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Erfüllte Zeit26. 02. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1
Die Entdeckung Indiens
Bedeutsam war der Eindruck, als wir an einem Flussufer neben einem kleinen Schrein saßen, in welchem sich nichts außer einem roh behauenen Lingam und einer Yoni – einem männlichen und weiblichen Geschlechtsorgan – befand. Ein Europäer wäre geneigt, dies als „obszön“ zu betrachten, doch für einen Hindu hat es diese Bedeutung nicht. Für den Hindu ist Sexualität ganz wesentlich etwas „Heiliges“. Sie ist eine Manifestation des göttlichen Lebens und muss wie jede andere Form der Gottheit verehrt werden. Gott manifestiert sich selbst in allen Werken der Natur, in der Erde und im Feuer, in der Luft und im Wasser, in der Pflanze, im Tier und im Menschen. Sexualität ist eine der Manifestationen der göttlichen Kraft – der Shakti -, die das Universum erhält und den Charakter eines Sakramentes hat. Der
Westen muss vom Osten diese Schau der kosmischen Einheit lernen, in
der Mensch und Natur getragen werden von einem alles durchdringenden
Geist. Gerade dies erklärt die außerordentliche Heiligkeit, die
jedem erschaffenen Ding in Indien beigemessen wird. Die Erde ist
heilig, und das Umpflügen, Säen oder Ernten kann nicht stattfinden
ohne irgendeinen religiösen Ritus. Essen ist ein heiliger Akt, und
jede Mahlzeit wird als Opfer an Gott verstanden. Wasser ist heilig,
und kein religiöser Hindu würde ein Bad nehmen, ohne die heilige
Kraft des Wassers anzurufen, die vom Himmel herabsteigt, über den
Kopf Shivas fließt und sich auf die fruchtbringenden Ströme des
Ganges und anderer Flüsse verteilt. Heilig ist die Luft, der
Lebenshauch, der von Gott kommt und alle lebenden Kreaturen erhält.
Feuer ist heilig, besonders seine Quelle, die Sonne, die allen
Kreaturen Licht und Leben bringt. So verhält es sich auch mit
Pflanzen und Bäumen, vor allem gewisse Pflanzen, wie die
Tulsi-Pflanze und wie der Feigenbaum. Tiere sind heilig, besonders
die Kuh, die ihre Milch wie eine Mutter gibt, aber ebenso der
Elefant, der Affe und die Schlange. Schließlich ist der Mensch
heilig; jeder Mensch ist eine Manifestation Gottes, besonders aber
der Heilige, in dem die göttliche Präsenz noch klarer zum Ausdruck
kommt. Dies
ist das heilige Universum, in dem sich das Leben des Menschen von
Anfang der Geschichte an abspielte, das aber vollständig von der
wissenschaftsgläubigen westlichen Welt niedergerissen wurde. Sie
hat jedwede Spur von Heiligkeit aus dem Leben entfernt, so dass sich
der westliche Mensch nun in einem Universum befindet, in dem Mensch
und Natur letztlich ohne bleibende Bedeutung sind. (Aus:
Bede Griffiths „Die Hochzeit von Ost und West. Hoffnung für die
Menschheit“, Otto Müller Verlag)
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