er legt die Tora in seiner Halacha aus (Bergpredigt!). Jesus
vertritt den atl. Schöpfungsgedanken. Jesus vertritt die atl.-
frühjüdische Stellvertretungs- und Sühneidee. Jesus vertritt den
Bundesgedanken. Jesus ist entschiedener Vertreter der
"Armenfrömmigkeit", wie sie in Israel entwickelt worden
ist, und fordert Gerechtigkeit für die Armen. Jesus ist Ansager der
Zukunft Gottes ("Reich", "Herrschaft Gottes"),
wie es auch die Propheten Israels waren. Jesus ist Vertreter der
Emuna. Jesu Lehrformen decken sich mit den Lehrformen der jüdischen
Lehrer zu seiner Zeit (z.B. Gleichnis, Weisheitsspruch,
Streitgespräch).
Jesus verbreitet das Jüdische
So darf und muss man sagen: Durch Jesus von Nazaret wird die Welt
"jüdisch"; denn durch ihn kommt das große geistliche
Erbe Israels in die Völkerwelt, worauf schon Maimonides hingewiesen
hat. Was gehört zu diesem Glaubenserbe? (Vgl. dazu ausführlich F.
Mußner, Traktat über die Juden, München21988, Seite
88-175.) Der Monotheismus - Die Schöpfungsidee - Der Mensch, das
"Abbild" Gottes - Grundhaltungen vor Gott (Heiligkeit,
Gehorsam, Gottesfurcht, Gotteserkenntnis, Liebe, Emuna, Umkehr,
Lobpreis Gottes) - Der Bundesgedanke - Die messianische Idee - Die
Entdeckung der Zukunft - Die Sehnsucht nach einer sozial gerechten
Welt - Sühne und Stellvertretung - Das Gewissen und der Dekalog -
Das Gedenken (gedenkender Gott, gedenkender Mensch) - Der Sabbat -
Die Auferweckung der Toten - Der Gerichtsgedanke. Das Zweite
Vatikanische Konzil hat in seinem Dekret "Nostra Aetate"
(Nr. 4) ausdrücklich auf das "geistliche Erbe"
hingewiesen, das durch Jesus nun zum "gemeinsamen" Gut von
Juden und Christen geworden ist und wodurch die Welt der Gojim in
der Mission der Kirche "jüdisch" wird, wie ich vorher
schon formuliert habe. Die Kirche ist weder das "wahre"
noch das "neue" Israel, vielmehr das universalisierte
Israel. Sie partizipiert durch die "Güte" Gottes am
geistlichen "Fett" des Edelölbaums Israel. Nicht die
Kirche "trägt" die "Wurzel", vielmehr die
"Wurzel" "dich", die Kirche (vgl. Röm 11,17f).
Paulus in Athen
Die Begegnung des biblischen Kerygmas mit heidnischer
Religiosität und Philosophie ist im NT in der
"Areopagrede" (Apg 17,16-34) exemplarisch von Lukas
vorgeführt. Der lukanische Paulus diskutiert in Athen mit
epikureischen und stoischen Philosophen (17,18). Er hält auf dem
Areopag eine Rede, in der er den Athenern zunächst große
Frömmigkeit zugesteht, unter Hinweis auf einen Altar mit der
Aufschrift: "Einem unbekannten Gott". "Was ihr
verehrt, ohne es zu kennen, das verkündige ich euch." Er weist
hin auf den Schöpfergott, der Herr über Himmel und Erde ist und
nicht in Tempeln wohnt. Dieser Gott gibt "allen das Leben, den
Atem und alles". Er hat aus einem einzigen Menschen das ganze
Menschengeschlecht erschaffen, das die ganze Erde bewohnen soll.
Dieser Gott lässt sich suchen, "denn keinem von uns ist er
fern". Wir dürfen "nicht meinen, das Göttliche sei wie
ein goldenes oder silbernes oder steinernes Gebilde menschlicher
Kunst und Erfindung".
Kritik an Religion der Athener
Das alles ist biblisch jüdische Überzeugung und impliziert
bereits Kritik an der Religionsgestaltung der Athener. Dies noch
mehr aber die Verkündigung, dass der Schöpfergott, "jetzt den
Menschen verkünden lässt, dass überall alle umkehren sollen. Denn
er hat einen Tag festgesetzt, an dem er den Erdkreis in
Gerechtigkeit richten wird (vgl. dazu Pss 96,13; 98,9), durch einen
Mann, den er dazu (nämlich das Gericht zu halten) bestimmt und vor
allen Menschen dadurch ausgewiesen hat, dass er ihn von den Toten
auferweckte." Das Auferstehungskerygma löst bei den
"einen" Spott aus, "andere aber sagten: Darüber
wollen wir dich ein andermal hören". Diese "anderen"
sind offensichtlich zu einem Dialog bereit. So begegnen sich in der
Areopagrede einerseits das Prinzip der Anknüpfung, andererseits der
kritische Einsatz des biblisch-jüdischen Offenbarungskerygmas.
Ermöglicht das einen echten Dialog?
Juden als Dialogpartner der Weltreligionen
Manche Juden haben ihre Schwierigkeiten mit dem Dialog, sowohl
mit dem Christentum als auch mit den übrigen Weltreligionen (wie
übrigens gewiss auch viele Muslime). Im Grunde scheint mir das
zusammenzuhängen einmal mit dem jüdischen Bewusstsein einer
"Sonderexistenz" unter den Weltvölkern aufgrund ihrer
urtümlichen Erwählung, zum anderen mit dem
Ausschließlichkeitsanspruch JHWHs, so wie er in den Heiligen
Schriften Israels bezeugt ist. "Du sollst keine fremden Götter
neben mir haben!" Der jüdische Oberrabbiner (Jerusalem) Israel
M. Lauhat dies auf die Formel gebracht: "Wir brauchen den
christlich jüdischen Dialog nicht, wir haben die Tora." Joel
Berger, Landesrabbiner der Israelitischen Religionsgemeinschaft
Württembergs und Sprecher der Rabbinerkonferenz Deutschlands,
kommentierte im "Freiburger Rundbrief" (5, 1998, Seite
263-265) die Erklärung des Bundes der Evangelisch-Freikirchlichen
Gemeinden in Deutschland überaus kritisch, z. B. ihre These, dass
Juden und Christen aufgrund der Wurzeln ihres Glaubens in besonderer
Weise miteinander verbunden seien: "Wir Juden ... sind mit den
Christen und mit der christlichen Kirche überhaupt nicht verbunden.
Wir sind uns selbst genug. Das heißt, für unser Selbstverständnis
benötigen wir die Christen und ihre Kirche nicht." Für Berger
haben jene, die Jesus als Christus, als Messias, anerkennen und
wahrnehmen, "den Boden des Judentums verlassen. Sie sind damit
keine jüdischen Menschen mehr ... Jüdische Menschen, die Jesus
anerkannt haben, kann es nicht geben" (wie z. B. Paulus oder
Edith Stein). Auch eine solche Stimme muss man im Hinblick auf den
christlich-jüdischen Dialog zur Kenntnis nehmen. Erfreulicherweise
denken andere Juden anders, wie z. B. Leo Baeck, Martin Buber, David
Flusser, Pinchas Lapide, Schalom ben-Chorin, Ernst Ludwig Ehrlich.
Weiterführung des christlich-jüdischen
Dialogs
Der christlich jüdische Dialog muss weitergehen. Papst Johannes
Paul II. nannte in seiner Ansprache an den Zentralrat der Juden in
Deutschland und die Rabbinerkonferenz am 17. November 1980 in Mainz
drei Dimensionen dieses Dialogs. Die erste Dimension bezieht sich
auf "die Begegnung zwischen dem Gottesvolk des von Gott nie
gekündigten Alten Bundes und dem des Neuen Bundes" und ist
zugleich ein Dialog "innerhalb unserer Kirche, gleichsam
zwischen dem ersten und zweiten Teil ihrer Bibel". "Eine
zweite Dimension unseres Dialoges - die eigentliche und zentrale -
ist die Begegnung zwischen den heutigen christlichen Kirchen und dem
heutigen Volk des mit Mose geschlossenen Bundes." Die dritte
Dimension bezieht sich auf den gemeinsamen Einsatz von Juden und
Christen "für den Frieden und die Gerechtigkeit unter allen
Menschen und Völkern." "Möchten bald alle Völker in
Jerusalem versöhnt und in Abraham gesegnet sein!" In seiner
Ansprache beim Besuch der Großen Synagoge Roms am 13. April 1986
bezeichnete der Papst bekanntlich die Juden als "unsere
bevorzugten Brüder und, so könnte man gewissermaßen sagen, unsere
älteren Brüder".
Besteht die Möglichkeit eines Dialogs mit
nichtmonotheistischen Religionen?
Ich frage zuletzt: Ist auch ein Dialog zwischen dem Judentum und
den nichtmonotheistischen Weltreligionen möglich? Ich möchte die
Frage bejahen, besonders im Hinblick auf ein zu erarbeitendes
Weltethos. Grundlage dafür könnten sein: Einmal die II. Tafel des
Dekalogs, zum andern die sieben noachitischen Gebote. Schließlich:
"Das echt Menschliche ist das Judesein im Menschen" (E.
Levinas). Dieser Satz des großen jüdischen Philosophen könnte die
alte Rede von der anima naturaliter christiana durch die Rede von
der anima naturaliter judaica ersetzen. Von dieser neuen Rede
könnten gewichtige Impulse für eine transzendentale Anthropologie
ausgehen, bewegt von der Frage: Sind die biblisch-jüdischen "Existenzialien"
transzendentale Existenzialien, also alle Menschen umfassend? Nach
Levinas scheint das der Fall zu sein. Aber dann besteht die Aufgabe
darin, diese jüdischen Existenzialien zu beschreiben und zu fragen:
Finden sie sich in den Weltreligionen, auch außerhalb des
Christentums und des Islams? In jedem Menschen steckt nicht bloß
Adam, sondern in jedem Menschen steckt auch Israel! Vor allem: Der
Mensch ist der Gerufene, wie Abraham der Gerufene war, der
Herausgerufene und Aufgerufene. Doch bedürfte dies
selbstverständlich einer näheren Ausarbeitung, vor allem auch in
einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Werk E. Levinas; vgl. zu
ihm etwa J. Wohlmut (Hg.), Emmanuel Levinas - eine Herausforderung
für die christliche Theologie (Paderborn/München/Wien/Zürich
1998). Für den christlich jüdischen Dialog sei vor allem verwiesen
auf die profunden Überlegungen, speziell auch zu E. Levinas, von
Josef Wohlmut, Im Geheimnis einander nahe. Theologische Aufsätze
zum Verhältnis von Judentum und Christentum
(Paderborn/München/Wien Zürich 1996).
Gekürzt und bearbeitet von Ernst Pohn
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