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Erfüllte Zeit22. 01. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1
Paulo Suess „Über das Schenken“ Die Gabe, das Geschenk, ist universeller Natur. Sie hat, vor allem in
traditionellen Gesellschaften, die Aufgabe, soziale Bande zu knüpfen
und gesellschaftlichen Zusammenhang zu stiften. Sie besiegelt den
Bund zwischen gegnerischen oder gleichgültigen Parteien auf der
Grundlage der unausgesprochenen Verpflichtung des Gebens, des
Empfangens und des Weitergebens.
Das Band und das Bündnis sind wichtiger als das geschenkte Gut. Das
Soziale ist dem rein Ökonomischen vorgelagert. Beziehungen sind
mehr wert als Waren. Der Zirkel aus geben, empfangen und weitergeben
darf nicht unterbrochen werden. Es geht also nicht um ein „Zurückgeben“,
sondern um „Weitergeben“. Dabei spielt das Vertrauen mit, dass
der Empfänger die Gabe - manchmal angereichert mit einer Art von
Zinsen, man will sich ja nicht beschämen lassen - weitergibt, damit
sie, durch einen neuen Geber, irgendwann wieder zu mir zurückkommt.
Die Gabe eröffnet sozusagen ein gesellschaftliches Kreditverhältnis.
Dieses ständige Kreisen der Güter durch die Gabe stiftet soziale
Bande auf der Basis von Gleichheit. Wer nicht weitergibt, so bei der
polynesischen Bevölkerung der Maori, verliert seine übernatürliche
Kraft, sein „Mana“, oder wie die Chinesen sagen, er verliert
sein „Gesicht“. Sachen sind nur dann wichtig, wenn sie weitergegeben werden und
Beziehungen stiften; die Weitergabe ist die Voraussetzung zur Lösung
von Konflikten, die Ungleichheit zur Grundlage haben. Die Weitergabe
muss eine Sache des Vertrauens sein, welches der Gabe
gleichzeitig einen freien und verpflichtenden Charakter gibt. Nur
die Weitergabe an andere bewahrt uns vor jener Ungleichheit, die dem
Verlust unseres Gesichts gleichkommt. Die neue Armut, die das Gesicht unserer Städte prägt, ist ein Aufschrei
gegen Ungleichheit. Solidarität hat hier, wie im Evangelium, eine
aller ethischen Würdigkeit der Armen und Anderen vorgelagerte
Dringlichkeit. Der Arme der Gerichtsrede muss nicht auch „gut“
sein, und der Gefangene nicht „unschuldig“ und der Hungernde
nicht „fleißig“, um sich unserer Solidarität würdig zu
erweisen. Der Nazarener gestattet uns keine Bedingungen, keine
Ausrede. Solidarität bewährt sich allein im Horizont geschenkter
Verantwortlichkeit, die wir mit Gratuität umschreiben, dem Umsonst
der Gnade.
(Aus: Thomas Schreijäck, Hg. „Theologie als Gift und Gabe. Günter
Paulo Suess zu Ehren“, Edition Exodus, 2005)
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