Erfüllte Zeit

10. 06. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

„Die Heilung eines Taubstummen“ (Markus 7, 31 – 37)

von Elisabeth Rathgeb

 

 

Öffne dich!

Effata - öffne dich!, sagt Jesus zum Taubstummen. Taub und stumm steht er vor Jesus. Taub und stumm wie viele seiner und unserer Zeit vor dem Geheimnis Gottes. Wer ist dieser Jesus? Wo ist Gott? Effata - öffne dich!, sagt Jesus und erschließt ihm damit eine neue Welt, einen neuen Zugang zu Gott: Ein heilender Gott. Ein Gott, der sich berühren lässt und berührt. Kein unberührbarer, ferner Gott. Ein angreifbarer, begreif-barer Gott. Ein Gott, der nahe ist. Kein ferner, anonymer Gott. Ein zärtlicher Gott.

 

Taub oder gehörlos sein - ich kann es mir nur schwer vorstellen: Keine Stimmen und Gespräche hören, keine Musik genießen, kein Vogelzwitschern, kein Rauschen des Windes in den Blättern, kein Wasserfall. Dafür auch kein Straßenlärm, keine Hupen und keine startenden Flugzeuge - nur Stille. Ich könnte es mit Ohrstöpseln ausprobieren, aber das will ich nicht: Zu groß ist die Angst, lebensrettende Signale zu überhören - einen Feueralarm, einen Hilfeschrei.

 

Stummsein liegt meiner Vorstellungskraft schon näher: Eine Woche lang hat mir vor Jahren eine Kehlkopfentzündung die Stimme geraubt. Sprachlos habe ich versucht, mit meinen Schülern über Zeichen und Schrift zu kommunizieren: Nach drei Tagen habe ich aufgegeben. Es waren die kleinen Signale, die fehlten. Die Möglichkeit, jemanden beim Namen zu rufen. Die Mühe, alles aufzuschreiben. Die Begrenztheit der Körpersprache, wenn es um komplizierte Zusammenhänge geht.

 

Taubstumm sein heißt zuerst einmal ausgeschlossen sein von der Welt, von Beziehungen, Kontakten und Kommunikation. Ausgeschlossen aus der "communio" - der Gemeinschaft - der Hörenden und Sprechenden. Sozusagen "exkommuniziert". Umso mehr bewundere ich Menschen in meinem Bekanntenkreis, die sich trotz dieser Beeinträchtigung eine intensive Art der Kommunikation erworben haben: mit kunstfertiger Gebärdensprache, mit großer Sensibilität für die Gefühlslage anderer Menschen, mit hoher Kreativität im Erfinden ausdrucksstarker Zeichen.

 

Wie Heini, der heute in der Arche in St. Jodok am Brenner wohnt und von Geburt an taubstumm ist: Er kann weder hören noch sprechen, aber die Schwingungen einer Blasmusikkapelle so aufnehmen, dass er sie im wahrsten Sinn des Wortes Takt-voll dirigieren kann. Das ist seine Art der Kommunikation.

 

Aber der Evangelist Markus hätte uns die Heilung des Taubstummen wohl nicht überliefert, wenn sie nicht in einem größeren Zusammenhang stehen würde: Jesus sucht nach Gleichnissen und Zeichen für das "Reich Gottes". Jesus gibt Antwort auf die Fragen: Wo ist Gott? Wer ist Gott? Wie ist Gott? Es geht um die zeitlose Frage unserer Beziehung zu Gott und damit auch zu den Menschen. Und daher fasziniert mich der Bericht über die Heilung des Taubstummen auch heute noch: Wie oft erlebe ich mich selber als "taubstumm" im Gespräch mit Gott. Taub für die Zeichen der Nähe Gottes. Stumm und ohne Antwort auf sein Wort hin. Sprachlos, wenn es um die Frage geht: Wo ist Gott im Angesicht von Leid und Tod? Manchmal sind alle Kanäle verschlossen. Die Antennen empfangen keine Signale. Funkstille nach innen und außen. Dann ist es tröstlich zu sehen, wie Jesus den Taubstummen heilt: Erstens fällt auf, dass er im Vergleich zu manch anderen Heilungserzählungen nicht selbst den Weg zu Jesus finden muss: Andere bringen ihn zu ihm. Und stellvertretend bitten sie für ihn, Jesus möge ihn berühren. Im festen Vertrauen, dass schon die Berührung, der Kontakt mit Jesus heilt.

 

Jesus nimmt den Taubstummen beiseite, von der Menge weg: Jesus sucht nicht den großen Auftritt für sich. Er benützt die Heilung des Taubstummen nicht als öffentlichkeitswirksames Event seiner Selbstinszenierung. Er stellt ihn auch nicht bloß und unterzieht ihn keiner "Glaubensprüfung". Er wendet sich ganz dem Taubstummen zu. Heilung geschieht in der persönlichen Zuwendung, von Angesicht zu Angesicht: Jesus berührt die Zunge des Mannes mit Speichel. Das hat heutzutage etwas Abstoßendes für uns, außer, wenn es um eine sehr intime Beziehung geht - wie bei einem Kuss zwischen Liebespaaren. Und dann kommt das erlösende, das lösende Schlüssel-Wort: Effata - öffne dich! In diesem Fall gilt nicht "Dein Glaube hat dich geheilt", sondern einfach und manchmal doch so schwer: Öffne dich! Öffne dich der heilenden Nähe Gottes. Öffne dich der liebevollen Zuwendung Gottes. Effata!