Erfüllte Zeit

09. 04. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Den Schrei der Leidenden lauter machen“

 

 

Das menschliche Leiden, konkret wahrgenommen, zerstört alle Unschuld, alle Neutralität, alles „ich war es nicht, ich konnte nichts dafür, ich habe es nicht gewusst“. Es gibt angesichts des Leidens keinen dritten Ort, jenseits der Opfer und der Henker. Darum ist jede Deutung des Leidens, die von den Opfern wegschaut und sich identifiziert mit einer Gerechtigkeit, die hinter dem Leiden stehen soll, schon ein Schritt auf den theologischen Sadismus zu, der Gott als den Quäler begreifen will.

 

Dass Menschen leiden und untröstlich sein können – davon ist auszugehen. Wir sollten uns den Traum von einem Menschen, der keinen Trost braucht, verbieten. Wir sollten auch aufhören, das Leiden in die bloße Vorgeschichte der Menschen einzuordnen, weil diese Einordnung einen Akt der Selbstverachtung darstellt. Weinen hat seine Zeit und Lachen hat seine Zeit, Trost brauchen und trösten ist menschlich, so menschlich, wie Christus war.

 

Wir können die sozialen Bedingungen, unter denen Menschen vom Leiden getroffen werden, verändern. Wir können uns selber ändern und im Leiden lernen, statt böser zu werden. Wir können das Leiden, das heute noch für den Profit weniger gemacht wird, schrittweise zurückdrängen und aufheben. Aber auf all diesen Wegen stoßen wir an Grenzen, die sich nicht überschreiten lassen. Nicht nur der Tod ist eine solche Grenze, es gibt auch Verdummung und Desensibilisierung, Verstümmelung und Verwundung, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Die einzige Form des Überschreitens dieser Grenzen besteht darin, den Schmerz der Leidenden mit ihnen zu teilen, sie nicht allein zu lassen und ihren Schrei lauter zu machen.

 

 

 

(Aus: Dorothee Sölle „Erinnert euch an den Regenbogen“, hrsg. von Bettina Hertel und Birte Petersen, Herder Verlag)