Erfüllte Zeit

15. 01. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Die ersten Jünger“

(Johannes 1, 35 – 42)

von Dr. Helga Kohler-Spiegel

 

 

Das Johannesevangelium ist faszinierend gegliedert, das Evangelium wird mit von Personen-, Orts- und Zeitangaben strukturiert, dazwischen sind Textabschnitte, die wie situationslos außerhalb der Handlung des Johannesevangeliums stehen. Viermal geht Jesus nach Jerusalem hinauf, dadurch entstehen vier „Bilder“, in denen die Handlung meist im Tempel spielt und die auf ein jüdisches Hochfest bezogen sind. Vier Bilder sind außerhalb von Jerusalem angesiedelt. Die acht Bilder insgesamt bilden – nach Ludger Schenke - den ersten Textblock im Evangelium und umschreiben einen Zeitraum von zwei Jahren. Sie gehören paarweise zusammen und stellen viermal den Weg Jesu von „jenseits des Jordan“ / Galiläa nach Jerusalem dar.

 

Unser heutiges Evangelium ist aus dem ersten Abschnitt, er umfasst insgesamt den Zeitraum von einer Woche, der Erzählfluss geht vom Unglauben hin zum wahren Glauben. Am Beginn der Erzählhandlung sagt Johannes der Täufer: „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt.“ (1,26), dann tritt Jesus auf und wird immer aktiver, bis er in der Szene der Hochzeit von Kana sein erstes Zeichen tut. Auch in den verwendeten Begriffen steht die Bewegung im Vordergrund: hinschauen, den Blick richten, suchen und finden, folgen und bleiben. Das Vokabular erinnert an eine Liebesgeschichte – den Blick auf jemanden richten, der Einladung folgen, mit gehen, und dann bleiben. Schön, wenn alle Liebesgeschichten so unkompliziert, so geradlinig verlaufen würden – aber vielleicht wäre das nicht schön, sondern auch langweilig - vermutlich aber ist es unrealistisch. Dennoch – das Johannesevangelium erzählt diese ersten Begegnungen mit Jesus auf diese Weise, wie eine Liebesgeschichte.

 

Im Gegensatz zu den anderen Menschen erkennt Johannes der Täufer schon, wer Jesus ist, er weist die Menschen auf Jesus hin und macht ihn bekannt, er gibt seine Jünger an Jesus ab. Jesus sammelt von da an „das wahre Israel“, wie es im Johannesevangelium immer wieder heißt, und beginnt sein öffentliches Wirken. Johannes der Täufer hat die Aufgabe, mit seiner Umkehrpredigt, mit seinem Ruf in der Wüste und seiner Taufe auf Jesus hinzuweisen. Johannes nennt Jesus „das Lamm Gottes“, dieser Name enthüllt und verhüllt zugleich. Er sieht in Jesus mehr als das, was Jesus nach außen am Beginn seines Weges schon sichtbar macht/machen kann.

 

Im Text wird der Ort des Täufers Johannes verlassen, die beiden Jünger folgen an den Ort, wo Jesus zuhause ist. Im Wort „bleiben“ taucht ein Wortspiel auf: zwei Jünger des Täufers Johannes folgen Jesus und bleiben bei ihm, der eine bleibt wörtlich/ ganz konkret bei Jesus, der andere „bleibt“ im übertragenen Sinn bei Jesus, auch wenn er körperlich auf die Suche nach seinem Bruder weg geht. In Jesus bleiben – im Vater bleiben – das wird im Johannesevangelium eine, es wird die wichtige Formulierung für die Existenz des Jüngers, der Jüngerin. Hier ist der Ort unwichtig, es geht darum, Jesu Einladung „kommt und seht“ anzunehmen, mit Jesus zu gehen und zu bleiben. Auch das Sprachspiel des „Sehens“ ist ein doppelbödiges – sehen im wörtlichen Sinn und sehen im übertragenen Sinn: „Blinde werden sehend“ ist eines der Bilder für den Anbruch des Reiches Gottes, dieser „anderen Welt“, in der nicht die Reichen, sondern die Hungernden selig sind, in denen die Mächtigen nicht thronen, sondern vom Thron gestoßen werden und die Erniedrigten, die Vergewaltigten aufgerichtet werden. Und „sehen“ steht natürlich für den glaubenden Menschen, der im Menschen Jesus Gottes zugewandte Seite sehen kann, der in jedem Menschen das Abbild Gottes sehen kann, der in einer gekrümmten Frau die Tochter Gottes sehen kann…

 

Also – die beiden Johannes-Jünger fragen Jesus nach seinem Ort, sie wollen wissen, wo er wohnt. Und hier hat Jesus, von dem es an anderer Stelle heißt, er habe keinen Ort, wo er sein Haupt niederlegen könne, hier hat Jesus einen Ort, einen Platz. Einen Platz haben, an dem mir wohl ist, nicht übrig sein – aus Kindertagen kennen wir das, wie wichtig es ist, meinen Platz zu haben, „da sitze ich“. Oder schmerzhaft: drei Kinder, die kleinen beiden sind schon vor dem Aufstehen noch kurz zu den Eltern ins Bett gekrochen, der „Grosse“ kommt ins Zimmer, sieht beide Eltern „besetzt“ und geht wieder – keinen Platz haben, das kann sehr wehtun. Diese Erfahrungen verbinden wir mit Jesus und mit der Erfahrung derer, die so leben wollen, wie Jesus gelebt hat: Hier haben wir einen Platz - immer. Einen Platz haben – das ist eines der Kernthemen der Bibel: Der Schöpfungshymnus am Anfang der Bibel (Gen 1) handelt u. a. davon, dass alle Lebewesen einen Platz haben auf der Welt – am 6. Tag: Die Vögel haben den Himmel, die Fische das Wasser, und dem Menschen ist die Erde gegeben. Bald schon verliert der Mensch seinen Platz, er wandert heimatlos auf der Erde. Der „Ich-bin-da“ zeigt sich vor allem in diesen Weg-Geschichten, er will wieder einen Platz geben, im Land, wo Milch und Honig fließen. Jesus sagt von sich (in der Überlieferung der Evangelien): Der Messias, der Christus, der Erwartete hat einen Platz und hat keinen Platz, er ist von dieser Welt und nicht von dieser Welt… Am Ende seines Lebens hat er einen Platz am Kreuz und im Grab, das zugleich auch wieder leer ist….

 

Der Beginn der Geschichte mit Jesus ist eine Einladung. Wahrnehmen, sehen, folgen, bleiben – in so knappen Worten wird umfasst, was den christlichen Glauben ausmacht: Jesu Einladung zu folgen, ihm nachfolgen, so zu leben versuchen wie er. Vorbedingungen gibt es keine, aber es braucht jemanden, hier Johannes den Täufer, der die Jünger auf Jesus hinweist. Glauben ist kein Zwang, sondern eine Einladung, Ich kann den Glauben nicht bei jemanden anderen „machen“ oder bewirken, ich kann andere nur darauf hinweisen, ich kann ihnen sagen: „Schaut hin, seht“. Das ist wohl auch ein wichtiger Hinweis, wie wir die nächste Generation zum Glauben einladen können.