Erfüllte Zeit

10. 09. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Aus: Gianni Vattimo „Glauben – Philosophieren“, aus dem italienischen übersetzt von Christiane Schultz, Verlag Philipp Reclam jun.

 

 

Die Wahrheit des Christentums ist nur diejenige, die sich jeweils durch die sich im Dialog mit der Geschichte ereignenden „Beglaubigungen“ und, wie Jesus gelehrt hat, unter dem Beistand des Heiligen Geistes herstellt. Wir können der Meinung sein, dass die Kirche des 17. Jahrhunderts darin irrte, dass sie Galileo verurteilte; aber wir denken so legitimerweise nur von unserem in der Geschichte veränderten Standpunkt aus und aufgrund dessen, was sich in der Zwischenzeit ereignet hat und was wir gelernt haben. Nicht vom Standpunkt der ewigen Wahrheit aus – sei es der Schrift oder auch nur der „Wissenschaft“.

 

Was ist es, was ich wieder entdecke, wenn ich das Christentum wieder entdecke, angetrieben durch bestimmte, auf der philosophischen Ebene erreichte Schlussfolgerungen, aber auch durch eine Reihe „kultureller“ Motivationen, die ich mit meiner Welt teile, und vor allem durch ein Erbe, das nie aufgehört hat, in mir zu wirken? Gewiss sehe ich mich nicht einem Besitzstand von Lehrern und klar definierten Vorschriften gegenüber, die alle meine Zweifel ausräumen und mir deutlich zeigen, was ich tun soll. Es ist richtig, dass die christliche Lehre, wie sie von der katholischen Kirche gepredigt wird, sich mir genau unter diesem Aspekt darzustellen bestrebt ist; und wenn ich sie nicht genau so wieder entdecke, dann liegt das daran, dass ich sie nicht in ihrer Wahrheit wieder entdecken will. Aber dieses Christentum des Dogmas und der Disziplin hat nichts mit dem zu tun, was ich oder meine Zeitgenossen „wieder entdecken“; nicht auf diese Weise vermag die Lehre Jesu uns zu sich zu rufen und zu uns zu sprechen. Ist das nur unsere Schuld, oder sollte diese Tatsache nicht auch denjenigen zu denken geben, die sich für die Hüter der Glaubenswahrheit halten und des Missionsbefehls, sie der Welt zu verkündigen? das Christentum, das ich wieder entdecke, oder das wir Halbgläubigen von heute wieder entdecken, schließt mit Sicherheit auch die offizielle Kirche ein; jedoch nur als Teil eines komplexeren Ereignisses, das auch die Frage der ständigen Neuinterpretation der biblischen Botschaft umfasst.

 

Statt sich als Anwalt der Heiligkeit und Unberührbarkeit der „Werte“ zu präsentieren, sollte der Christ vielmehr wie ein gewaltloser Anarchist agieren, wie ein ironischer Dekonstrukteur der Ansprüche der geschichtlich gewachsenen Ordnungen, nicht vom Streben nach einer größeren Bequemlichkeit für sich, sondern vom Prinzip der christlichen Liebe gegenüber den anderen geleitet.