Erfüllte Zeit

11. 06. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Aus: Ina Praetorius „Handeln aus der Fülle. Postpatriarchale Ethik in biblischer Tradition“, Gütersloher Verlagshaus

 

 

Wenn ich bete, spüre ich manchmal am eigenen Leib, wie der Boden, auf dem ich liege, auf dem ich schon als Säugling lag, sich in alle Richtungen ausdehnt, sich schließlich zu dem Erdball zusammen fügt, auf dem sechs Milliarden Menschen stehen, liegen, sitzen, beten, geboren werden, leiden, sterben. Auch die Luft, auf die ich seit meinem ersten Atemzug angewiesen bin, die ich auch hier und jetzt ein- und ausatme, verbindet mich mit allen anderen Kreaturen, die wie ich Luft zum Leben brauchen.

 

Jetzt ist es nicht mehr schwierig, jenseits all der Abgrenzungen, die das patriarchale „Teilen und Herrschen„ mir einverleibt hat, zu empfinden, woran ich mich täglich neu orientieren kann: an dem Wissen, dass sich alle Menschen ähneln, auch wenn Welten zwischen ihnen zu liegen scheinen: Alle Menschen bewohnen dieselbe Erde und atmen dieselbe Luft, alle wurden von Müttern geboren, am Anfang ihres Lebens von Mitmenschen umsorgt. Alle haben Wünsche und Begabungen und brauchen Nahrung, Luft, Sinn, sauberes Trinkwasser, ein gewisses Maß an Sicherheit, eine Betätigung und einen Ort, an dem sie schlafen können. Alle leben in einem Gemeinwesen, das ein Teil des Gemeinwesens Welt ist, und alle verständigen sich mit anderen in Mimik, Gestik, Sprache und vielen anderen Ausdrucksformen. Von einem bestimmten Alter an befolgen alle Menschen Regeln, von denen andere ihnen gesagt haben, dass sie gutes Zusammenleben fördern. Und fast alle sind bereit, ihre Begabungen und Wünsche so ins Zusammensein einzubringen, dass es ihnen und anderen wohl ist. Alle Menschen sind in jeder Minute ihres Lebens vom Tod bedroht. Und alle freuen sich, wenn sie geliebt und anerkannt werden.

 

Die Empfindung, dass uns Frauen und Männern bei aller Verschiedenheit all dies gemeinsam ist, hat Ausdruck gefunden in der Vorstellung der Gottebenbildlichkeit der Menschen, vom gleichen Wert aller Erdenbürger korrespondiert. Aus diesem Grundwissen leiten sich die unterschiedlichsten Rechtssätze und Handlungsformen wie das Almosengeben, das Asylrecht oder die Armenfürsorge ab.