Projekt Weltethos: Eine gemeinsame Basis für
westliche und östliche Religionen ?
Von Ulrich H.J. Körtner (Biografie)
Kein Überleben ohne Weltethos. Kein Weltfriede
ohne Religionsfriede. Kein Religionsfriede ohne Religionsdialog. So
die Grundthesen, auf welchen das "Projekt Weltethos" des
Tübinger katholischen Theologen Hans Küng beruht. Ulrich
Körtner setzt sich kritisch mit dem Ansatz Küngs auseinander.
Weil der Fortbestand von Menschheit und Natur
global gefährdet ist, sieht Küng "die Notwendigkeit eines
Ethos für die Gesamtmenschheit" gegeben. Von dieser
Notwendigkeit und den Chancen, ein universalgültiges, weltweit auf
Akzeptanz stoßendes Menschheitsethos zu formulieren, handelt Küngs
leidenschaftliches Plädoyer. Es versteht sich als theologisches
Seitenstück zu Hans Jonas' "Prinzip Verantwortung".
Religiöser Glaube hat
Antworten, die die Philosophie erst suchen muss
Wie Küng ist auch Jonas davon überzeugt, dass
die Weltreligionen bei der Ausarbeitung und Durchsetzung einer
globalen Verantwortungsethik eine wichtige Rolle zu spielen haben,
weil "religiöser Glaube hier schon Antworten hat, die die
Philosophie erst suchen muss". Die Hauptaufgabe bei der
Entwicklung einer auch in der Zukunft das Überleben von Mensch und
Natur ermöglichenden Ethik weist Jonas freilich der Philosophie zu.
Religiöser Glaube kann nämlich nach Jonas zwar "sehr wohl der
Ethik die Grundlage liefern, ist aber selbst nicht auf Bestellung
da, und an den abwesenden oder diskreditierten lässt sich selbst
mit dem stärksten Argument der Benötigung nicht appellieren"
Allein die Religion kann dem
geforderten Weltethos die nötige Autorität verleihen
Ohne die Religion gegen die Vernunft ausspielen
zu wollen, setzt Küng seine Hoffnung ungleich stärker als Jonas
auf die Religion. Es ist die Religion, genauer gesagt: es sind die
Weltreligionen, welche den Grund für ein Weltethos globaler
Verantwortung legen sollen. Wenn auch die menschliche Vernunft in
der Lage ist, ein solches Ethos eigenständig zu formulieren, so ist
es nach Küng doch einzig die Religion, welche dem geforderten
Weltethos die nötige Autorität verleihen kann. Nur die Religionen,
welche die Menschen auf ein Unbedingtes verweisen, können nach
Küngs Auffassung "die Unbedingtheit und Universalität
ethischer Verpflichtungen begründen".
UNESCO nimmt Küngs Motto auf
Küngs Projekt Weltethos ist auf breite Resonanz
gestoßen, bis hinein in den Bereich der Politik. So griff die
UNESCO Hans Küngs Ideen auf und veranstaltete im Jahre 1989 in
Paris ein Kolloquium, das unter Küngs Motto: "Kein Weltfriede
ohne Religionsfriede" stand und führende Vertreter aller
Weltreligionen zum Gedankenaustausch lud.
Das "wahrhaft
Menschliche" als Kriterium für das Projekt Weltethos
Auch wenn Repräsentanten aller großen
Religionen der Einladung der UNESCO folgten, stellt sich noch immer
die Frage, ob Küngs Konzept einer Ethik der planetarischen
Verantwortung tatsächlich eine gemeinsame Basis für westliche und
östliche Religionen abgibt. Küngs Weltethos orientiert sich am
"wahrhaft Menschlichen" als universalem Kriterium, das im
Menschenrechtsgedanken seine Konkretion erfährt.
Kann ein Ethos universale
Gültigkeit beanspruchen?
Kritiker aber stellen die Frage, wie universal
eigentlich die Menschenrechte sind, welche doch, historisch
betrachtet, der abendländischen bzw. der
europäisch-nordamerikanischen Kultur entstammen und ihre
religiösen Wurzeln in der jüdisch-christlichen Tradition haben.
Kann ein Ethos von historisch begrenzter Herkunft universale,
planetarische Gültigkeit beanspruchen? Ist es zwischen sämtlichen
Religionen dieser Welt konsensfähig? Bietet es eine sinnvolle Basis
für einen partnerschaftlichen Dialog der Religionen? Oder fördert
es heimlich die Dominanz des Christentums im angestrebten Dialog?
Weist Küngs Projekt Weltethos lediglich die Richtung in einem noch
völlig offenen Prozess der gemeinsamen Suche nach einem
universalgültigen Ethos? Oder nimmt es das Ergebnis der Suche aus
christlicher Perspektive einseitig vorweg? Ist es überhaupt
vorstellbar, dass die Weltreligionen sich auf ein gemeinsames
Weltethos verständigen können? Oder bleibt ein solches Ethos der
Menschheit ein frommer Wunsch, eine fragwürdige Illusion? Kommt den
Religionen also jene tragende Rolle zu, welche Küng ihnen
zuschreibt?
Verschiedene Religionen
verschärfen ethischen Pluralismus
Aus Sicht der großen Weltreligionen scheint es
überflüssig zu sein, nach einem Weltethos erst umständlich zu
suchen, sieht doch jede Religion die Frage nach einem
universalgültigen Ethos in ihrer eigenen Überlieferung längst
beantwortet. Statt gemeinsam den Grund für ein erst noch zu
entwickelndes Ethos planetarischer Verantwortung zu legen, vertreten
die Religionen eine Vielzahl von konkurrierenden Ethiken. Die
Religionen fördern, wie es zunächst scheint, ganz und gar nicht
die Überwindung des von vielen Seiten beklagten ethischen
Pluralismus und Relativismus, sondern verschärfen diesen noch durch
ihre miteinander konkurrierenden universalen Geltungsansprüche.
Gemeinsamkeit aller Religionen
ist das Prinzip der Verantwortung
Unbeschadet der vorhandenen Unvereinbarkeiten und
Exklusivitätsansprüche glaubt Küng allerdings in ethischen
Grundfragen zwischen den Weltreligionen Konvergenzen beobachten zu
können. Nach seiner Überzeugung lassen sich die Religionen
allesamt auf das Prinzip Verantwortung ansprechen und können ihre
Anhänger auf eben dieses Prinzip verpflichten.
Du sollst keine Unschuldigen
töten
Unbeschadet der Konkurrenz ihrer Weltdeutungen und
Heilserwartungen konvergieren die Weltreligionen nach Küng in einem
gemeinsamen Grundethos, dessen fundamentale Leitsätze die
sogenannte Goldene Regel ist. Diese begründet auch die Konvergenz
zwischen den Religionen und der abendländischen Tradition einer
gegenüber der Religion autonomen Philosophie, weil Küng z. B. den
kategorischen Imperativ Kants "als eine Modernisierung,
Rationalisierung und Säkularisierung" der Goldenen Regel
versteht. Neben der denkbar allgemein gehaltenen Goldenen Regel
meint Küng, vier Leitsätze elementarer Menschlichkeit gefunden zu
haben, die in allen Religionen wiederkehren: 1. "Du sollst
keine Unschuldigen töten", 2. "Du sollst nicht lügen
oder Versprechen brechen", 3. "Du sollst nicht die Ehe
brechen oder Unzucht treiben", 4. "Du sollst Gutes
tun".
Stolz, Neid und Geiz gehören zu den
Grundverfehlungen des Menschen
Diese Imperative werden ergänzt durch einen allen Religionen
gemeinsamen Katalog von Lastern und Tugenden, der sich bei Küng an
der Auflistung von sieben Haupt- oder Wurzelsünden und vier
Kardinaltugenden orientiert, wie sie aus der christlichen Tradition
bekannt ist. Als Grundverfehlungen des Menschen gelten Stolz, Neid,
Zorn, Geiz, Unkeuschheit, Unmäßigkeit und Trägheit. Die aus der
griechischen Antike übernommenen Kardinaltugenden sind Klugheit,
Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigkeit.
Bedeutung hat, was im gelebten Leben getan oder
unterlassen wird
Dass die religiösen Weltdeutungen und
Menschenbilder der großen Religionen miteinander konkurrieren, dass
sie einander teilweise sogar widersprechen, stellt nach Küngs
Überzeugung sein Projekt Weltethos nicht in Frage. Nach Küng kommt
es nicht so sehr auf das verschiedene theoretische Bezugssystem an,
sondern auf das, was ganz praktisch im gelebten Leben getan oder
unterlassen werden soll. Ob dem konkret, gequälten oder verletzten
Menschen aus christlicher oder buddhistischer oder einer anderen
religiösen Haltung heraus geholfen wird, dürfte dem Betroffenen
zunächst einerlei sein.
Kritik an Küngs Weltethos: Was
bedeutet es, dass man keinen Unschuldigen töten darf?
Die von Küng formulierten Maximen elementarer
Menschlichkeit erzeugen lediglich den Schein einer Übereinstimmung,
der sich auflöst, sobald man fragt, wie diese Maximen in den
einzelnen Religionen und im ethischen Konfliktfall inhaltlich
gefüllt werden. Was soll beispielsweise bedeuten, dass man keinen
Unschuldigen töten darf? Hat die islamische Scharia recht oder
unrecht, wenn sie den Übertritt vom Islam zum Christentum als
todeswürdiges Vergehen einstuft? Ist es religiös akzeptabel, dass
Ehen geschieden werden? Oder ist die Ehe, wie es der christlichen
Tradition entspricht, als unauflösbar zu betrachten? Was wird
sodann in den verschiedenen Religionen für Unzucht gehalten? Die
Bewertungsmaßstäbe hierfür gehen nicht nur zwischen den
Religionen, sondern auch innerhalb derselben recht erheblich
auseinander.
Menschenrechte sind Testfall
für das Projekt Weltethos
Wie auch Küng weiß, haben alle Religionen mit
dem Menschenrechtsgedanken ihre traditionellen Schwierigkeiten, weil
die Religionsfreiheit als elementares Menschenrecht deklariert wird.
Wechselseitig stehen die Idee der Menschenrechte und die großen
Weltreligionen zueinander in einem zwiespältigen Verhältnis. Ihrem
Ursprung nach werden die Menschenrechte universal proklamiert, aber
nicht religiös begründet. Die eingeklagte Religionsfreiheit ist
das historische Ergebnis des konfessionellen Bürgerkrieges im
Europa des Reformationszeitalters sowie der europäischen
Aufklärung, welche die Religion zur Privatsache erklärte und auf
die strikte Trennung von Religion und Politik drängte, am
radikalsten in der Französischen Revolution. Freiheit der
persönlichen Religionsausübung und Kritik an der Religion selbst
hängen in der europäischen Menschenrechtstradition miteinander
zusammen. Religiöse Toleranz im Sinne der
europäisch-nordamerikanischen Menschenrechtstradition bedeutet,
dass jeder nach seiner Facon selig werden kann, die Frage der ewigen
Seligkeit und des rechten Heilsweges zu ihr aber nicht die Fragen
der Staatsraison berühren soll.
Göttliche Pflicht zur Religion
So kritisch die Stellung der
Menschenrechtstradition gegenüber den einzelnen Religionen und
ihren gesellschaftlichen Ansprüchen ist, so spannungsvoll ist
umgekehrt deren Verhältnis zur Idee der Menschenrechte. Denn die
Religionen bejahen, solange sie ihren eigenen Geltungsanspruch
ernstnehmen, nicht nur das Recht zur Religionsausübung, sondern
führen ihr eigenes Dasein auf eine göttliche Pflicht zur Religion
zurück. Diese Pflicht zu relativieren, steht nach dem
Selbstverständnis der Religionen keinesfalls im menschlichen
Ermessen. Die Religionen betrachten sich daher keineswegs als reine
Privatangelegenheit von Bürgern eines tunlichst weltanschaulich
neutralen Staatswesens. So haben viele christliche Kirchen die
Menschenrechte bis ins 20. Jahrhundert hinein als Ausdruck eines
atheistischen Säkularismus und eines falschen Autonomiestrebens
verurteilt.
Sitte, Moral und staatliches
Recht wurzelten in göttlicher Rechtssetzung
Gegenüber Gott, so wurde von kirchlicher Seite
erklärt, habe der Mensch keine Rechte, sondern lediglich Pflichten.
Sitte, Moral und staatliches Recht wurzelten nach dem damaligen
Verständnis der Kirchen nicht in einem autonom begründeten
Menschenrecht bzw. in der menschlichen Autonomie, sondern in
göttlicher Rechtssetzung, die man in den alttestamentlichen Geboten
und Rechtsvorschriften, vor allem im Dekalog, sowie in der
Bergpredigt und anderen neutestamentlichen Anweisungen zu einem
christlichen Leben vorzufinden glaubte.
Frage der Menschenrechte
besonders im Islam umstritten
Die rein säkulare Begründung der Menschenrechte
bereitet noch heute Teilen des Christentums erhebliche
Schwierigkeiten, nicht minder aber den übrigen Weltreligionen.
Besonders umstritten ist die Frage der Menschenrechte bekanntlich im
Islam, während sich die großen christlichen Kirchen den
Menschenrechtsgedanken inzwischen weitgehend zueigen gemacht haben.
In außereuropäischen Ländern wird zudem die Frage aufgeworfen, ob
der universale Menschenrechtsgedanke in Wahrheit ein ideologisches
Instrument der Machtpolitik der westlichen Industrienationen
gegenüber den Ländern der sogenannten Dritten Welt ist, also der
Fortsetzung der ehemaligen Kolonialpolitik mit anderen Mitteln
dient. Nicht nur in islamischen Ländern
wird die Menschenrechtsbewegung als· neuzeitliche Form christlicher
Kreuzzugsmentalität beargwöhnt. Während die
Menschenrechtsdeklarationen vom Menschen im Singular sprechen, wird
die Menschheit von Seiten der Kritiker "im Plural
dekliniert". Und wenn schon Menschenrechte anerkannt werden
müssen, so soll dies nur unter der Voraussetzung geschehen, dass
jeder Kultur das Recht, jeder Religion die Pflicht zugebilligt wird,
Umfang und Geltungsbereich von Menschenrechten eigenständig zu
bestimmen, keineswegs aber kritiklos die Menschenrechtsdeklaration
der Vereinten Nationen von 1948 zum Maßstab dessen zu erheben, was
menschlich oder unmenschlich ist. Die Menschenrechtsidee
europäischer und nordamerikanischer Provenienz steht unter dem
Verdacht, dass ihr universaler Geltungsanspruch lediglich eine
säkulare Variante der ehedem proklamierten Absolutheit des
Christentums ist.
Gewachsenes Problembewusstsein
gegenüber Menschenrechten
Andererseits ist aber zu beobachten, dass nicht
nur im Christentum, sondern auch in den übrigen
Religionsgemeinschaften das Problembewusstsein hinsichtlich der
Menschenrechte gewachsen ist. Dass der Islamrat für Europa 1981
eine "Allgemeine Islamische Menschenrechtserklärung"
veröffentlicht hat und im August 1990 die sogenannte Kairoer
Erklärung der Menschenrechte im Islam verabschiedet wurde, ist für
diese Entwicklung ein eindrucksvoller Beleg. Überhaupt fördern die
vielfältigen Bemühungen um einen Dialog der Religionen weltweit
die Menschenrechtsdiskussion. Dennoch ist das Verhältnis der
Religionen zum Menschenrechtsgedanken nach wie vor zwiespältig.
Noch am stärksten hat sich bislang das Christentum den
Menschenrechtsgedanken zueigen gemacht. Doch muss man einerseits
kritisch fragen, wieweit die Menschenrechte eigentlich innerhalb der
Kirchen selbst geachtet werden, und andererseits auf den
christlichen Fundamentalismus verweisen, der weltweit auf dem
Vormarsch ist und eine rein säkulare Begründung von Recht und
Moral ablehnt.
Menschenrechte nur im Rahmen
der Scharia
Doch auch was den Islam betrifft, ist
Nüchternheit am Platze. Die erwähnten islamischen
Menschenrechtserklärungen machen unmissverständlich klar, dass
Menschenrechte nach islamischer Auffassung nur im Rahmen der Scharia
gelten, die als solche unangetastet bleibt. So betont die Kairoer
Erklärung die gesellschaftliche Führungsrolle der Umma. Sie legt
in Artikel 24 fest, dass alle Rechte und Freiheiten, welche die
Erklärung anerkennt, der Scharia unterstehen. Nach Artikel 25 ist
diese die einzig verbindliche Quelle für die Auslegung der
islamischen Menschenrechtsartikel. Offenbar ist das Ziel der
bisherigen islamischen Menschenrechtserklärungen "die
Apologetik des Islams als universaler Religion und die Schaffung
einer weltweiten islamischen Ordnung", nicht aber die
Formulierung eines alle Religionen einschließenden oder
transzendierenden Weltethos.
Praktizierung der von der
Scharia vorgesehenen Körperstrafen
Konkret heißt dies, dass die islamischen
Menschenrechtserklärungen daran festhalten, der Satz des Korans:
"Kein Zwang in der Religion" lasse nur für die
Angehörigen von Judentum und Christentum eine Toleranz zu.
Keinesfalls aber sei der Übertritt vom Islam zu einer dieser beiden
Religionen, geschweige denn zu einer anderen Religionsgemeinschaft
gestattet. Islamische Staaten praktizieren auch heute noch die von
der Scharia vorgesehenen Körperstrafen, z. B. Handabschneiden für
Diebstahl, Auspeitschung für Alkoholgenuss, Steinigung für
Ehebruch. Obwohl solche Strafen im Widerspruch zu Artikel 5 der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und zum 1984
getroffenen "Übereinkommen gegen Folter und andere grausame,
unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe"
stehen, betont die Kairoer islamische Menschenrechtserklärung in
Artikel 19d, dass die Strafbestimmungen der Scharia unvermindert
gültig sind.
Rechte für Mann und Frau im
Islam nicht gleich
Auch was die Stellung der Frau betrifft, besteht
zwischen der westlichen Kodifizierung von Menschenrechten und
islamischen Menschenrechtsvorstellungen keine Übereinstimmung.
Artikel 6 der Kairoer Erklärung lautet: "a) Die Frau ist dem
Mann an Würde gleich, sie hat das Recht, ihren Namen und ihre
Abstammung beizubehalten. b) Der Ehemann ist für den Unterhalt und
das Wohl der Familie verantwortlich." Die Erklärung spricht
wohl von gleicher Würde, nicht aber von gleichen Rechten für Mann
und Frau. Das traditionelle islamische Familien- und Erbrecht sowie
die Einschränkung der politischen Rechte von Frauen bleiben in der
Kairoer Erklärung unangetastet. Welche Konflikte sich wiederum am
Schleiertragen entzünden können, zeigen einerseits seine
gewaltsame Durchsetzung in islamischen Ländern wie dem Iran,
andererseits sein Verbot in Frankreichs öffentlichen Schulen.
Islamische
Menschenrechtserklärungen
Die islamischen Menschenrechtserklärungen
verdeutlichen beispielhaft, dass die Frage nach wie vor offen ist,
ob sich die Menschenrechte der westlichen Tradition derart
universalisieren lassen, dass sie auch mit den Wertvorstellungen
östlicher Religionen in Einklang gebracht werden können Das
Problem verschärft sich noch dadurch, dass die westliche
Menschenrechtstradition nicht von der Idee einer demokratisch
verfassten pluralistischen und toleranten Gesellschaft abgelöst
werden kann. Schließlich ist es der demokratisch, weltanschaulich
neutrale Staat, welcher die individuellen und sozialen
Menschenrechte schützen und im Konfliktfall durchsetzen soll. Eine
derartige Gesellschafts- und Staatsform aber widerspricht dem bis
heute gültigen Gesellschaftsverständnis des Islams. Muslime,
welche eine radikale Reformation des Islams verlangen und aufgrund
einer historisch-kritischen Interpretation des Korans die
westlich-moderne Menschenrechtstradition mit den Islam
grundsätzlich für vereinbar halten, müssen nach wie vor als
Außenseiter gelten.
Küngs Weltethos gerät an
Grenzen
Es soll hier nicht darum gehen, die genannten
Einzelprobleme zu diskutieren oder gar die zitierten islamischen
Menschenrechtserklärungen einseitig zu kritisieren. Dies würde dem
Geist des Dialogs, der zunächst einmal den wechselseitigen Respekt
vor den verschiedenen Traditionen verlangt, von Grund auf
widersprechen. Die bestehenden Differenzen in der
Menschenrechtsfrage zeigen aber deutlich, wie schnell Küngs Projekt
Weltethos an seine Grenzen stößt sobald nach der ethischen
Konkretion seiner allgemeinen Maximen gefragt wird.
Küng erklärt den Menschen zum Ziel und
Kriterium eine universalen Verantwortungsethik. Sein
Humanitätsbegriff aber meint die "Grundwerte und
Grundüberzeugungen der Französischen Revolution'. Dass diese unter
allen Weltreligionen konsensfähig sind, wird man bezweifeln
müssen. Wenn Küng zudem dem Christentum bei der Entwicklung eines
an den Idealen der französischen Revolution orientierten Weltethos
unter den Weltreligionen eine Vorreiterrolle zuweist, so werden die
übrigen Religionsgemeinschaften mit Recht die Frage stellen
können, wodurch eine solche Dominanz des Christentums
gerechtfertigt sei. Dass zwischen allen
Religionen eine substantielle Konvergenz in der Menschenrechtsfrage
besteht, lässt sich freilich nicht behaupten. Diese Feststellung
kann eigentlich nur anspornen, den Dialog zu intensivieren, aber
trotz aller Dialogbereitschaft bleibt es bei einer legitimen
Konkurrenz, der verschiedenen Religionen und Weltanschauungen
bleiben. Übereinstimmungen und Annäherungen im gegenseitigen
Verstehen sind natürlich anzustreben und auch möglich, ja sogar
notwendig.
Alternativen zum Projekt
Weltethos
Es drängt sich die Frage auf, welche
Alternativen sich zu Küngs Projekt Weltethos bieten. Ein
bedenkenswertes Modell hat der evangelische Theologe Ulrich Schoen
entwickelt. Nach dem Vorbild der vor einigen Jahren in Madrid
begonnenen, inzwischen zu ersten Erfolgen führenden, neuen
Nahostgespräche plädiert Schoen für ein "Madrid der
Ethiken". ' Was Schoen am jüngsten Nahost-Friedensprozess
fasziniert, ist die Art und Weise, unter welch geringen
Vorbedingungen das Gespräch der verfeindeten Parteien in Madrid
aufgenommen wurde. Das Madrider Treffen war eine Art von Happening,
welches darauf baute, dass durch das bloße Zusammenkommen ein
gruppendynamischer Prozess in Gang gebracht würde. In ähnlicher
Weise ist nach Schoen das Modell einer "interreligionellen
Ethik" vorstellbar, deren einzige Vorbedingung der Wille ist,
eine für die Menschheit bedrohliche Situation zu entschärfen. Die
verschiedenen Ethiken setzen sich an einen Tisch ohne einen
gemeinsamen Konsens vorauszusetzen. Schoen setzt dem Dialog das
Ziel, sich darüber zu verständigen, was menschlich beziehungsweise
unmenschlich ist.
Wo liegen die Gemeinsamkeiten?
Ich halte dieses Konzept eines Dialogs der
Religionen für tragfähiger und zugleich realistischer als Küngs
Projekt Weltethos, weil es den fundamentalen Konflikten, die
zwischen den Religionen und ihren Geltungsansprüchen bestehen,
besser gerecht wird. Angesichts der Probleme im Zusammenleben der
heutigen multikulturellen Gesellschaften und angesichts der globalen
Gefahren für die Menschheit scheint es mir notwendig, die Frage
nach gemeinsamen Werten und Normen zu ersetzen durch diejenige nach
gemeinsamen Handlungszielen. Nicht was wir dürfen und sollen,
sondern was wir unbeschadet unserer unterschiedlichen kulturellen
Prägung und religiösen Orientierung gemeinsam wollen, ist die
entscheidende Frage in einem von manchen gern als
"postmodern" bezeichneten Zeitalter.
Küng überschätzt politische
Rolle der Religionen
Religionsgespräche sind ein wichtiger Beitrag
zur Suche nach globalen und regionalen Lösungen für die
bedrängenden Gegenwarts- und Zukunftsfragen der Menschheit. Küng
steht allerdings in der Gefahr, die politische Rolle der Religionen
zu überschätzen. Gewiss wird es keinen Weltfrieden ohne Frieden
zwischen den Religionen geben. Historisch wie aktuell sind die
Religionen aber keineswegs nur die Initiatoren, sondern immer auch
der Gegenstand von Befriedungsprozessen. Zwischen Religionsfrieden
und politischem Frieden besteht kein einseitiges
Bedingungsverhältnis. Zweifellos können die
Religionsgemeinschaften einiges zur Versöhnung der Völker
beitragen. Andererseits aber ist der Friede zwischen den
verschiedenen Religionsgemeinschaften ein wichtiges Ziel politischer
Bemühungen, sodass sich die These Küngs auch umkehren lässt:
"Kein Religionsfriede ohne weltlichen Frieden!"
Keine Religion kann die
Selbstzerstörung der gesamten Menschheit mit ihren Überzeugungen
vereinbaren
Worauf aber kann sich die Hoffnung gründen, dass
die Religionsgemeinschaften an einem ernsthaften Dialog über ihre
Rolle in den das Überleben der Menschheit gefährdenden Konflikten
teilzunehmen bereit sind? Meines Erachtens kann sich diese Hoffnung
darauf stützen, dass es wohl keine Religion gibt, welche die
Selbstzerstörung der gesamten Menschheit mit ihren religiösen
Überzeugungen in Einklang bringen kann. Dass es zum Gespräch
zwischen den Religionsgemeinschaften über die Ursachen der globalen
Gefahren und etwaige Lösungsmöglichkeiten kommt, setzt freilich
voraus, dass diese Gefahren überhaupt gesehen und ernstgenommen
werden. Ohne sich im vorhinein auf inhaltliche Vorgaben zu
verständigen, können die Angehörigen der verschiedenen Religionen
in das Gespräch eintreten, getragen von der bangen, durch keine
Garantie abgesicherten Hoffnung, die sich an das Wort des deutschen
Dichters Hölderlin hält: "Wo aber Gefahr ist, wächst das
Rettende auch" . Doch wer sieht die Gefahr und wer nimmt sie
ernst?
Artikel bearbeitet von ORF ON
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