Erfüllte Zeit

14. 05. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

Ein Tag wie viele andere mit den Geräuschen des Alltags: Autos, Telefone, Radiogeräte. Überall die Stimmen der Menschen. Befehlende, bittende, fragende, verkaufende, unterrichtende Stimmen. Der Lebenswille hat eine laute Stimme, verschafft sich lautstark Gehör. Aber die Geräusche des Alltags sind auch die Geräusche der Sorge um das tägliche Brot. Hinter dem Lärm des Tages vernehme ich die leise Sprache der Sorge. Die laute Stimme des Alltags wird erträglich, wenn ich auch diese leise Sprache hinter dem Tageslärm verstehe.

 

Der Alltag ist zweisprachig. All die sicheren und lauten Stimmen, die auf mich zukommen, verbergen oft eine zweite Sprache: die Unsicherheit der Menschen, ihr Suchen und Fragen, soviel Einsamkeit.

 

Das Wichtigste steht oft zwischen den Zeilen, eine letzte Stimme verbirgt sich hinter den Geräuschen des Alltags. Ein Wort von Karl Kraus mahnt uns, „den Geräuschen des Tages zu lauschen, als wären es Akkorde der Ewigkeit“. Das wäre schön, wenn man so in den Alltag hineinhören könnte und sie vernehmen: diese letzte Stimme, die Stimme eines hauchdünnen Schweigens. In diesem Schweigen ist Gott.

 

 

(Aus: Joop Roeland „Wie die Worte das Fliegen lernten“, Otto Müller Verlag)