Erfüllte Zeit

25. 06. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

Max Frisch „Du sollst dir kein Bildnis machen“

 

Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. Wir wissen, dass jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet, und dass auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das längst Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe befreit aus jeglichem Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertig werden: weil wir sie lieben; solange wir sie lieben. Man höre bloß die Dichter, wenn sie lieben; sie tappen nach Vergleichen, als wären sie betrunken, sie greifen nach allen Dingen im All, nach Blumen und Tieren, nach Wolken, Sternen und Meeren. Warum? So wie das All, wie Gottes unerschöpfliche Geräumigkeit schrankenlos, alles Möglichen voll, aller Geheimnisse voll, unfassbar ist der Mensch, den man liebt -.

 

 

(Aus: „Dem Leben auf der Spur. Gedanken für jeden Tag des Jahres“, hrsg. von Wolfgang Brinkel, Gütersloher Verlagshaus)