Erfüllte Zeit

07. 05. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Der gute Hirt als Gegenbild zum Tagelöhner“ (Johannes 10, 11 – 18)

von Pater Gustav Schörghofer SJ

 

 

Es gibt eine alte Sehnsucht, den Traum aller Träume: So zu sein wie Gott. Das heutige Evangelium hat etwas mit diesem Traum zu tun.

 

Das Bild des Hirten stammt aus einer alten Kultur. Um es zu verstehen, muss ich etwas verstehen vom Leben eines Hirten. Ich muss wissen, was es heißt, die einzelnen Schafe einer Herde zu kennen. Ich muss wissen, was es bedeutet, das Leben für das Wohl der Herde, das Wohl eines einzelnen Tieres aufs Spiel zu setzen. Wer von Ihnen hat von all dem eine Ahnung? Ich genauso wenig wie Sie. Natürlich lässt sich viel über den Hirten und seine Bedeutung als Bild erfahren. In der Bibel ist immer wieder von Hirten die Rede. Den Völkern der Bibel war diese Gestalt vertraut. Die Könige und die Führungselite eines Volkes wurden als Hirten bezeichnet. Immer wieder als schlechte Hirten, „die nur sich selber weiden“, wie es beim Propheten Ezechiel heißt. Das lässt sich unschwer auf unsere Zeit übertragen, auf Führungspersönlichkeiten in Wirtschaft und Politik, die vor allem den eigenen Vorteil suchen. Dem schlechten Hirten ist in der Bibel das Bild des guten Hirten gegenübergestellt. Der gute Hirte, das wird hier deutlich, ist letztlich Gott selber. Manchmal wird das Bild auch für einen Menschen verwendet, wie etwa König David. Aber letztlich leuchtet im Bild des guten Hirten die Wirklichkeit Gottes auf. Das wussten die Juden, denen der Jude Jesus im 10. Kapitel des Johannesevangeliums die Rede vom guten Hirten hielt. Jesus bezeichnet sich selber als den guten Hirten. Da konnte es nicht ausbleiben, dass er am Ende des Kapitels der Gotteslästerung bezichtigt wird: „... du bist nur ein Mensch und machst dich selbst zu Gott.“

 

Über solche Dinge konnten sich die Menschen damals, vor zweitausend Jahren, aufregen. Aber ist das noch unser Problem? Ist es Ihr Problem? Wie sich einer bezeichnet, ob als Hirte oder guter Hirte? Heute kann sich doch jeder bezeichnen, wie er will. Und was ein Hirte ist oder ein guter Hirte, davon hat ja sowieso niemand mehr eine Ahnung. Und noch weniger haben wir eine Ahnung davon, was es heißt, so zu sein wie Gott. Sie sind doch sicher zufrieden damit, gesund zu sein oder wenigstens halbwegs gesund und krankenversichert? Sie sind doch sicher zufrieden damit, einigermaßen gut zu verdienen, es könnte wohl mehr sein, aber immerhin gibt es Pensionsanspruch und Urlaub; zufrieden damit, nicht allein zu sein, einen netten Partner, eine nette Partnerin zu haben? Wer von Ihnen will denn schon sein wie Gott? Sich selbst zu Gott zu machen – nicht Ihr Problem.

 

Oder vielleicht doch? Vielleicht ist unsere Kultur mehr als je zuvor heute von einer mächtigen Dynamik durchdrungen. Jeder will so sein wie Gott. Eigenständig, selbstverantwortlich, mächtig, schön, berühmt, kreativ, erfolgreich. Wer lässt sich nicht gerne ein bisschen von anderen anbeten?

 

Das Sonderbare ist, dass Jesus nicht behauptet hat, es sei uns verboten, wie Gott sein zu wollen. Ganz im Gegenteil. Er hat sogar Mut dazu gemacht. Aber wie geht das? Wie werde ich wie Gott? Damit sind wir wieder beim guten Hirten. In diesem Bild ist die Antwort zu finden. Es ist ein dynamisches Bild, voll von der Dynamik eines Bemühens um andere. Einer ständigen Suchbewegung, um den Anderen besser zu kennen. Wenn mir die Anderen nicht gleichgültig sind, wenn ich sie besser wahrnehmen, besser erkennen, besser kennen lernen will, dann bin ich wie der gute Hirte. Dazu gehört auch, dass ich mich den Anderen mitteilen will, von ihnen besser erkannt werden will.

 

Und dann der Satz: Der gute Hirt gibt sein Leben für die Schafe. Sie könnten sich ja fragen: Wofür wände ich meine Zeit auf? Wenn Sie vor allem um sich selber kreisen, mit sich selber befasst sind, den eigenen Vorteil suchen, die eigene Position stärken wollen, dann haben Sie mit Gott reichlich wenig zu tun. Wenn Sie aber Ihre Zeit aufwänden, um andere wahrzunehmen und zu fördern, dann geben auch Sie Ihr Leben für andere. Meist wird es in der kleinen Münze alltäglicher Mühe gegeben. Das Bild vom guten Hirten ist als eine Reaktion auf die Selbstverherrlichung des Einzelnen äußerst aktuell. Es weist auf eine Würde hin, die ich mir nicht selber geben kann, die ich vielmehr durch Zuwendung zu anderen erhalte. Die alte Sehnsucht, so zu sein wie Gott, wird nicht verneint, sondern bejaht. Sie geht auf völlig überraschende Weise in Erfüllung. Seien Sie wie Gott – seien Sie der gute Hirte.