Erfüllte Zeit

09. 07. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Den kennen wir doch… - Die Ablehnung Jesu in seiner Heimat“

(Markus 6, 1b – 6)

 von Helga Kohler-Spiegel

 

 

Die Szene spielt in Jesu „Vaterstadt“. Diese wird nicht genannt, aber es ist klar, dass es sich um Nazareth handelt. Indirekt erfahren wir, dass Jesus erst jetzt, also relativ spät, in seine Heimatstadt kommt, die Kunde von Jesus, von seinen Taten und seiner Weisheit ist schon dorthin durchgedrungen, auch wenn er selbst noch nicht da war. Nazareth wird wie ein Gegensatz zu Kapernaum dargestellt. An beiden Orten predigt er in der Synagoge, während er in Kapernaum großen Erfolg hat, ist dies in Nazareth nicht so. Die Menschen in Nazareth finden nichts Besonderes an Jesus, seine Weisheit ist in ihren Augen Trug, seine Taten sind Tricks, er ist „ganz normal“, einer von ihnen, Zimmermann, Sohn der Maria, seine Geschwister kennt man mit Namen.

 

Im Raum Galiläa, rund um den See Genezareth, ist Nazareth der Ort, an dem Jesus nicht erkannt wird. Der Preis dafür ist hoch: Es gibt so viele leidende Menschen, auch in Nazareth, aber Jesus kann dort keine Wunder tun, er kann sie nicht heilen, nur ein paar wenige. „Unglauben“ wird dies genannt.

 

Die Ablehnung in Nazareth ist verbunden mit dem Hinweis Jesu, der den Jüngern und vielleicht auch sich selbst zu gelten scheint: „Der Prophet im eigenen Land.“ Die anonyme Menge in Nazareth – „die vielen Menschen“, die Jesus abwerten, seine Taten bagatellisieren und sein Wirken sarkastisch kommentieren, verändern sich plötzlich: es sind seine Verwandten und seine Familie.

 

Es ist eine schmerzhafte Phase im Leben Jesu, die uns hier erzählt wird. Jesus hat seine Heimatstadt verlassen, ist als Wanderprediger durch die Gegend gezogen, hat sich „einen Namen gemacht“ als Heiler, als einer, der Kranke gesund machen kann, der Dämonen austreiben kann, der voll Weisheit ist. Und zuhause wird dies alles ignoriert: „Den kennen wir doch…“ Bei uns verändert sich niemand, das gibt es gar nicht, ich kannte schon seinen Vater, der war auch so… Es ist schmerzhaft, wenn gerade nahe Menschen uns nicht wahrnehmen, wenn vertraute Menschen nicht wahrhaben wollen, dass wir uns verändern, dass wir uns verändert haben.

 

Es geht also in diesem Abschnitt aus dem Markus-Evangelium um die Frage nach der Identität Jesu. Identität verbindet die Frage „wer bin ich in meinem Augen?“ mit der Frage „wer bin ich in den Augen der anderen?“ Wir wissen, dass wir uns dann relativ zufrieden fühlen, wenn das, was die anderen von uns denken, in etwa deckungsgleich ist mit dem, wie ich wir uns selbst wahrnehmen und empfinden. Besonders Kinder sind feinfühlig dafür, im frühen Jugendalter wird es als Leiden spürbar, wenn ich erlebe, (z.B.) die Mama, die mir immer so nah war, versteht mich gar nicht mehr, sieht mich ganz falsch. Oder wenn Lehrpersonen einem „Unrecht“ tun.

 

Die anderen Menschen sind wichtig, damit wir erleben können: Das bin ich in meinen Augen, das bin ich in den Augen anderer. Die „Anderen“ – das können Menschen, die mir nahe und lieb sind, Partner, Familie, Freunde, aber auch Kolleginnen und Kollegen, Nachbarn... Es sind jedenfalls Menschen, die mir wichtig sind, denen ich so viel Einfluss auf mich gebe, dass es mir nicht egal ist, was sie über mich denken. Sie machen sich ein Bild von mir, im Verhältnis zu diesem Bild wird auch meine Entwicklung beurteilt. Wenn das Verhalten eines Menschen zu sehr in Widerspruch zu diesem Bild gerät, macht das unsicher und erschwert die Kommunikation. Genau das ist hier in Nazareth geschehen, das geschieht bis heute immer wieder: Ein Partner hat im Verlauf von Jahren ein Bild seiner Frau entwickelt, wie sie ist (und auch sein soll). Nun verändert sie sich, er merkt es zuerst gar nicht, allmählich wird es sichtbarer, der Mann vergleicht die Entwicklung seiner Frau mit den Bildern, die er von ihr hat – und ist ganz gegen diese Veränderung, sie verunsichert ihn, vielleicht macht sie ihm auch Angst. Seine Frau wiederum ist enttäuscht, sie hat mit viel Aufwand eine Veränderung zugelassen, es war ja auch nicht einfach für sie, und sie wünschte sich, dass ihr Mann diese Veränderung wahrnimmt, sich damit auseinandersetzt, sie wenigstens ernst nimmt. Ihr Mann aber bleibt bei dem, was er immer schon kannte, seine Frau soll sich nicht verändern…

 

Sie können sich wahrscheinlich ausmalen, dass das auf Dauer nicht gut geht. Was hier zwischen Mann und Frau erzählt ist, kann auch umgekehrt sein, es kann sich im Umgang mit heranwachsenden Kindern so zutragen. Jesus ist es auch so ergangen.

 

Von einer 14jährigen Schülerin ist der Text überliefert:

 

Meine Mutter sagt: „Ach komm, ich

kenn dich doch!“

Meine Freunde sagen: „Komm schon,

wir kennen dich!“

Wie wollen sie mich alle kennen,

wenn ich mich selbst nicht einmal

kenne? [1]

 

Um mich selbst zu kennen, muss ich mich anderen zeigen, ich muss gesehen werden – und ich brauche Rückmeldung durch andere. In vielfältiger Weise sammeln wir ständig Erfahrungen, um zu erleben, wer wir in unseren eigenen Augen sind und wer wir in den Augen anderer sind. Und die Menschen in Jesu Heimat verweigern, die Veränderung bei Jesus zu sehen, ihn zu erkennen. Es gibt ein altes Bild von Jesus, das stärker ist als alles andere: Das ist doch der Bauhandwerker, der Sohn der Maria, den kennen wir doch….

 

Jesus hat seinen Weg aus Nazareth hinaus gemacht, nach zahlreichen Stationen als Wanderprediger kommt er zurück – und er wird nicht erkannt. Er wird abgewertet, er wird bagatellisiert – der ist doch nicht so besonders, den kennen wir doch schon ewig… Jesus wird als das Kind gesehen, das hier aufgewachsen ist, als Person aus seiner Herkunft, aus seiner Familie. Ihm wird keine Entwicklung, keine Veränderung zugetraut, es ist alles wie damals, es hat alles wie damals zu sein. „Wir kennen dich doch…“

 

In Nazareth hat Jesus keine Chance, sich als der zu zeigen, der er geworden ist – als sich der Himmel über ihm öffnete, als er Gottes Zusage erkannte. Gegen die herrschenden Bilder über ihn hat er zuhause keine Chance, sich zu zeigen, er hat keine Chance, als „anderer“ gesehen zu werden. Wann immer dies geschieht: es ist eine traurige Geschichte.

 


 

[1] Sabine, 14, Sek.-Schülerin, zit. nach Fend, Helmut, Die Entdeckung des Selbst und die Verarbeitung der Pubertät, Bern 1994, 41.