Fachartikel

Projekt Weltethos: Eine gemeinsame Basis für westliche und östliche Religionen ?

Von Ulrich H.J. Körtner (Biografie)

 

Kein Überleben ohne Weltethos. Kein Weltfriede ohne Religionsfriede. Kein Religionsfriede ohne Religionsdialog. So die Grundthesen, auf welchen das "Projekt Weltethos" des Tübinger katholischen Theologen Hans Küng beruht. Ulrich Körtner setzt sich kritisch mit dem Ansatz Küngs auseinander.

Weil der Fortbestand von Menschheit und Natur global gefährdet ist, sieht Küng "die Notwendigkeit eines Ethos für die Gesamtmenschheit" gegeben. Von dieser Notwendigkeit und den Chancen, ein universalgültiges, weltweit auf Akzeptanz stoßendes Menschheitsethos zu formulieren, handelt Küngs leidenschaftliches Plädoyer. Es versteht sich als theologisches Seitenstück zu Hans Jonas' "Prinzip Verantwortung".

Religiöser Glaube hat Antworten, die die Philosophie erst suchen muss

Wie Küng ist auch Jonas davon überzeugt, dass die Weltreligionen bei der Ausarbeitung und Durchsetzung einer globalen Verantwortungsethik eine wichtige Rolle zu spielen haben, weil "religiöser Glaube hier schon Antworten hat, die die Philosophie erst suchen muss". Die Hauptaufgabe bei der Entwicklung einer auch in der Zukunft das Überleben von Mensch und Natur ermöglichenden Ethik weist Jonas freilich der Philosophie zu. Religiöser Glaube kann nämlich nach Jonas zwar "sehr wohl der Ethik die Grundlage liefern, ist aber selbst nicht auf Bestellung da, und an den abwesenden oder diskreditierten lässt sich selbst mit dem stärksten Argument der Benötigung nicht appellieren"

Allein die Religion kann dem geforderten Weltethos die nötige Autorität verleihen

Ohne die Religion gegen die Vernunft ausspielen zu wollen, setzt Küng seine Hoffnung ungleich stärker als Jonas auf die Religion. Es ist die Religion, genauer gesagt: es sind die Weltreligionen, welche den Grund für ein Weltethos globaler Verantwortung legen sollen. Wenn auch die menschliche Vernunft in der Lage ist, ein solches Ethos eigenständig zu formulieren, so ist es nach Küng doch einzig die Religion, welche dem geforderten Weltethos die nötige Autorität verleihen kann. Nur die Religionen, welche die Menschen auf ein Unbedingtes verweisen, können nach Küngs Auffassung "die Unbedingtheit und Universalität ethischer Verpflichtungen begründen".

UNESCO nimmt Küngs Motto auf

Küngs Projekt Weltethos ist auf breite Resonanz gestoßen, bis hinein in den Bereich der Politik. So griff die UNESCO Hans Küngs Ideen auf und veranstaltete im Jahre 1989 in Paris ein Kolloquium, das unter Küngs Motto: "Kein Weltfriede ohne Religionsfriede" stand und führende Vertreter aller Weltreligionen zum Gedankenaustausch lud.

Das "wahrhaft Menschliche" als Kriterium für das Projekt Weltethos

Auch wenn Repräsentanten aller großen Religionen der Einladung der UNESCO folgten, stellt sich noch immer die Frage, ob Küngs Konzept einer Ethik der planetarischen Verantwortung tatsächlich eine gemeinsame Basis für westliche und östliche Religionen abgibt. Küngs Weltethos orientiert sich am "wahrhaft Menschlichen" als universalem Kriterium, das im Menschenrechtsgedanken seine Konkretion erfährt.

Kann ein Ethos universale Gültigkeit beanspruchen?

Kritiker aber stellen die Frage, wie universal eigentlich die Menschenrechte sind, welche doch, historisch betrachtet, der abendländischen bzw. der europäisch-nordamerikanischen Kultur entstammen und ihre religiösen Wurzeln in der jüdisch-christlichen Tradition haben. Kann ein Ethos von historisch begrenzter Herkunft universale, planetarische Gültigkeit beanspruchen? Ist es zwischen sämtlichen Religionen dieser Welt konsensfähig? Bietet es eine sinnvolle Basis für einen partnerschaftlichen Dialog der Religionen? Oder fördert es heimlich die Dominanz des Christentums im angestrebten Dialog? Weist Küngs Projekt Weltethos lediglich die Richtung in einem noch völlig offenen Prozess der gemeinsamen Suche nach einem universalgültigen Ethos? Oder nimmt es das Ergebnis der Suche aus christlicher Perspektive einseitig vorweg? Ist es überhaupt vorstellbar, dass die Weltreligionen sich auf ein gemeinsames Weltethos verständigen können? Oder bleibt ein solches Ethos der Menschheit ein frommer Wunsch, eine fragwürdige Illusion? Kommt den Religionen also jene tragende Rolle zu, welche Küng ihnen zuschreibt?

Verschiedene Religionen verschärfen ethischen Pluralismus

Aus Sicht der großen Weltreligionen scheint es überflüssig zu sein, nach einem Weltethos erst umständlich zu suchen, sieht doch jede Religion die Frage nach einem universalgültigen Ethos in ihrer eigenen Überlieferung längst beantwortet. Statt gemeinsam den Grund für ein erst noch zu entwickelndes Ethos planetarischer Verantwortung zu legen, vertreten die Religionen eine Vielzahl von konkurrierenden Ethiken. Die Religionen fördern, wie es zunächst scheint, ganz und gar nicht die Überwindung des von vielen Seiten beklagten ethischen Pluralismus und Relativismus, sondern verschärfen diesen noch durch ihre miteinander konkurrierenden universalen Geltungsansprüche.

Gemeinsamkeit aller Religionen ist das Prinzip der Verantwortung

Unbeschadet der vorhandenen Unvereinbarkeiten und Exklusivitätsansprüche glaubt Küng allerdings in ethischen Grundfragen zwischen den Weltreligionen Konvergenzen beobachten zu können. Nach seiner Überzeugung lassen sich die Religionen allesamt auf das Prinzip Verantwortung ansprechen und können ihre Anhänger auf eben dieses Prinzip verpflichten.

Du sollst keine Unschuldigen töten 

Unbeschadet der Konkurrenz ihrer Weltdeutungen und Heilserwartungen konvergieren die Weltreligionen nach Küng in einem gemeinsamen Grundethos, dessen fundamentale Leitsätze die sogenannte Goldene Regel ist. Diese begründet auch die Konvergenz zwischen den Religionen und der abendländischen Tradition einer gegenüber der Religion autonomen Philosophie, weil Küng z. B. den kategorischen Imperativ Kants "als eine Modernisierung, Rationalisierung und Säkularisierung" der Goldenen Regel versteht. Neben der denkbar allgemein gehaltenen Goldenen Regel meint Küng, vier Leitsätze elementarer Menschlichkeit gefunden zu haben, die in allen Religionen wiederkehren: 1. "Du sollst keine Unschuldigen töten", 2. "Du sollst nicht lügen oder Versprechen brechen", 3. "Du sollst nicht die Ehe brechen oder Unzucht treiben", 4. "Du sollst Gutes tun".

Stolz, Neid und Geiz gehören zu den Grundverfehlungen des Menschen

Diese Imperative werden ergänzt durch einen allen Religionen gemeinsamen Katalog von Lastern und Tugenden, der sich bei Küng an der Auflistung von sieben Haupt- oder Wurzelsünden und vier Kardinaltugenden orientiert, wie sie aus der christlichen Tradition bekannt ist. Als Grundverfehlungen des Menschen gelten Stolz, Neid, Zorn, Geiz, Unkeuschheit, Unmäßigkeit und Trägheit. Die aus der griechischen Antike übernommenen Kardinaltugenden sind Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigkeit.

Bedeutung hat, was im gelebten Leben getan oder unterlassen wird

Dass die religiösen Weltdeutungen und Menschenbilder der großen Religionen miteinander konkurrieren, dass sie einander teilweise sogar widersprechen, stellt nach Küngs Überzeugung sein Projekt Weltethos nicht in Frage. Nach Küng kommt es nicht so sehr auf das verschiedene theoretische Bezugssystem an, sondern auf das, was ganz praktisch im gelebten Leben getan oder unterlassen werden soll. Ob dem konkret, gequälten oder verletzten Menschen aus christlicher oder buddhistischer oder einer anderen religiösen Haltung heraus geholfen wird, dürfte dem Betroffenen zunächst einerlei sein.

Kritik an Küngs Weltethos: Was bedeutet es, dass man keinen Unschuldigen töten darf?

Die von Küng formulierten Maximen elementarer Menschlichkeit erzeugen lediglich den Schein einer Übereinstimmung, der sich auflöst, sobald man fragt, wie diese Maximen in den einzelnen Religionen und im ethischen Konfliktfall inhaltlich gefüllt werden. Was soll beispielsweise bedeuten, dass man keinen Unschuldigen töten darf? Hat die islamische Scharia recht oder unrecht, wenn sie den Übertritt vom Islam zum Christentum als todeswürdiges Vergehen einstuft? Ist es religiös akzeptabel, dass Ehen geschieden werden? Oder ist die Ehe, wie es der christlichen Tradition entspricht, als unauflösbar zu betrachten? Was wird sodann in den verschiedenen Religionen für Unzucht gehalten? Die Bewertungsmaßstäbe hierfür gehen nicht nur zwischen den Religionen, sondern auch innerhalb derselben recht erheblich auseinander.

Menschenrechte sind Testfall für das Projekt Weltethos

Wie auch Küng weiß, haben alle Religionen mit dem Menschenrechtsgedanken ihre traditionellen Schwierigkeiten, weil die Religionsfreiheit als elementares Menschenrecht deklariert wird. Wechselseitig stehen die Idee der Menschenrechte und die großen Weltreligionen zueinander in einem zwiespältigen Verhältnis. Ihrem Ursprung nach werden die Menschenrechte universal proklamiert, aber nicht religiös begründet. Die eingeklagte Religionsfreiheit ist das historische Ergebnis des konfessionellen Bürgerkrieges im Europa des Reformationszeitalters sowie der europäischen Aufklärung, welche die Religion zur Privatsache erklärte und auf die strikte Trennung von Religion und Politik drängte, am radikalsten in der Französischen Revolution. Freiheit der persönlichen Religionsausübung und Kritik an der Religion selbst hängen in der europäischen Menschenrechtstradition miteinander zusammen. Religiöse Toleranz im Sinne der europäisch-nordamerikanischen Menschenrechtstradition bedeutet, dass jeder nach seiner Facon selig werden kann, die Frage der ewigen Seligkeit und des rechten Heilsweges zu ihr aber nicht die Fragen der Staatsraison berühren soll.

Göttliche Pflicht zur Religion

So kritisch die Stellung der Menschenrechtstradition gegenüber den einzelnen Religionen und ihren gesellschaftlichen Ansprüchen ist, so spannungsvoll ist umgekehrt deren Verhältnis zur Idee der Menschenrechte. Denn die Religionen bejahen, solange sie ihren eigenen Geltungsanspruch ernstnehmen, nicht nur das Recht zur Religionsausübung, sondern führen ihr eigenes Dasein auf eine göttliche Pflicht zur Religion zurück. Diese Pflicht zu relativieren, steht nach dem Selbstverständnis der Religionen keinesfalls im menschlichen Ermessen. Die Religionen betrachten sich daher keineswegs als reine Privatangelegenheit von Bürgern eines tunlichst weltanschaulich neutralen Staatswesens. So haben viele christliche Kirchen die Menschenrechte bis ins 20. Jahrhundert hinein als Ausdruck eines atheistischen Säkularismus und eines falschen Autonomiestrebens verurteilt.

Sitte, Moral und staatliches Recht wurzelten in göttlicher Rechtssetzung

Gegenüber Gott, so wurde von kirchlicher Seite erklärt, habe der Mensch keine Rechte, sondern lediglich Pflichten. Sitte, Moral und staatliches Recht wurzelten nach dem damaligen Verständnis der Kirchen nicht in einem autonom begründeten Menschenrecht bzw. in der menschlichen Autonomie, sondern in göttlicher Rechtssetzung, die man in den alttestamentlichen Geboten und Rechtsvorschriften, vor allem im Dekalog, sowie in der Bergpredigt und anderen neutestamentlichen Anweisungen zu einem christlichen Leben vorzufinden glaubte.

Frage der Menschenrechte besonders im Islam umstritten

Die rein säkulare Begründung der Menschenrechte bereitet noch heute Teilen des Christentums erhebliche Schwierigkeiten, nicht minder aber den übrigen Weltreligionen. Besonders umstritten ist die Frage der Menschenrechte bekanntlich im Islam, während sich die großen christlichen Kirchen den Menschenrechtsgedanken inzwischen weitgehend zueigen gemacht haben. In außereuropäischen Ländern wird zudem die Frage aufgeworfen, ob der universale Menschenrechtsgedanke in Wahrheit ein ideologisches Instrument der Machtpolitik der westlichen Industrienationen gegenüber den Ländern der sogenannten Dritten Welt ist, also der Fortsetzung der ehemaligen Kolonialpolitik mit anderen Mitteln dient. Nicht nur in islamischen Ländern wird die Menschenrechtsbewegung als· neuzeitliche Form christlicher Kreuzzugsmentalität beargwöhnt. Während die Menschenrechtsdeklarationen vom Menschen im Singular sprechen, wird die Menschheit von Seiten der Kritiker "im Plural dekliniert". Und wenn schon Menschenrechte anerkannt werden müssen, so soll dies nur unter der Voraussetzung geschehen, dass jeder Kultur das Recht, jeder Religion die Pflicht zugebilligt wird, Umfang und Geltungsbereich von Menschenrechten eigenständig zu bestimmen, keineswegs aber kritiklos die Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen von 1948 zum Maßstab dessen zu erheben, was menschlich oder unmenschlich ist. Die Menschenrechtsidee europäischer und nordamerikanischer Provenienz steht unter dem Verdacht, dass ihr universaler Geltungsanspruch lediglich eine säkulare Variante der ehedem proklamierten Absolutheit des Christentums ist.

Gewachsenes Problembewusstsein gegenüber Menschenrechten

Andererseits ist aber zu beobachten, dass nicht nur im Christentum, sondern auch in den übrigen Religionsgemeinschaften das Problembewusstsein hinsichtlich der Menschenrechte gewachsen ist. Dass der Islamrat für Europa 1981 eine "Allgemeine Islamische Menschenrechtserklärung" veröffentlicht hat und im August 1990 die sogenannte Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam verabschiedet wurde, ist für diese Entwicklung ein eindrucksvoller Beleg. Überhaupt fördern die vielfältigen Bemühungen um einen Dialog der Religionen weltweit die Menschenrechtsdiskussion. Dennoch ist das Verhältnis der Religionen zum Menschenrechtsgedanken nach wie vor zwiespältig. Noch am stärksten hat sich bislang das Christentum den Menschenrechtsgedanken zueigen gemacht. Doch muss man einerseits kritisch fragen, wieweit die Menschenrechte eigentlich innerhalb der Kirchen selbst geachtet werden, und andererseits auf den christlichen Fundamentalismus verweisen, der weltweit auf dem Vormarsch ist und eine rein säkulare Begründung von Recht und Moral ablehnt.

Menschenrechte nur im Rahmen der Scharia

Doch auch was den Islam betrifft, ist Nüchternheit am Platze. Die erwähnten islamischen Menschenrechtserklärungen machen unmissverständlich klar, dass Menschenrechte nach islamischer Auffassung nur im Rahmen der Scharia gelten, die als solche unangetastet bleibt. So betont die Kairoer Erklärung die gesellschaftliche Führungsrolle der Umma. Sie legt in Artikel 24 fest, dass alle Rechte und Freiheiten, welche die Erklärung anerkennt, der Scharia unterstehen. Nach Artikel 25 ist diese die einzig verbindliche Quelle für die Auslegung der islamischen Menschenrechtsartikel. Offenbar ist das Ziel der bisherigen islamischen Menschenrechtserklärungen "die Apologetik des Islams als universaler Religion und die Schaffung einer weltweiten islamischen Ordnung", nicht aber die Formulierung eines alle Religionen einschließenden oder transzendierenden Weltethos. 

Praktizierung der von der Scharia vorgesehenen Körperstrafen

Konkret heißt dies, dass die islamischen Menschenrechtserklärungen daran festhalten, der Satz des Korans: "Kein Zwang in der Religion" lasse nur für die Angehörigen von Judentum und Christentum eine Toleranz zu. Keinesfalls aber sei der Übertritt vom Islam zu einer dieser beiden Religionen, geschweige denn zu einer anderen Religionsgemeinschaft gestattet. Islamische Staaten praktizieren auch heute noch die von der Scharia vorgesehenen Körperstrafen, z. B. Handabschneiden für Diebstahl, Auspeitschung für Alkoholgenuss, Steinigung für Ehebruch. Obwohl solche Strafen im Widerspruch zu Artikel 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und zum 1984 getroffenen "Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe" stehen, betont die Kairoer islamische Menschenrechtserklärung in Artikel 19d, dass die Strafbestimmungen der Scharia unvermindert gültig sind.

Rechte für Mann und Frau im Islam nicht gleich

Auch was die Stellung der Frau betrifft, besteht zwischen der westlichen Kodifizierung von Menschenrechten und islamischen Menschenrechtsvorstellungen keine Übereinstimmung. Artikel 6 der Kairoer Erklärung lautet: "a) Die Frau ist dem Mann an Würde gleich, sie hat das Recht, ihren Namen und ihre Abstammung beizubehalten. b) Der Ehemann ist für den Unterhalt und das Wohl der Familie verantwortlich." Die Erklärung spricht wohl von gleicher Würde, nicht aber von gleichen Rechten für Mann und Frau. Das traditionelle islamische Familien- und Erbrecht sowie die Einschränkung der politischen Rechte von Frauen bleiben in der Kairoer Erklärung unangetastet. Welche Konflikte sich wiederum am Schleiertragen entzünden können, zeigen einerseits seine gewaltsame Durchsetzung in islamischen Ländern wie dem Iran, andererseits sein Verbot in Frankreichs öffentlichen Schulen.

Islamische Menschenrechtserklärungen

Die islamischen Menschenrechtserklärungen verdeutlichen beispielhaft, dass die Frage nach wie vor offen ist, ob sich die Menschenrechte der westlichen Tradition derart universalisieren lassen, dass sie auch mit den Wertvorstellungen östlicher Religionen in Einklang gebracht werden können Das Problem verschärft sich noch dadurch, dass die westliche Menschenrechtstradition nicht von der Idee einer demokratisch verfassten pluralistischen und toleranten Gesellschaft abgelöst werden kann. Schließlich ist es der demokratisch, weltanschaulich neutrale Staat, welcher die individuellen und sozialen Menschenrechte schützen und im Konfliktfall durchsetzen soll. Eine derartige Gesellschafts- und Staatsform aber widerspricht dem bis heute gültigen Gesellschaftsverständnis des Islams. Muslime, welche eine radikale Reformation des Islams verlangen und aufgrund einer historisch-kritischen Interpretation des Korans die westlich-moderne Menschenrechtstradition mit den Islam grundsätzlich für vereinbar halten, müssen nach wie vor als Außenseiter gelten.

Küngs Weltethos gerät an Grenzen

Es soll hier nicht darum gehen, die genannten Einzelprobleme zu diskutieren oder gar die zitierten islamischen Menschenrechtserklärungen einseitig zu kritisieren. Dies würde dem Geist des Dialogs, der zunächst einmal den wechselseitigen Respekt vor den verschiedenen Traditionen verlangt, von Grund auf widersprechen. Die bestehenden Differenzen in der Menschenrechtsfrage zeigen aber deutlich, wie schnell Küngs Projekt Weltethos an seine Grenzen stößt sobald nach der ethischen Konkretion seiner allgemeinen Maximen gefragt wird.

Küng erklärt den Menschen zum Ziel und Kriterium eine universalen Verantwortungsethik. Sein Humanitätsbegriff aber meint die "Grundwerte und Grundüberzeugungen der Französischen Revolution'. Dass diese unter allen Weltreligionen konsensfähig sind, wird man bezweifeln müssen. Wenn Küng zudem dem Christentum bei der Entwicklung eines an den Idealen der französischen Revolution orientierten Weltethos unter den Weltreligionen eine Vorreiterrolle zuweist, so werden die übrigen Religionsgemeinschaften mit Recht die Frage stellen können, wodurch eine solche Dominanz des Christentums gerechtfertigt sei. Dass zwischen allen Religionen eine substantielle Konvergenz in der Menschenrechtsfrage besteht, lässt sich freilich nicht behaupten. Diese Feststellung kann eigentlich nur anspornen, den Dialog zu intensivieren, aber trotz aller Dialogbereitschaft bleibt es bei einer legitimen Konkurrenz, der verschiedenen Religionen und Weltanschauungen bleiben. Übereinstimmungen und Annäherungen im gegenseitigen Verstehen sind natürlich anzustreben und auch möglich, ja sogar notwendig.

Alternativen zum Projekt Weltethos

Es drängt sich die Frage auf, welche Alternativen sich zu Küngs Projekt Weltethos bieten. Ein bedenkenswertes Modell hat der evangelische Theologe Ulrich Schoen entwickelt. Nach dem Vorbild der vor einigen Jahren in Madrid begonnenen, inzwischen zu ersten Erfolgen führenden, neuen Nahostgespräche plädiert Schoen für ein "Madrid der Ethiken". ' Was Schoen am jüngsten Nahost-Friedensprozess fasziniert, ist die Art und Weise, unter welch geringen Vorbedingungen das Gespräch der verfeindeten Parteien in Madrid aufgenommen wurde. Das Madrider Treffen war eine Art von Happening, welches darauf baute, dass durch das bloße Zusammenkommen ein gruppendynamischer Prozess in Gang gebracht würde. In ähnlicher Weise ist nach Schoen das Modell einer "interreligionellen Ethik" vorstellbar, deren einzige Vorbedingung der Wille ist, eine für die Menschheit bedrohliche Situation zu entschärfen. Die verschiedenen Ethiken setzen sich an einen Tisch ohne einen gemeinsamen Konsens vorauszusetzen. Schoen setzt dem Dialog das Ziel, sich darüber zu verständigen, was menschlich beziehungsweise unmenschlich ist.

Wo liegen die Gemeinsamkeiten?

Ich halte dieses Konzept eines Dialogs der Religionen für tragfähiger und zugleich realistischer als Küngs Projekt Weltethos, weil es den fundamentalen Konflikten, die zwischen den Religionen und ihren Geltungsansprüchen bestehen, besser gerecht wird. Angesichts der Probleme im Zusammenleben der heutigen multikulturellen Gesellschaften und angesichts der globalen Gefahren für die Menschheit scheint es mir notwendig, die Frage nach gemeinsamen Werten und Normen zu ersetzen durch diejenige nach gemeinsamen Handlungszielen. Nicht was wir dürfen und sollen, sondern was wir unbeschadet unserer unterschiedlichen kulturellen Prägung und religiösen Orientierung gemeinsam wollen, ist die entscheidende Frage in einem von manchen gern als "postmodern" bezeichneten Zeitalter.

Küng überschätzt politische Rolle der Religionen

Religionsgespräche sind ein wichtiger Beitrag zur Suche nach globalen und regionalen Lösungen für die bedrängenden Gegenwarts- und Zukunftsfragen der Menschheit. Küng steht allerdings in der Gefahr, die politische Rolle der Religionen zu überschätzen. Gewiss wird es keinen Weltfrieden ohne Frieden zwischen den Religionen geben. Historisch wie aktuell sind die Religionen aber keineswegs nur die Initiatoren, sondern immer auch der Gegenstand von Befriedungsprozessen. Zwischen Religionsfrieden und politischem Frieden besteht kein einseitiges Bedingungsverhältnis. Zweifellos können die Religionsgemeinschaften einiges zur Versöhnung der Völker beitragen. Andererseits aber ist der Friede zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften ein wichtiges Ziel politischer Bemühungen, sodass sich die These Küngs auch umkehren lässt: "Kein Religionsfriede ohne weltlichen Frieden!"

Keine Religion kann die Selbstzerstörung der gesamten Menschheit mit ihren Überzeugungen vereinbaren

Worauf aber kann sich die Hoffnung gründen, dass die Religionsgemeinschaften an einem ernsthaften Dialog über ihre Rolle in den das Überleben der Menschheit gefährdenden Konflikten teilzunehmen bereit sind? Meines Erachtens kann sich diese Hoffnung darauf stützen, dass es wohl keine Religion gibt, welche die Selbstzerstörung der gesamten Menschheit mit ihren religiösen Überzeugungen in Einklang bringen kann. Dass es zum Gespräch zwischen den Religionsgemeinschaften über die Ursachen der globalen Gefahren und etwaige Lösungsmöglichkeiten kommt, setzt freilich voraus, dass diese Gefahren überhaupt gesehen und ernstgenommen werden. Ohne sich im vorhinein auf inhaltliche Vorgaben zu verständigen, können die Angehörigen der verschiedenen Religionen in das Gespräch eintreten, getragen von der bangen, durch keine Garantie abgesicherten Hoffnung, die sich an das Wort des deutschen Dichters Hölderlin hält: "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch" . Doch wer sieht die Gefahr und wer nimmt sie ernst?

 

Artikel bearbeitet von ORF ON

 

>> Religiöser Glaube hat Antworten, die die Philosophie erst suchen muss

>> Allein die Religion kann dem geforderten Weltethos die nötige Autorität verleihen

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>> Das "wahrhaft Menschliche" als Kriterium für das Projekt Weltethos

>> Kann ein Ethos universale Gültigkeit beanspruchen?

>> Verschiedene Religionen verschärfen ethischen Pluralismus

>> Gemeinsamkeit aller Religionen ist das Prinzip der Verantwortung

>> Du sollst keine Unschuldigen töten 

>> Stolz, Neid und Geiz gehören zu den Grundverfehlungen des Menschen

>> Bedeutung hat, was im gelebten Leben getan oder unterlassen wird

>> Kritik an Küngs Weltethos: Was bedeutet es, dass man keinen Unschuldigen töten darf?

>> Menschenrechte sind Testfall für das Projekt Weltethos

>> Göttliche Pflicht zur Religion

>> Sitte, Moral und staatliches Recht wurzelten in göttlicher Rechtssetzung

>> Frage der Menschenrechte besonders im Islam umstritten

>> Gewachsenes Problembewusstsein gegenüber Menschenrechten

>> Menschenrechte nur im Rahmen der Scharia

>> Praktizierung der von der Scharia vorgesehenen Körperstrafen

>> Rechte für Mann und Frau im Islam nicht gleich

>> Islamische Menschenrechtserklärungen

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>> Alternativen zum Projekt Weltethos

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>> Küng überschätzt politische Rolle der Religionen

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