Erfüllte Zeit

27. 08. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

Aus: Henri Le Saux (Swami Abhishiktananda) „Innere Erfahrung und Offenbarung. Theologische Aufsätze zur Begegnung von Hinduismus und Christentum“

 

 

Das Individuum findet sich als hier hin geworfen: Sicherlich weiß er – durch andere – dass er von diesen Eltern geboren wurde, an diesem Ort, zu jenem Datum. Er ist da. Woher kommt er? Wohin geht er? Alle die Menschen, die seinen Weg kreuzen, geben ihm ihre eigene Sicht darüber mit. Was ist seine Bestimmung? Sein Seinszweck? Hat er irgendeine Pflicht zu erfüllen, etwas zu tun, das ihm als Eigenes zukommt? Er fragt, er hört zu, er lernt, er denkt nach, er sieht die Grenzen von allem.

 

Dann bieten sich uns die Religionen an: komm zu uns, wenn du nicht deine Seele auf ewig verlieren willst. So das Christentum und jede seiner christlichen Teilgruppen, die alle die Unfehlbarkeit behaupten wie auch der Islam. Vergeude nicht deine Zeit hier und da, beeile dich der Kette der Wiedergeburten zu entkommen, wirf dich ein für alle mal auf den direkten Weg zum Letztgültigen (Befreiung). So der Hinduismus. Und da sind in der Welt noch die großen nicht-religiösen Humanismen, der Marxismus, verschiedene Rationalismen. Jeder einzelne ist in einem oder anderem dieser Systeme aufgewachsen. Aber eines Tages empfindet er in all dem das Relative. Und Dann? Wer bin ich?

 

Der Mensch hat in seinem Grund den Durst nach dem Absoluten an sich. Und an dem Tag, an dem dieser Grund in ihm sich offenbart, ist es aus mit all den Befriedigungen, in denen der Mensch sich ausgeruht hatte; es ist ihm keine Ruhe mehr möglich solange dieser unauslöschbare Durst ungestillt bleibt. Wer kann zur Milch seiner Mutter zurückkehren und wer kann ernsthaft die Spiele seiner Kindheit wieder aufnehmen? Der Mensch ist ein Schwimmender, den die Wellen fort getragen haben, und der keinen Boden mehr für seine Füße findet. Er bewegt und streckt seine Glieder, wie er kann, aber nichts ist da, woran er sich festhalten kann. Dies ist in der Tat das fundamentale Paradox der menschlichen Existenz, das die christliche Theologie ins Licht gestellt hat, wenn sie zeigt, dass der Mensch durch seine Naturkräfte radikal unfähig ist, Gott zu erreichen, und dass dennoch die Berufung zu Gott ins Herz seiner Natur eingeschrieben ist.

 

Doch das innere Mysterium ruft mit einer zerreißenden Kraft und kein Wesen im Außen kann mir helfen, dort einzudringen und für mich das Geheimnis meines Ursprungs und meiner Bestimmung zu entdecken. Ich selbst muss dieses Geheimnis enthüllen, mein Heil verwirklichen. Auch um den Preis einzutauchen, alles einzusetzen um alles zu gewinnen, wie der Offizier, der die Luke seines Unterseebootes schließt und sich in die großen Tiefen sinken lässt. Und dann die Einsicht: In der Gegenwart Gottes gibt es keine Abstufungen. Überall ist Gott in der Fülle seines Seins gegenwärtig.

 

 

(Salzburger Theologische Studien 23, hrsg. von Christian Hackbarth-Johnson, Bettina Bäumer und Ulrich Winkler, aus dem Französischen und Englischen übersetzt von Christian Hackbarth-Johnson, Tyrolia Verlag)