Erfüllte Zeit

20. 11. 2005, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Vom Weltgericht“ (Matthäus 25, 31 – 46)

von Schwester Beatrix Mayrhofer

 

 

Der lange Text des heutigen Evangelium mündet in einen kurzen Halbsatz. Und mit diesem Halbsatz verbinde ich eine besondere Geschichte. Es ist schon einige Jahre her. Es hat geregnet. Wir sind vor dem Eingang unseres Schulzentrums im 15. Wiener Gemeindebezirk gestanden und haben auf Mutter Teresa gewartet, auf „die“ Mutter Teresa aus Kalkutta. Am Nachmittag sollte sie das erste Haus ihrer Gemeinschaft in Wien besuchen. Dieses Haus ist ganz in der Nähe unserer Schule und viele von uns haben gehofft, der kleinen Schwester mit dem weißen Sari und dem weiten Herzen persönlich begegnen zu dürfen. Unsere Geduld wird auf die Probe gestellt. Zwei Stunden Verspätung.

Aber dann kommt das Auto. Nein, sie ist nicht vorbeigefahren, sie lässt anhalten, steigt aus  – und ist schon umringt von den wartenden Kindern und Lehrern, Eltern und Schwestern. Es regnete noch immer, darum sind wir in der Eile einfach in unsere große Garageneinfahrt gegangen. Dicht gedrängt sind wir da gestanden und haben jene Katechese zum berühmten halben Satz des heutigen Evangeliums gehört, die ich nicht mehr vergesse. Wisst ihr, so hat Mutter Teresa die Kinder – und uns alle – gefragt, was im Evangelium das Allerwichtigste ist? Das Wichtigste, das können wir uns mit den fünf  Fingern einer Hand merken: So sagt Jesus: Das – habt – ihr – mir – getan. Was ihr den anderen Gutes tut, das habt ihr mir getan – auch wenn ihr es nicht wisst und nicht ahnt. So sehr solidarisiert sich Gott mit uns Menschen, dass wir ihm tun, was wir einander tun. Er ist in den Hungernden und den Sterbenden, in den Kindern und den Kranken, in den Menschen auf den Gehsteigen und in den Gefängnissen. „Was ihr für einen von diesen Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan“, sagt Jesus.  Mutter Teresa hat diesen Satz gelebt – so eindrucksvoll, dass sie selbst zu einem lebendigen Evangelium für unsere Zeit geworden ist. Von ihr haben wir es wieder ganz neu gelernt: Ein Blick auf die eigene Hand genügt um mich zu erinnern, worauf es im Leben wirklich ankommt. Ich muss nur meine Hände öffnen, das Gute tun und an meinen Fingern die fünf wichtigen Wörter abzählen:  Das habt ihr mir getan! Jesus sagt es. Der Evangelist Matthäus überliefert uns diese unglaubliche Botschaft. Unser Gott, der Große und Heilige, dem alle Macht und Ehre gebührt, wird ein Mensch. Er streckt uns in Jesus seine Hände entgegen. Er wäscht seinen Freunden die Füße. Er nimmt die Kinder in seine Arme. Die Kranken berührt er und die Unberührbaren, die Aussätzigen, befreit er von ihrem Ausgesetzt-Sein. Er segnet das Brot, er bricht und vermehrt es. Er stillt den Hunger und sprengt die Fesseln. Seine Hände bleiben geöffnet – auch dann noch, als die Mächtigen seiner Zeit gegen ihn die Hände erheben, ihn vor ihr Gericht bringen, ihn binden und quälen, ihn entblößen, ausstoßen und annageln. Aber das ist das Festgeheimnis des heutigen Tages: der Hingerichtete wird zum Richter und gibt das Wohnrecht in seinem Reich den Menschen mit den geöffneten Händen. Nicht die geballte Faust eröffnet den Zugang zum Reich und auch nicht der gestreckte Arm, der Gruß, der Heil gerufen und so viel Unheil gebracht hat. Das Reich des Vaters wächst nicht dort, wo Menschen „Herr, Herr!“ rufen, sondern dort, wo sie einander dienen. Am Christkönigsfest werden wir ermutigt und wieder erinnert: Königliche Freude wird denen zuteil, die hören dürfen: Das habt ihr mir getan!