Mystische und prophetische Religionen: Eine gültige
Unterscheidung ?
Von Peter Antes
Schon lange bevor es die Religionswissenschaft gab wurden
Religionen miteinander verglichen. Vergleiche fördern das
Gemeinsame wie das Unterscheidende zutage. Religionswissenschaftler
erforschten die Fülle der historisch gewordenen Religionen und
versuchten Typologien aufzustellen. Dieser Beitrag vergleicht die
sogenannten mystischen Religionen (Hinduismus, Buddhismus) mit den
prophetischen Religionen (Judentum, Christum, Islam) und beschreibt
deren Unterschiede und Gemeinsamkeiten.
Die Unterscheidung der Religionen in mystische und prophetische
ist noch nicht sehr alt. Sie gehört in die Religionsgeschichte
dieses Jahrhunderts, als Religionshistoriker wie der Schwede Nathan
Söderblom (gest. 1931) und der Marburger Religionswissenschaftler
Friedrich Heiler (gest. 1967) - letzterer in Anlehnung an den
Marburger Theologen Rudolf Otto (gest. 1937) - empfahlen, der
Vielfalt religiöser Erscheinungen dadurch Rechnung zu tragen und
ein besseres Verstehen zu erreichen, dass sie Ordnungs- und
Einteilungskriterien einführten, die geeignet erschienen, die
unterschiedlichen Akzentsetzungen der Religionen zu erfassen. Auf
diese Weise konnte Unterschiedliches und Gemeinsames gleichermaßen
angesprochen und in einer Art Zusammenschau dargeboten werden.
Bestimmung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden
ist sinnvoll
Vom Standpunkt heutiger religionswissenschaftlicher Forschung aus
empfiehlt es sich daher, die auf diese Weise miteinander verbundenen
Ausdrucksformen von Religion zuerst einmal gesondert zu betrachten,
um dann im Vergleich das Gleiche wie das Verschiedene zu bestimmen
und durch eine systematische Überlegung zu Sinn und Zweck solcher
Unterscheidungen abzuschließen, aus der sich die Antwort auf die
Frage nach dieser Unterscheidung als einer weiterhin gültigen
finden lässt.
Die mystischen Religionen
Hinduismus und Buddhismus haben im Sinne der hier gemachten
Unterscheidung dies eine gemeinsam: sie sind Wege zur Seinserfahrung
in existentieller Weise, um aus dem Kreislauf der Wiedergeburten
auszusteigen und von der konkreten conditio humana wirklich erlöst
zu werden. Beim näheren Hinsehen unterscheiden sich diese
Seinserfahrungen deutlich voneinander, weil sowohl die
Erläuterungen des Kreislaufes der Wiedergeburten als auch die
Möglichkeiten seiner Überwindung verschieden sind. Deshalb wird im
folgenden zuerst vom Hinduismus und dann vom Buddhismus die Rede
sein.
Hinduismus – jeweilige Existenz ist eine Folge
früherer Taten
Obwohl "Hinduismus" eine Sammelbezeichnung für sehr
verschiedenartige religiöse Überlieferungen Indiens ist, gilt für
viele davon, dass sie den Menschen als eingebettet in den großen
Strom des Lebens sehen und die jeweilige konkrete historische
Existenzform als Folge von Taten (karma) aus früheren Leben
interpretieren, auf die weitere Leben folgen werden. Nichts ist in
dieser Abfolge zufällig. Auf welcher Daseinsstufe ein Lebewesen
wiedergeboren wird - ob als Mensch, Tier, Gott oder böser Geist
(wie auch innerhalb dieser Daseinsformen z.B. beim Menschen, ob als
Kind eines Brahmanen oder eines Shudra bzw. eines Reichen oder eines
Armen) - ist bedingt durch das Karma, das wie ein
Schulden-Guthaben-Konto wirkt und unweigerlich beim entsprechenden
Kontostand diese oder jene Daseinsform nach sich zieht. Die
unbestreitbar ungleichen Startbedingen ins Leben sind folglich für
alle Neugeborenen Folgen aus früheren Leben und somit weder
zufällig noch willkürlich, sondern der sichtbare Ausdruck des
Handelns in voraufgehenden Leben. Was demnach mich unverwechselbar
zu mich selbst macht und von anderen unterscheidet, ist mein Karma
und die damit verbundene historisch konkrete Form der Wiedergeburt.
Jedes Karma lässt einen gewissen
Handlungsspielraum
Bedeutende Hinduphilosophen glauben, dass mit diesem Hinweis auf
das Karma zwar viel zur individuellen Existenz des Menschen, aber
noch nicht alles über den Menschen gesagt ist. Sie lehren, dass in
jedem Menschen ein Selbst (atman) ist, das sich in dem Maße
entfalten kann, wie das Karma es zulässt. Daraus folgt, dass
manches Selbst in seinem Bewegungsspielraum sehr eingeengt ist,
andere dagegen mehr Entfaltungsmöglichkeiten haben, so dass das
Karma wie eine Verpackung des Selbst erscheint, die im einen Falle
eng, in einem anderen dagegen recht locker sitzt und jedenfalls
bedingt, weshalb Menschen unter sehr verschiedenartigen
Daseinsbedingungen ihr Leben meistern müssen.
Startkapital des Karma ist durch die vorherigen
Leben bestimmt
Der Spielraum möglicher Entfaltung ist durch die
Startbedingungen des Lebens festgelegt. Wie viel davon ausgeschöpft
und was an Chancen vertan wird, verändert das Startkapital des
Karma und führt dazu, dass nach diesem Leben jede Bilanz
unterschiedlich aussieht und jedes nächste Leben so beginnen
lässt, wie es dem neuen Kontostand des Karma entspricht. Gäbe es
also gar kein Karma, so wären alle Selbste gleich, und das heißt
für die Hinduphilosophen gleich gut. Es heißt sogar, dass die
Selbste ohne karmische Einbindung dem guten Urgrund der Welt
entsprächen, so dass die Formel lautet: Das Selbst in jedem
Lebewesen (d.h. atman) ist im Grunde identisch mit dem Selbst des
Kreislaufes der Wiedergeburten (Brahma), oder kürzer: Atman =
Brahma.
Die Formel Atman = Brahma
Die in der Kurzformal Atman = Brahma angesprochene Gleichsetzung
ist qualitativer Art, sie deutet eine Seinseinheit an, wie wenn der
Tropfen im Glas Wasser als von derselben Art wie das Wasser im Glas
beschrieben wird. Quantitativ besteht selbstverständlich ein
Unterschied zwischen dem Tropfen Wasser und dem Glas Wasser ebenso
wie zwischen Atman und Brahma, weshalb in quantitativer Hinsicht
diese Gleichsetzungsformel nicht gilt.
Der notwendige Weg zur Erkenntnis
Mit dieser Einsicht ist ein Dreifaches erreicht: erstens wird
gelehrt, dass Brahma (der göttliche Urgrund der Welt in allen
Lebewesen) in Form des Selbst (atman) zu finden ist; zweitens wird
angedeutet, dass das Wissen um diese letzte Identität alles
Individuelle (das Karma) verschwinden lässt, so dass namen- und
gestaltlos das Selbst in seinem göttlichen Urgrund aufgeht;
drittens wird klar, dass Einsicht in die wahren Seinszusammenhänge
erforderlich ist, um die Ketten des Karma zu sprengen und dem Selbst
seine volle Entfaltung im Sinne dieser letzten Einheit mit dem
göttlichen Urgrund zu ermöglichen. Der so angedeutete Weg ist der
Weg der Erkenntnis (jnana-marga). Er wird durch Vertiefung ins
Selbst beschritten und erreicht auf diese Weise den letzten Urgrund
allen Seins. Er darf daher als "Enstase" bezeichnet
werden, als eine mystische Seinserfahrung durch existentielle
Versenkung. (Hier und im folgenden wird eine Terminologie
aufgegriffen, die ausführlich erläutert wird in: Peter Antes; Die
Botschaft fremder Religionen, Mainz 1981) Alle Individualität ist
damit erloschen und eine letzte Einheit mit allem Seienden und dem
Sein schlechthin erlangt.
Ziel ist die Einheit Gottes mit der Person
Die apersonale Identität zwischen Atman und Brahma hat in
manchen indischen Traditionen auch eine personale Entsprechung, wenn
durch totale Hingabe (bhakti) an die Gottheit alles individuelle
Wollen und Streben aufgegeben wird und die Hingabe so ganzheitlich
auf Gott hinorientiert ist, dass sich der Gott (meist Krishna)
hierin wie im Spiegelbild wiedererkennt. Erneut ist die
Individualität der einzelnen Gläubigen aufgehoben, Krishna sieht
Krishna in jedem Lebewesen und lässt seine Gnade ohne
Einschränkung wirksam werden.
Zwei Wege zur Befreiung des Kreislaufs der
Wiedergeburten
Der Weg der Hingabe (bhakti-marga) ein ebenso effektiver Weg zur
Erlösung wie der Weg der Erkenntnis, weil beide von der karmischen
Wirkkraft befreien und dadurch die Verkettung im Kreislauf der
Wiedergeburten auflösen. Beide Wege zur Erlösung verbindet, dass
in allen Lebewesen das Göttliche präsent ist, wenn auch karmisch
in seinen Entfaltungsmöglichkeiten stark eingeschränkt. "Atman
= Brahma" oder "Krishna in allen Wesen" sind
unterschiedliche Formeln, um die mystische Seinserfahrung als
Begegnung mit dem göttlichen Kern allen Seins zum Ausdruck zu
bringen. Dies ist ganz anders im Buddhismus.
Der Buddhismus – das Karma ist keiner Person
zugehörig
Der Buddhismus geht anders als der Hinduismus davon aus, dass das
Karma keinen Träger hat. Auf diese Weise wird das Selbst (atman)
des Hinduismus abgelehnt und gesagt, dass lediglich ein karmischer
Konditionalnexus besteht, aber kein Selbst von einer Existenz zur
anderen übergeht, so dass mit Recht Wilhelm Busch in seinem Gedicht
"Tröstlich" die buddhistische Wiedergeburtsvorstellung so
umschreiben kann: "Die Lehre von der Wiederkehr Ist
zweifelhaften Sinns. Es fragt sich sehr, ob man nachher Noch sagen
kann: Ich bin's."
Der Mensch als ein Selbst-loses Lebewesen
Durch die Leugnung eines Selbst wird der Mensch ein ich-loser
Weltling, und selbst-los wie der Mensch sind alle anderen Lebewesen,
ja die Welt als solche auch. Wenn folglich ein Weltling zur Einsicht
dieser Selbst-losigkeit erwacht (bodhi), ist die karmische
Verkettung vernichtet, entsteht sie doch durch die Bindung aller
Empfindungen, Geistesregungen, Bewusstseinszustände und
Körperfunktionen an ein Ich, das als solches gar nicht existiert,
sondern in einem längeren Prozess der Ich-Werdung erst aufgebaut
wird, indem alle Bestandteile des Weltlings zwischen Scheitel und
Sohle sowie alle seine Erscheinungsformen zwischen Geburt und Tod in
diesem Ich, das man sich einbildet, zusammengefasst werden. Nur
Unkenntnis über den wahren Sachverhalt lässt diesen
Ich-Werdungsprozess so voranschreiten, dass das Ich zur alles
bestimmenden Einheit wird und den Menschen an die karmische Wirkung
bindet.
Der Mensch ist eine Zusammensetzung
verschiedener Bauteile
Die Einsicht über die tatsächliche Gegebenheit des Seins
entlarvt das Ich als Illusion und zersprengt jegliche karmische
Verkettung. Wie ein Wagen aus Deichsel, Karren, Rädern und
Schrauben "zusammengesetzt" und als ein solches
"Kompositum" Wagen genannt wird, so ist auch der Mensch
nur ein "Kompositum" aus fünf Daseinsfaktoren (Körper,
Empfindung, Wahrnehmung, Geistesregungen, Bewusstsein) ohne ein all
diese zusammenbindendes Selbst. Der Weltling ist somit genauso
selbst-los oder leer wie der Kreislauf der Wiedergeburten selbst.
Der Leugnung des Atman entspricht daher auch die Leugnung des
Brahma, um es in hinduistischer Terminologie zu sagen. Alles ist ein
einziges Wogen und Walten von Karma ohne Identitäten und Selbste.
Befreiung abermals durch Erkenntnis
Wieder ist die Erkenntnis über den tatsächlichen Sachverhalt
der Weg zur Befreiung aus der gegenwärtigen Misere. Sie vollzieht
sich in der Erfahrung der Selbst-losigkeit, also einer Art "Kenostase".
Selbst dort, wo dieses Erwachen zur Selbst-losigkeit noch nicht
erfolgt ist, kann das entsprechende selbst-lose Handeln bereits
eingeübt werden. Der achtfache Pfad weist auch für die den rechten
Weg, die im Vertrauen auf die Lehre sich so verhalten, als sei ihnen
bereits aufgegangen, wie sich alles verhält, wobei in vielen
Mahayana-Formen des Buddhismus das Leersein des Weltlings zum alles
durchdringenden Universalprinzip wird und somit wie ein
metaphysischer Grundbestandteil allen Seins erscheint.
Die Einheit des Seins
Ob die "Leere" in diesem Sinne metaphysisch gedeutet
werden kann oder ob einfach von der "Selbst-losigkeit" als
Kernaussage über Weltlinge und den Kreislauf der Wiedergeburt
ausgegangen wird, in beiden Fällen wird - wie schon beim Hinduismus
- von einer Einheitlichkeit des Seins ausgegangen, die erkennbar und
durch diese Erkenntnis auch erfahrbar ist und den mystischen Weg der
Versenkung als Weg zur Erlösung vorschlägt. Wissen ist in diesem
Sinne zugleich erlernbar und auch prinzipiell erfahrbar. Es
beinhaltet keine Aussagen, die auf Offenbarung von außen angewiesen
wären.
Die prophetischen Religionen
Die prophetischen Religionen des Judentums, Christentums und
Islams machen Aussagen über Gott und die Welt, die den Menschen
durch den Mund von Propheten mitgeteilt werden. Sie basieren auf dem
Glauben, dass Gott in seiner Barmherzigkeit und Güte die Kluft
zwischen seinem unzugänglichen Lichte und der Welt überbrückt und
speziell berufene Menschen wissen lässt, was sie ihren Zeitgenossen
als Botschaft weitersagen sollen. Diese Botschaft enthält Lehrreden
ebenso wie Anweisungen zum Handeln.
Ähnlichkeiten der drei prophetischen
Religionen
Inhaltlich findet sich in den Lehrreden der drei großen
monotheistischen Religionen des Judentums, Christentums und Islams
die Aussage über Gott als Schöpfer der Welt, als Herr der
Geschichte und als Richter der Menschen am Ende der Zeiten.
Bezüglich der Anweisungen zum Handeln gibt es ebenfalls große
Parallelen zwischen allen prophetischen Religionen, was die
Vorschriften für das zwischenmenschliche Zusammenleben angeht, wie
sie etwa im zweiten Teil der Zehn Gebote (Achtung der Eltern, nicht
töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen, nicht lügen) formuliert
worden sind. Weitere Vergleiche der Einzelheiten lassen auch
unterscheidende Besonderheiten erkennen: im Bereich der Lehre etwa
mit Blick auf das Christentum die Rede von Gott als "Vater,
Sohn und Heiliger Geist" oder hinsichtlich der Anweisungen zum
Handeln bezüglich des Islams ganz konkrete Vorschriften für den
strengen Umgang mit Gesetzesbrechern (z.B. Handabhacken bei
Diebstahl, Auspeitschen bei Ehebruch).
Trennung zwischen der Welt Gottes und der
Schöpfung
Vier Merkmale sind für die prophetischen Religionen
kennzeichnend: Zunächst ist eine deutliche Trennung zwischen der
Welt Gottes und der Schöpfung gegeben. Gott ist der ganz Andere,
der Absolute, dem gegenüber die Welt lediglich ein bedingtes Sein,
ein Sein in Abhängigkeit hat. Allen Versuchen von Mystikern, die
Einheit des Seins, letztlich die Einheit von göttlichem und
weltlichem Sein zu propagieren, sind die Dogmatiker der
prophetischen Religionen stets entschieden entgegengetreten.
Mitteilungen Gottes durch Offenbarung
Zweitens hat dieser Gott durch Offenbarung Mitteilungen gemacht,
die als absolut gültig zu betrachten sind. Sie gelten per se und
sind von daher unantastbar, ungeachtet dessen, ob sie von
menschlichem Spekulieren erreicht werden oder nicht. Sie
beanspruchen höchste Autorität und gelten, ob Menschen ihnen
zustimmen oder nicht.
Linearer Weltablauf
Drittens ist das Geschichtsbild vom Weltablauf linear. "Am
Anfang schuf Gott Himmel und Erde..." heißt es lapidar sowohl
in der Bibel als auch ähnlich im Koran. Die Welt hat, wie jedes
Produkt, einen Anfang und wird auch ein Ende haben, dessen Zeitpunkt
von Gott festgesetzt ist. Menschen leben nur einmal auf dieser Erde
und durchlaufen keine weiteren Leben oder andere Daseinsformen wie
bei der Vorstellung vom Kreislauf der Wiedergeburten.
Keine Methode zur empirischen Überprüfung der
Wahrheit
Viertens gilt, dass es keine Methode einer empirischen Prüfung
der Wahrheit dieser Aussagen gibt. Alles wird sich entweder nach dem
Tode bzw. am Jüngsten Tage als zutreffend herausstellen oder nicht.
Im Diesseits bleibt nichts anderes, als sich auf Gott zu verlassen,
d.h. von sich wegzugehen und in Gott festzumachen, wie es das hebr.
"heämin" (d.i. glauben) von der Wortwurzel her sagt. In
diesem Sinne ist es vielleicht möglich, diese Glaubenshaltung als
"Ekstase" oder, was das Christentum betrifft, als eine Art
"Synstase" zu kennzeichnen.
Zusammenfassende Unterscheidungsmerkmale der
Religionen
Die voraufgehende Darstellung der Vorstellungen von Hinduismus
und Buddhismus einerseits und der prophetischen Religionen
andererseits hat grundlegende Unterschiede im Verständnis von Welt,
Mensch und Gott deutlich werden lassen. Im Hinduismus - das ist
klargeworden - ist letztlich die Trennung zwischen Göttlichem und
Menschlichem ebenso aufgehoben wie zwischen der Daseinsform als
Mensch und der als Tier oder Gott, weil alle diese Daseinsformen
eingebettet sind in den unendlichen Zyklus der Wiedergeburten, der
alle Lebewesen von Geburt zum Tode und von dort zu einer neuen
Geburt vorantreibt, solange es nicht gelingt, das Selbst aus dieser
Gebundenheit im Kreislauf der Wiedergeburten zu befreien. Zyklisch
ist das Denken auch im Buddhismus, wobei weder der Kreislauf als
solcher noch die Lebewesen ein eigenständiges Selbst haben, sondern
als selbst-lose (leere) Weltlinge existieren, dies aber erst
erkennen müssen, um sich nicht mehr karma-orientiert, sondern
absichtslos zu verhalten. Beiden religiösen Traditionen gemeinsam
ist, dass die mystische Versenkung den Weg zur erlösenden
Erkenntnis eröffnet. Die prophetischen Religionen lehren statt der
erlösenden Erkenntnis ein Wissen, das Gott den Menschen durch
Propheten mitgeteilt hat und das inhaltlich besagt, dass es einen
Gott gibt, der absolut, der ganz Andere ist und dem die Welt als
Sein in Abhängigkeit seine Existenz verdankt. Das damit verbundene
Geschichtsbild ist linear, die Aufgabe des Menschen liegt im
gehorsamen Erfüllen der geoffenbarten Gebote.
Gibt es überhaupt etwas Gemeinsames ?
Diese kurze Zusammenfassung der Befunde der Einzeldarstellungen
zeigt, dass die Unterschiede gravierend sind. Die Adjektive
"mystisch" und "prophetisch" weisen auf völlig
verschiedene Formen von Religion hin, so dass man sich fragen muss,
ob die Bezeichnung "Religion" hier nicht eine
Gemeinsamkeit suggeriert, die durch nichts mehr im empirischen
Befund abgedeckt ist. Die Frage ist berechtigt und lässt sich auch
schon an die klassische Religionsphänomenologie eines Friedrich
Heiler wie aller anderen Vertreter dieser Disziplin stellen. Sie
alle haben mit Hilfe eines differenziert distinktiven Rasters
Unterschiede zwischen den Religionen deutlich gemacht, die oft weit
mehr ins Gewicht fallen als alle Bemühungen, Gemeinsamkeiten zu
konstruieren. Hinzu kommt, dass trotz weiterer Versuche, noch andere
Religionen in dieses Unterscheidungsmodell einzubinden, bei weitem
nicht alle Religionen flächendeckend unter die beiden Bezeichnungen
"mystisch" und "prophetisch" einzuordnen sind
(z.B. Naturreligionen, Shintoismus, germanische Religion).
Suche nach dem Wesen der Religion
Die klassischen Vertreter der Religionsphänomenologie waren hier
weniger radikal, weil sie von der Religion als in allen religiösen
Erscheinungsformen manifest überzeugt waren. Ihre Suche nach
Religion und der adäquaten Beschreibung ihres Wesens blieb
allerdings erfolglos. Ihre Ergebnisse waren wenig überzeugend und
sind vielfach zurecht kritisiert worden, weil die empirische
Forschung eben zeigte, wie unterschiedlich die Religionen
tatsächlich sind. Damit sind die Unterschiede immer stärker ins
Blickfeld gerückt worden und die erwarteten oder erhofften
Gemeinsamkeiten in vielen Bereichen verschwunden.
Fazit: Prophetische und mythische Religionen
haben keine zentralen Gemeinsamkeiten
Mit Blick auf die Unterscheidung zwischen mystischen und
prophetischen Religionen lässt sich nun sagen, dass die hier
vorgenommene Analyse zeigt, dass diese beiden Typen von Religionen
eigentlich in nichts Zentralem übereinstimmen. Die vorgeschlagene
Unterscheidung trägt diesem tatsächlich festzustellenden Befund
Rechnung, indem sie zwei Kategorien benennt, die kaum etwas
gemeinsam haben. Die Verwendung des Wortes Religion für beide Typen
suggeriert dabei eine Gemeinsamkeit, die keiner empirischen
Überprüfung standhält. Deshalb ist aber die Unterscheidung
dringend geboten und fruchtbar zugleich, weil sie der Akzentuierung
der Unterschiedlichkeit dient, sofern diese radikal verfochten wird
und nicht eine Gemeinsamkeit mit einigen differenzierenden Nuancen
gemeint ist. Als flächendeckendes Unterscheidungsmerkmal für alle
existierenden Religionen schließlich ist diese Klassifizierung
nicht geeignet, weil sie nur einige wichtige Religionen, bei weitem
nicht alle historisch feststellbaren erfasst.
Bearbeitet und gekürzt von Ernst Pohn
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