Erfüllte Zeit

23. 04. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

„Die Beauftragung der Jünger“ (Johannes 20, 19 – 31)

von Andrea Taschl-Erber

 

Das heutige Evangelium ist Teil des Osterzyklus des Johannesevangeliums Zunächst wird erzählt, wie sich die nachösterliche Gemeinde durch die Erfahrung der Gegenwart des Auferstandenen konstituiert. Anschließend entfaltet die Thomasperikope das Thema Sehen und Glauben, welches das Osterevangelium des Johannes prägt, und führt von der erzählten Zeit in die Zeit der Leserinnen und Leser.

 

Am Beginn wird die Zeitangabe von V. 1 dieses Kapitels, das die Osterereignisse nach Johannes wiedergibt, aufgenommen: Es ist Sonntag, der erste Tag der Woche. Während Maria von Magdala jedoch am Anfang dieses Osterkapitels frühmorgens zum Grab gekommen ist, um es leer zu finden und schließlich als Erste dem Auferstandenen selbst zu begegnen, handelt das hier erzählte Geschehen am Abend desselben Tages. Die Szene spielt in einem Innenraum – hinter verschlossenen Türen: der Text spricht von der Angst der Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger, die sich – gelähmt durch die Ereignisse des Karfreitags, Jesu Tod und das scheinbare Scheitern seiner Mission – verstecken und im Verborgenen aufhalten. Unvermittelt tritt Jesus in die Mitte der hier versammelten Gemeinde. Als diese erkennt, dass der Gekreuzigte unter ihnen als Auferstandener gegenwärtig ist, herrscht große Freude. Das erinnert an Jesu Abschiedsrede, wo er ihnen versprochen hat wiederzukommen: ... Eure Trauer wird sich in Freude verwandeln. (...) ... Und niemand wird eure Freude von euch nehmen (Joh 16,20.22). Jesus schenkt der österlichen Gemeinde Frieden und sendet den Geist. Er beauftragt sie, sein Werk fortzuführen: Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Er selbst verwandelt ihre Angst in Freude, sodass aus der vorösterlichen Gemeinschaft seiner Jüngerinnen und Jünger der Anfang der nachösterlichen Kirche erwächst, in der er anwesend bleibt.

 

Aber nicht alle sind dabei, als Jesus sich seiner Jünger- und Jüngerinnengemeinde als Lebendiger erweist und diese seine neue, bleibende Gegenwart erfährt: Thomas fehlt. Die anderen sagen zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen, wie schon Maria von Magdala zuvor ihnen verkündet hat: Ich habe den Herrn gesehen (Joh 20,18). In dieser Formulierung, einem in der urchristlichen Bekenntnistradition hochkarätigen Osterzeugnis, manifestieren sich deren Sehenserfahrungen als Offenbarungserfahrungen der Anwesenheit des Auferstandenen. Das „Sehen“ von der Sinneswahrnehmung bis zur geistigen Erkenntnis dient hier gleichsam als Metapher für ein personales Begegnungsgeschehen, welches die besonderen Ostererfahrungen der Zeuginnen und Zeugen umschreibt – und damit eine Wirklichkeit, die den alltäglichen Erwartungshorizont transzendiert und schwer in Worte zu fassen ist.

 

Doch Thomas weist dieses Zeugnis zurück und fordert handfeste Beweise, um glauben zu können. Er beharrt darauf, Jesus selbst zu sehen, als Bedingung für seinen Glauben.   

 

Acht Tage darauf, also wieder am Sonntag, tritt Jesus erneut in die Mitte seiner Gemeinde. Dieses Mal ist auch Thomas dabei. Und dieses Mal erkennt auch er den Auferstandenen und kommt in der persönlichen Begegnung mit Jesus selbst zum Glauben. In dieser Begegnungserfahrung überwindet er seine Zweifel, sodass er sich erst gar nicht mehr „handgreiflich“ zu überzeugen braucht, und gibt eine Antwort des Glaubens, welche das höchste Glaubensbekenntnis im Johannesevangelium zur Sprache bringt: Mein Herr und mein Gott!

 

Doch Jesus erwidert: Selig sind, die nicht sehen und doch glauben. Die Frage nach dem Verhältnis von Sehen und Glauben stellt ein durchgängiges Thema in Joh 20 dar. Dieses wird  anhand exemplarischer Einzelgestalten auf unterschiedliche Weisen erzählerisch entfaltet und zeichnet so verschiedene Wege zum Glauben nach. Thomas repräsentiert in der nachösterlichen Zeit die Situation der späteren Generationen mit ihrem wachsenden zeitlichen Abstand zum Ostergeschehen, deren Glaube sich nicht mehr auf einen unmittelbaren Kontakt mit Jesus stützen kann, welche der Vermittlung bedürfen, um Jesus „sehen“ zu lernen und seine Gegenwart selbst zu erfahren. Bereits aufgrund des Zeitabstandes zu den ersten Begegnungen mit dem Auferstandenen erweist sich die Thomasgeschichte als erzählerische Brücke, welche die Ereignisse am Ostersonntag mit der nachösterlichen Zeit zukünftiger Glaubender verbindet. So richtet sich das Wort Jesu über den Text hinaus an die Leserinnen und Leser, wie auch der abschließende Epilog zeigt: Dies ist geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.