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Erfüllte Zeit25. 12. 2005, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1
„Gott wird Mensch“ Manchmal
kommt es mir so vor, als hätten Christen es schwerer, erwachsen zu
werden als Nichtchristen. Die Religion hält in ihnen eine
Sehnsucht, einen Anspruch, eine Hoffnung wach, die sich nicht
abspeisen lässt und die die uns abverlangte Anpassung an das
Bestehende erschwert. In einer Welt wie der unseren, in der die
Kirchen eher als „Versicherungsanstalten gegen zu viel Religion“
fungieren, bindet sich die Sehnsucht vieler Christen nach
Realisierung dessen, was der Glaube erhofft, zurück an die Kindheit
und an eine für das Kind richtige, im Erwachsensein aber überwundene
Erwartungshaltung, die alles vom anderen und von außen erhofft. In
dieser Erwartungshaltung geraten Menschen in ein fatales Verhältnis
zur christlichen Tradition, das mit dem Ausdruck „sich
arrangieren“, mit Hilfe von Blockflöten oder Kerzen, noch allzu
harmlos umschrieben ist. Das Evangelium selber kritisiert diese
Erwartung, weil wir in ihr – und darum ist sie so schwer
auszurotten – immer noch auf Gott hoffen in einer vollständig
unvermittelten Form. Wir denken uns eine Begegnung mit ihm, ein
Wahrwerden seiner Wirklichkeit, eine Veränderung unserer
Wirklichkeit, die dann – so träumen wir – mit einem Schlag erfüllt
und heil ist. Aber ist es das Evangelium der Heiligen Nacht, das uns
dazu ruft, auf das Licht von oben zu warten? Müssen wir uns selber
zu Hirten stilisieren, die im Dunkel wandernd den Stern ihrer Träume
erblicken? Worin besteht denn aber dieses weihnachtliche Evangelium und inwiefern können wir an der Macht von unten, die es verspricht, teilnehmen und von ihr lernen? Es ist eine Aussage, die wie alles im Evangelium einfach und schwer zu machen ist, sie heißt: Gott wird Mensch. Der Satz, dass Gott Mensch geworden ist, also die vergangene, perfekte, abgegrenzte Aussage, ist in der Geschichte der Christenheit unter anderem zum Mord an denen benutzt worden, die diesen Satz nicht anmahnen, den Juden. Ich meine, das sei ein Grund, diesen Satz zu korrigieren. Es genügt nicht zu sagen: Gott ist einmal vor 2000 Jahren Mensch geworden, weil man auf diese Weise nur dogmatisch korrekt verfährt, die Menschen aber, die von der Inkarnation etwas haben sollten, wieder mit den indes längst zum Himmel emporgestiegenen allein lässt. Das Geheimnis des Evangeliums ist nicht diese auf Vergangenes bezogene Formel, dass Gott früher einmal Mensch geworden ist, sondern, dass er immer wieder Mensch wird. Gott wird immer wieder Mensch, auch heute. Wer Gott im Gesicht des Kindes von Bethlehem gesehen hat, dem wird Gott immer wieder Mensch, dem begegnet Gott an dem einzigen Ort, wo er nach dem Evangelium begegnen kann – eben nicht im Anstaunen des Universums oder im Kultus, sondern im anderen Menschen. Dann wird unser Stall die Baracke in der Vorstadt und unsere Krippe das Friedensdorf der von Napalm verbrannten Kinder, und wir brauchen Stall und Krippe, Ochs und Esel, Stern und Lobgesang nicht mehr in den ehrwürdigen Häusern der Tradition zu suchen, weil sie so nah bei uns sind, dass sie für uns das Nächste werden. Gott
wird immer wieder Mensch, das bedeutet, dass menschliches Leben
nicht dem Zufall, der Banalität oder den Planungsbüros einfach
ausgeliefert ist, weil wir in jedem Menschen Gott, wenn nicht
erkennen, so doch glauben.
(Aus:
Dorothee Sölle „Gewöhnen will ich mich nicht. Engagierte Texte
und Gedichte“, herausgegeben von Bärbel Wartenberg-Potter, Herder
spektrum Band 5614)
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