Erfüllte Zeit

18. 12. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Die Verheißung der Geburt Jesu“ (Johannes 1, 6 – 8. 19 – 28)

von Pater Gustav Schörghofer SJ

 

 

Seit dem frühen Christentum wurde die Szene der Verkündigung an Maria über mehr als eineinhalb Jahrtausende immer wieder dargestellt. Doch dann, im späten 19. Jahrhundert, ist es mit diesen Darstellungen vorbei. Darstellungen der Verkündigung an Maria gibt es seit 130 Jahren nur selten, sehr vereinzelt. Was ist geschehen? Ist uns dieses wunderbare Bild abhanden gekommen? Oder tritt es bloß anders in Erscheinung, dass wir erst lernen müssen, es neu zu sehen? Versuchen wir die Erzählung des Lukas nicht bloß als Bericht über ein längst vergangenes Ereignis, sondern als ein Bild zu verstehen.

 

Der Engel, die Frau, das Gespräch, diese Worte in der Stille des Raums, der Einbruch eines unfassbaren Anderen ins Menschliche, diese zur Nähe versammelte gewaltige Weite – die Verkündigung an Maria, die Verheißung der Geburt Jesu gehört zu den schönsten Bildern der Welt. In ihm hallt noch etwas nach von der Nähe antiker Götter zu den Menschen. Zugleich ist alles anders. Der Beginn von etwas Neuem. Denn so nahe ist Gott noch nie gekommen. So sehr hat er noch nie um einen Menschen geworben. So groß war die Freiheit eines Menschen noch nie, dass sie entscheiden konnte über das Tun Gottes. Denn in der Verkündigung macht Gott seine Zukunft von der Zustimmung eines Menschen abhängig. Im Horizont dieses Bildes wird die Welt verwandelt wahrgenommen. Sie ist nicht mehr bloß, was sie früher gewesen ist, Vergeblichkeit und Abstieg, Mühe und Verlust. Sie ist mit einem Mal Gewinn und Zukunft, erfüllte Zeit.

 

Hier ist nicht nur von einem einzigen Menschen die Rede, von Maria als einer Ausnahme unter allen anderen. Das Bild der Verkündigung bietet Raum für jeden Menschen. Ein jeder kann in der Reinheit seines Herzens Gott empfangen. Ein jeder ist Gottes fähig. Aber wie? Wie soll das geschehen? Ich muss bereit sein, etwas mit Gott zu teilen. Der Gott, von dem hier die Rede ist, nimmt leidenschaftlich Anteil an der Welt. Und diese seine Leidenschaft für die Welt, seine Leidenschaft für den Menschen muss ich bereit sein zu teilen. Denn zum Bild der Verkündigung gehört ein anderes untrennbar dazu. Das Bild eines Gottes, der auf das Leid der Menschen schaut, dem ihre Not zu Herzen geht, den sie schmerzt. Diese Vorgeschichte der Verkündigung erzählt das Alte Testament. Erst wenn ich sie vor Augen habe, geht mir auf, was mit dem Bild der Verkündigung gemeint ist. Hier ist von einem Gott die Rede, der in einer Ekstase der Liebe aus sich heraustritt. Von einem Gott, der leidenschaftlich um den Menschen wirbt. Von einem Gott, der seinen Himmel verlässt und Mensch wird. Dazu bedarf er des Menschen. Gott wird nicht Mensch ohne Einwilligung des Menschen. Er sucht die Hilfe des Menschen. Wann immer ich meinen eigenen kleinen Himmel auf Erden verlasse, wann immer ich hinabsteige in die Tiefen meines Herzens, wo Reinheit der Empfindung, Offenheit für andere, Verwundbarkeit und Fähigkeit zum Mitleid auch in mir zu finden sind, wann immer ich den Palast meiner Selbstsucht verlasse und einkehre in den Stall des Mitleids, stimme ich der Menschwerdung Gottes zu.

 

Das Bild der Verkündigung wird heute nur mehr selten dargestellt. Vielleicht ist eine Darstellung in Bildern auch gar nicht mehr nötig. Bildliche Darstellungen haben wir genug. Was heute Not tut sind Menschen, deren Leben nach diesen Bildern Gestalt annimmt. Und was Not tut sind Menschen, die einen Blick haben für das, was sich im Leben anderer verkörpert. Es genügt nicht, im Leben der anderen die Fehler und Gebrechen zu sehen, zu mahnen, zu reglementieren und zurecht zu weisen. Machen Sie es doch wie Gott. Denken Sie groß vom anderen. Werben Sie um diese Größe, die jedem Menschen möglich ist. Denn in jedem Menschen will Gott Mensch werden. Wir können einander Boten sein, Gesandte, die werben darum, dass dieses Wort gehört wird. Im Verstummen der großen Bilder der Vergangenheit ist ein Sinn zu finden. Sie können von uns heute im Alltag neu entdeckt werden. Gott ist heute einem jeden von uns genau so nahe, wie er Maria vor zweitausend Jahren nahe war. Die Frage ist nur: Lasse ich mich darauf ein? Bin ich bereit, Gottes Leidenschaft für die Welt und für den Menschen zu teilen?