Erfüllte Zeit

12. 02. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

Der Ort, an dem auch heute viele Gott im andern Menschen erfahren, ist die Liebe. Wenn ich einen Menschen liebe, fühle ich mich von ihm verzaubert. Und wenn ich die zärtliche Berührung des andern bewusst wahrnehme und auskoste, dann taucht von alleine die Frage auf: Wer ist der, den ich liebe? Was ist das, was ich in der Liebe fühle und erfahre? Weist es nicht über mich und über den Geliebten hinaus auf das eigentliche Geheimnis von Liebe, letztlich auf das Geheimnis Gottes? Wenn ich in die Augen des Geliebten sehe, wen sehe ich und was erblicke ich da? Ist das dieser konkrete Mensch, den ich kenne, oder leuchtet in ihm etwas anderes auf, das ich nicht mehr fassen kann? Leuchtet mir da nicht Gott selbst entgegen? In jeder tiefen Liebe berühre ich letztlich Gottes Liebe. In jeder intensiven Begegnung mit einem Menschen begegne ich auch dem göttlichen Geheimnis, dem göttlichen Du. Aber solche Begegnungen kann ich nicht einfach herbeizwingen. Sie sind immer Geschenk. Wenn zwei Menschen in ihrer Liebe das Geheimnis Gottes berühren, dann ist es für sie immer Gnade, nie eigenes Verdienst. Sie berühren etwas, was sie nicht in ihrer Hand haben. Manchmal wird die Erfahrung ihrer Liebe auch von der Schöpfung um sie herum bestätigt. Da rauscht auf einmal der Wald um sie herum. Oder ein Sonnenstrahl berührt ihre Gesichter. Oder der Regenbogen erscheint über ihrer Umarmung. Dann steht für sie die Zeit still. Und sie wissen, dass sie Gott selbst berührt haben.

 

 

Aus: Anselm Grün, „Wenn du Gott erfahren willst, öffne deine Sinne“, Vier-Türme-Verlag, Münsterschwarzach 2000