Erfüllte Zeit

17. 09. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

Aus: Kwok Pui-lan „Interpretation als Dialog. Eine biblische Hermeneutik aus Asien“

 

 

Als Jesus durch die Dörfer ging und das Evangelium predigte, gehörten die Frauen mit zur Menge, die ihm folgte. Unter ihnen waren solche, die Jesus von bösen Geistern und Krankheiten geheilt hatte, wie Maria Magdalena, Johanna, die Frau des Dieners des Herodes, Susanna und viele andere; diese Frauen sorgten für Nahrung und das andere Nötige für Jesus und die Jünger (Lk 8, 1 – 3). Die jüdischen Frauen in den Dörfern Galiläas hörten das Gerücht, dass ein junger Mann hierher gekommen sei, um eine gute Nachricht zu predigen, von der sie nie zuvor gehört hatten. Er sprach von einem neuen Reich Gottes und stellte die bestehende Ordnung und ihre Autoritäten in Frage. Das Wichtigste aber war, dass er sagte, die Frauen würden gleich wie Männer in diesem Königreich einen wichtigen Platz einnehmen.

 

Beim Weitertragen des Auftrages Gottes in Asien hören wir immer wieder diese Fragen: Wer ist Gott? Kann Gott in der Kirche oder unter den Menschen gefunden werden? Wo ist die Heilige Ruach? Ist sie nur den Christinnen und Christen verliehen oder findet sie sich auch bei Menschen anderer Religionen? Wir erinnern daran, dass Jesus von der samaritanischen Frau nicht verlangte, in den Tempel in Jerusalem zu gehen. Stattdessen sagte er, wahre Diener und Dienerinnen Gottes würden ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.

 

Einmal wurde Jesus im Tempel mit einer Prostituierten konfrontiert, die beim Ehebruch ertappt worden war (Joh 8, 1 – 11). Die Schriftgelehrten und Pharisäer wollten die Gelegenheit ergreifen, Jesus in eine Falle zu locken. Sie fragten ihn: „Mose hat im Gesetz befohlen, solche Frauen zu steinigen; was sagst du dazu?“ Jesu Gesetzestreue stand auf dem Spiel. Er beugte sich nieder und schrieb mit dem Finger in die Erde. Schließlich stand er auf und sagte: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie!“ Während es den Schriftgelehrten und Pharisäern darum ging, die Tradition und das Gesetz zu bewahren, fragte Jesus sich vermutlich, was das Gesetz wert ist, wenn es nicht einmal eine unterdrückte Frau zu schützen vermag.

 

In dieser Geschichte wird der sexuell missbrauchte Körper der Frau zum machtvollen Symbol für die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft: die Unterdrückung der Armen durch die Reichen, der Machtlosen durch die Mächtigen, der Frauen durch die Männer. Heute stellen die Leiden der Prostituierten in den Großstädten Asiens wie Hongkong, Jakarta, Bangkok, Manila und Seoul, der Arbeiterinnen, die übermäßig viele Stunden in den multinationalen Konzernen arbeiten, und der Bäuerinnen auf dem asiatischen Subkontinent und in anderen ländlichen Gebieten die Scheinheiligkeit des so genannten Wirtschaftswunders in Frage. Die Körper dieser Frauen schreien laut auf; sie entlarven die kollektive Sünde unserer asiatischen Gesellschaft.

 

Sie fordern dazu auf, nach einer Vision für eine neue Gesellschaft Ausschau zu halten, in der die Leute fähig sein werden, in Frieden und Gerechtigkeit zu leben, und in der es wahre Partnerschaft zwischen Frauen und Männern geben wird.

 

(Aus dem Englischen von Veronika Merz, Edition Exodus Luzern 1996)