Erfüllte Zeit

05. 03. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

Der Holzschnitzer

 

Khing, der Meisterschnitzer, schnitt einen Glockenständer aus kostbarem Holz. Als er fertig war, meinten alle, die ihn sahen, das sei ein Werk der Geister, so Schönes könne einem Menschen nicht gelingen.
Der Fürst von Lu fragte den Schnitzer: "Hast du ein Geheimnis?"

Khing erwiderte: "Ich bin ein Handwerker und habe kein Geheimnis. Es ist einfach so: Als ich über das Werk nachzudenken anfing, das du mir aufgetragen hattest, versammelte ich meinen Geist, dachte nicht mehr an Kleinigkeiten, die am Rande liegen. Ich fastete, damit mein Inneres zur Ruhe käme. Nach drei Tagen strengen Fastens hatte ich Lohn und Erfolg vergessen. Nach fünf Tagen dachte ich nicht mehr an Lob oder Tadel. Nach sieben Tagen spürte ich meinen Körper nicht mehr und keines seiner Glieder.

Ich wusste nicht mehr, dass ich am Hofe Eurer Hoheit war. Alles, was mich von der Arbeit ablenken konnte, war fortgetilgt. Ich war auf den einen Punkt hin gesammelt: den Glockenständer.

Dann ging ich in den Wald und sah mir die Bäume an, wie sie gewachsen waren. Als ich dann den einzig richtigen Stamm erblickte, war die Figur des Glockenständers schon in ihm, ganz klar und rein. Ich ging an die Arbeit, und die Form des Glockenständers schälte sich wie von selbst heraus.

Hätte ich nicht jenen bestimmten Baum erblickt, gäbe es diesen Glockenständer nicht. Was eigentlich geschah? Mein einziger gesammelter Gedanke traf auf die verborgene Gestalt im Holz. Aus dieser Begegnung erwuchs das Werk, das ihr den Geistern zuschreibt."

 

 

Aus: Thomas Merton. Sinfonie für einen Seevogel. Weisheitstexte des Tschuang-tse. Herder Spektrum. Freiburg Basel Wien 1996