Erfüllte Zeit

17. 04. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Pinchas Lapide

 

 

Würde man die Rabbiner um einen Aphorismus bitten, der in lakonischer Kürze ihrer Weltanschauung gerecht wird, so bekäme man vielleicht zu hören: Der Unglaube an den Tod als Schlusspunkt des Daseins ist der Vater aller Lebensbejahung. Wie wäre sonst zu erklären, dass die Chassidim am Todestag ihres Rabbis um dessen Grab tanzen – aus Freude darüber, dass er „heimgekehrt ist“? Dass der rabbinische Ausdruck für „er ist gestorben“ nichts vom Hinscheiden weiß, sondern schlicht besagt: „Er ist in seine Welt gegangen“, wobei die damit gemeinte „Welt der Wahrheit“ nur sehr unzulänglich mit „Jenseits“ übersetzt werden kann. So ist es auch kein Zufall, dass im Totengebet des Judentums – dem Kaddisch der „Heiligung“ -, kein Wort zu hören ist von Tod, Sterben, Trauer oder Ableben, sondern ganz im Gegenteil: vom Gottesreich, vom Lob des Vaters im Himmel, von Seiner Schöpfung, von der Hoffnung auf Erlösung, vom Frieden der Endzeit und, nicht zuletzt, vom Ewigen Leben.

 

 

(Aus: „Dem Leben auf der Spur“, hrsg. von Wolfgang Brinkel, Gütersloher Verlagshaus)