Erfüllte Zeit

30. 04. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Ein schmerzhafter Märchenerzähler

 

 

Mein Vater war schon lange ein Pensionist, als er zufälligerweise auf der Straße einmal jenem Zahnarzt begegnete, zu dem er uns, seine vier Kinder, früher hingeführt hatte. Der Zahnarzt war ein höflicher, freundlicher Mensch. Mein Vater auch. Und so nahmen sich die beiden Herren ein wenig Zeit, um über die Vergangenheit zu reden. Anscheinend erinnerte sich der Zahnarzt noch gut an uns, auch an mich, und fragte, ob ich noch immer so gerne Geschichten hörte. Das hat er sich gemerkt. Es wird wohl so gewesen sein, dass er mich zuerst mit seinen Geschichten abgelenkt hat, betäubt. Und dann, wenn man als Kind in seinem Märchengarten verweilte, auf einmal zuschlug und mit irgendeinem Eingriff schmerzlich überraschte.

 

Der erzählende Zahnarzt ist für mich auch heute noch ein Wegweisender ins Land der Märchen. Einer, der wusste, warum Menschen Märchen erzählen. Einer, der den Sinn des Erzählens verstanden hatte.

 

Das Erzählen lenkt von den Ängsten der Gegenwart ab, von den Schmerzen, die auf uns warten. Es reicht schon, dass diese Schmerzen uns quälen, wenn sie Tatsache geworden sind und die Fakten ihnen eine Aufenthaltsberechtigung erteilt haben. Vorher kann man die Zeit nützlich verwenden, indem man fröhliche Gedanken zulässt. Das war übrigens der Ratschlag meiner Mutter bei Kinderkrankheiten wie Kopfweh oder Bauchweh: Nicht mehr daran denken, meinte sie dann.

 

Für diese Zeiten zwischen den Schmerzen haben die Worte das Fliegen erfunden. Sie halten sich nicht mehr an die Banalität der Tatsachen. Sie erfinden Geschichten, Märchen, Träume, um die Schmerzen des Lebens zu verheimlichen, bis auf einmal der Zahnarzt zuschlägt. Dann ist die Zeit der Höhenflüge vorbei.

 

Es gibt nicht nur das Warten der Leidenden, sondern auch das Warten der Liebenden. Auch für Liebende fangen die Worte zu fliegen an. Wie Singvögel steigen sie auf und führen die Seelen der Liebenden in ein grenzenloses Land der Sehnsucht: Hier steht nicht am Ende ein schmerzhafter Zahnarzt, sondern ein Dichter. Er nimmt die Liebenden bei der Hand und erfindet Worte ohne Gewicht, Gedichte und Lieder, die das Fliegen gelernt haben: Nicht mit einem Zahnarzt endet das Märchen der Liebe, sondern mit einem open end. Es wird noch lange und glücklich gelebt.

 

Und der Wind der Hoffnung trägt die Wörter weit über den Horizont hinweg in ein Land, wo das Lachen zu Hause ist.

 

 

(Aus: Joop Roeland „Wie die Worte das fliegen lernten“, Otto Müller Verlag)