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Erfüllte Zeit20. 11. 2005, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1
„Denn
es ist ihresgleichen nicht im Lande“
Niemals habe ich von ihr ein lautes oder nur
unfreundliches Wort gehört, kaum je eine Klage, obwohl sie die
letzten ein, zwei Jahrzehnte schrecklich unter Arthrose und allen möglichen
anderen Krankheiten litt. Gott lässt immer eine Stelle übrig, an
der wir Ihm danken können, pflegte sie zu sagen. Die Dankbarkeit,
die Tante Lobat von ihrer Mutter, meiner Großmutter gelernt haben
muss, ist auf Genügsamkeit nicht zu reduzieren, sondern setzt
voraus, nehmen zu können. Wenn meine Mutter irgendwo sparen wollte,
tadelte meine Großmutter sie auf eine Weise, die in diesem Buch häufig
wiederkehren wird. – Du sollst Gott nichts Schlechtes angewöhnen.
Wenn Er sieht, dass du dich mit weniger begnügst, gibt Er dir auch
weniger. Mit dem Christentum verbindet man zu Recht den
Begriff der Nächstenliebe, aber man macht sich im Westen nicht
klar, wie tief der Begriff der Barmherzigkeit das alltägliche
Handeln vieler Muslime prägt. Es ist das religiöse Moment der
Barmherzigkeit, durch das die Dinge des Lebens wie des Glaubens
weicher, flexibler, durchlässiger werden, als sie allein dem Wort
nach sein dürften. Dabei geht die Barmherzigkeit ebenfalls auf das
Wort zurück, ist sie das häufigste Motiv im Koran, wie die
Mystiker stets betonten, und den Dogmen und Gesetzen als Widerpart
mitgegeben. Jedenfalls bei den Menschen, von denen ich spreche,
bedingte die Frömmigkeit ihre Güte. Man muss nicht fromm sein, um gut zu sein. Aber die
Menschen, von denen ich spreche, waren auch deshalb gut, weil sie
fromm waren. Das Umgekehrte gilt nicht: dass sie aus Güte an Gott
glaubten. Von außen betrachtet, wahrscheinlich sogar für sie
selbst, war der Glaube ein Gewinngeschäft. Er stattete sie mit
Vertrauen aus, versorgte sie mit Hoffnung, bescherte ihnen Kraft und
mit den Ritualen täglich mehrfach ein reiches ästhetisches
Erleben. Die Religion zu praktizieren schien bei ihnen mehr als nur
die Erfüllung von Pflichten zu sein, da spielte auch Genuss mit,
wie manchmal die Verzückung auf ihren Gesichtern verriet. „Wer
Gott wirklich kennt“, so sagte es bereits der Lehrer des frühen
Sufismus, Abu Sulayman ad-Darani (gest. 830), „lässt bei seinem
Gebet nicht einmal zwei Kniefälle aus, ehe er deren Lieblichkeit
geschmeckt hat.“ Das Leiden hob dieser Glauben nicht auf, aber
Gott half ihnen, es zu ertragen, indem sie es als Prüfung oder mit
Blick auf die jenseitige Verheißung als vergänglich, ja als
notwendig deuten konnten. Ich habe nicht oft Menschen gesehen, die
den Tod vor Augen hatten, aber soviel habe ich erfahren, dass es den
Frommen leichter fiel, einen Umgang mit ihm zu finden. Wie an dem
letzten verbliebenen Strang hielt Tante Lobat sich an den Gebeten
fest. Wenn sie vor Schmerzen laut aufstöhnte, tröstete sie nicht
nur uns mit einem Lächeln, sondern zeigte zugleich dem Schmerz die
Zähne. Wie geht’s mit Ihrer Krankheit? fragten wir sie
(Tanten ihrer Generation spricht man in Iran nicht mit Du an).
Engari ke hic – als sei nichts gewesen, sagte sie. Und immer hat
sie gebetet, Gott gepriesen in jeder Sekunde, in der sie sich keinem
Menschen zuwandte. (Aus: Navid Kermani „Der Schrecken Gottes. Attar,
Hiob und die metaphysische Revolte“, Verlag C. H. Beck)
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