Erfüllte Zeit

02. 07. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Die Auferweckung der Tochter des Jairus und die Heilung einer kranken Frau“ (Markus 5, 21 – 43)

von Pfarrer Hans-Peter Premur

 

 

Jesus ist auf dem Weg zu einem sterbenden Mädchen, um es zu heilen. Er wird dabei von einer Menge von Menschen aufgehalten, die alle etwas von ihm wollen. Besonders eine, die blutflüssige Frau stellt sich ihm in den Weg und kostete ihm einiges an Kraft. Denn als sie sein Gewand berührte, spürte er wie eine Kraft von ihm aus strömte. In seinem Kraftreservoir blieb aber noch genügend davon übrig, um die mittlerweile verstorbene zwölfjährige vom Tode zu erwecken. In dieser Wunder- und Heilungserzählung fällt mir auf, dass man sie von drei verschiedenen Seiten betrachten muss, um in die Mitte dieses Textes einzudringen. Die eine Seite ist die, der historischen Information. Ich erfahre beim Hören und Lesen dieses Textes, einiges über die damalige Gesellschaft und dem sozialen Kontext in dem Jesus gewirkt hat. So wie öfters im Leben Jesu wird hier von einem Tabubruch berichtet. Eine blutflüssige Frau ist unrein und eine Tote ebenso. Sich von der einen berühren zu lassen und die andere selber zu berühren ist ein eindeutiger Bruch mit der damals praktizierten Frömmigkeit. Wir könnten jetzt in diesem Text die epochale Bedeutung Jesu darin erkennen, dass er selbst die engen sozialen und religiösen Rahmenbedingungen zu Gunsten der Menschen durchbricht. Doch das ist mir zum Verständnis dieses Textes noch zu wenig. Was nützt mir eine historische Information für meinen Glauben heute? Deshalb schauen wir eine Ebene tiefer. Unser betrachtender Blick fällt dabei auf, die im Text versteckte moralische Aufforderung, „Fürchte dich nicht“ oder „Dein großer Glaube hat dir geholfen“. Dabei spüren wir instinktiv ein gewisses Sollen. „Du sollst stärker Glauben, du sollst mehr Vertrauen“, sind bekannte Ratschläge, die von unseren gläubigen Mitmenschen gerne ausgesprochen werden. Oft aber bewirken sie genau das Gegenteil, denn woher soll ich die Kraft bzw. den Geist dafür bekommen. Was nützt mir also für meinen Glauben heute, das historische Wissen, was moralische Appelle, wenn da nicht eine tiefere Erfahrung mit Jesus gemacht wird, bei der ein Funke überspringt. Die dritte und tiefste Schicht dieses Textes ist deshalb die mystische Seite. Sowohl die blutflüssige Frau, als auch das verstorbene Mädchen machen eine Erfahrung mit Jesus. Es heißt, dass eine Kraft von ihm ausströmte. Um diese Kraft geht es mir heute bei unserem Bibeltext. Die Evangelien sind dazu geschrieben, dass wir die Person Jesu Christi vor Augen geführt bekommen, doch was nützt die beste Beschreibung eines Menschen, einer Botschaft, wenn da nicht der Funke überspringt und etwas zu brennen beginnt. Eine Dynamis ist in Jesus, so der Tenor des gesamten Evangeliums und diese Dynamis, diese überspringende und ausströmende Kraft, ist die Kraft Gottes selbst und diese steckt auch im Evangelium. Deshalb ist es wichtig den heiligen Text nicht nur als historisch oder moralisch zu sehen, sondern besonders als einen lebendigen und mystischen Text. Theologische Überlegungen sind wichtig und für das bessere Verständnis absolut notwendig, dennoch eröffnet sich der Text nur dann einem Menschen, wenn dabei eine Erfahrung mit der Dynamik Gottes selbst gemacht wird. Und diese Erfahrung ist vor allem Denken. Immer wieder wird uns im Lauf der Kirchengeschichte davon berichtet, dass Menschen so eine lebendige Erfahrung mit dem Evangelium gemacht haben, dass der göttliche Funke auf jemanden übergesprungen ist, der dann sein altes Leben verändert und ein neues in Gott begonnen hat. Unzählige Heiligenbiographien berichten von solchen Momenten. Vielleicht gibt es auch in ihrem Leben (liebe Zuhörer) solche Momente, wo sie von der Kraft Gottes berührt wurden. Solche geistlichen Erfahrungen gilt es wie kostbare Juwelen aufzubewahren und sich daran zu erinnern. Das lange Evangelium vom heutigen Sonntag ist daher eine spirituelle Ermunterung uns von Jesus neu berühren zu lassen. Auf der Ebene des Verstandes, der Moral, aber besonders auf der innersten – der mystischen Ebene. Denn im Hautkontakt mit Jesus, in der innigen Beziehung zu ihm offenbart sich sein schier unerschöpfliches Kraftreservoir. Es ist die Energie Gottes selbst, die im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Menschen vom Dunkel ins Licht, vom sozialen Tod ins volle Leben, von der Enge in die Weite geführt hat. Diese Kraft zu erfahren, die von Jesus ausgeht, sind wir als Christen berufen. Diese Kraft von der das Evangelium heute berichtet hat die Dynamik die Welt und die Menschen verändern kann. Lassen wir uns neu von ihm berühren oder strecken wir uns erneut nach ihm aus.