Erfüllte Zeit

02. 04. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Die Stunde der Entscheidung - …wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“ (Johannes 12, 20 – 33)

von Abt Raimund Schreier OPraem

 

 

Mit dem heutigen Sonntag beginnt im liturgischen Kalender die so genannte Passionszeit: Im Mittelpunkt ihrer Betrachtung steht der beginnende Leidensweg Jesu in Richtung Golgotha. Wir hören von seinem Kreuzweg, vom Leiden, vom Sterben und vom Tod; aber auch vom Leben und von der Auferstehung.

Eines der Bildworte Jesu vom heutigen Sonntagsevangelium, das der Evangelist Johannes aus der letzten öffentlichen Rede Jesu zitiert, möchte ich herausnehmen: Das Bild vom Weizenkorn:

Amen, Amen, ich sage euch: wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.“ (Joh 12,24).

In diesem Bildwort spiegelt sich das Grundgesetz des Lebens: Wir müssen immer etwas sterben lassen, damit Leben zum Durchbruch kommen kann.

In der Natur beobachten wir, wie alle Früchte der Erde, so schön sie auch sein mögen, dazu bestimmt sind, zu verfallen und sich aufzulösen, um auf neue Weise fruchtbar zu werden. Die Blume verblüht und streut ihre Samen aus, um im kommenden Jahr in vielen Blumen neu ans Tageslicht zu kommen. Das Weizenkorn, soweit es nicht zu Mehl und Brot verarbeitet wird, legt man in die Erde. Dort vergeht es und wird fruchtbar in vielen Weizenkörnern. Das ist das Gesetz der Natur, der Kreislauf des ewigen „stirb und werde!“

Diese Erfahrung des Weizenkorns gibt es auch im menschlichen Leben: Es braucht den Verzicht, das Opfer, das Loslassen, das Hergeben, das Sterben meines Ego, damit etwas Neues, damit Leben entstehen kann.

 

Vor 10 Jahren, es war der 14. November 1996, nahmen in Chicago in den USA fast 200.000 tausend Menschen Abschied von einem Mann, der durch viel Leid hindurch einen tiefen Frieden gefunden hat: Es ist Kardinal Joseph Bernardin. In seinem Buch „Das Geschenk inneren Friedens, Reflexionen aus der Zeit des Loslassens“, beschreibt er die letzten drei Jahre seines Lebens, die Augenblicke seiner Passion:

Zunächst das unschuldige Leiden unter einer falschen, infamen Anschuldigung wegen angeblichen sexuellen Missbrauchs; dann die Krebskrankheit, die schließlich zu seinem Tod führte. Gerade in den dramatischen Momenten des Loslassens und Sterbens mitten im Leben zeigt sich die große spirituelle Kraft, die Joseph Bernardin beseelte; hier zeigt sich, auf welch außergewöhnliche Weise der Hl. Geist ihn geläutert und geformt hat.

„Mitten im Tod sind wir vom Leben umfangen“, so ergänzt Martin Luther das Salzburger Lied „Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen“.

Das stärkste Zeugnis dieses menschlichen Grundgesetzes gab der Christ, Priester und Kardinal Bernardin durch die Versöhnung mit seinem Ankläger, der sich durch diese Falschaussage mehr Geld erhofft hatte. Steven, so hieß der Ankläger, bat Joseph Bernardin um Vergebung, empfing nach einer langen Zeit der Gottes- und Kirchenferne wiederum das Sakrament der Versöhnung und feierte in seinem Zimmer mit dem Kardinal die heilige Messe. Bevor Steven sich verabschiedete, sagte er zum Kardinal: „Heute ist eine große Last von mir abgefallen. Ich bin geheilt und im Frieden.“

Eine weitere Frucht seiner Passion: Joseph Bernardin, selber schwerstkrank, er war derjenige, der die Kraft hatte, anderen Krebskranken beizustehen, sie zu trösten und ihnen Halt zu geben. Diese hingebende Liebe war ein starkes und glaubwürdiges Zeugnis für viele verzweifelte und nach einem Lebenssinn suchende Menschen.

Die Passionszeit erinnert uns also an das Gesetz des Sterbens und Lebens.

„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein, wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.“

Diese tiefe Weisheit habe ich auch am Schluss eines Gebetes gefunden, das dem hl. Franz von Assisi zugeschrieben wird:

Denn wer sich hingibt, der empfängt;

wer sich selbst vergisst, der findet;

wer verzeiht, dem wird verziehen;

und wer stirbt, der erwacht zum ewigen Leben.“