Erfüllte Zeit

24. 09. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

Ana Maria Schlüter Ródes. Das Zitat stammt aus „Einübung und Weisung“, erschienen in der Zeitschrift „Geist und Leben“ 3/2006

 

 

In der Versenkung können sich Augenblicke des „Vergessens“ einstellen. Man weiß, da war etwas, aber man kann sich auf keinerlei Weise darin erinnern, was es gewesen ist. Man weiß, es ist etwas Wirkliches, aber man weiß nicht, was es ist.  Nie und nimmer kann man sich daran erinnern. Es ist eine Wirklichkeit, in der man nichts unterscheiden kann, sie bleibt dunkel, das Gedächtnis kann sie nicht erfassen. Eigentümlicherweise aber sieht man nach solchen Momenten die verschiedensten Dinge und konkrete Situationen viel deutlicher. Vielleicht geschieht es, dass ein Problem erhellt wird, das man davor nicht verstehen konnte oder angesichts dessen man nicht wusste, wie man handeln sollte. Es kann auch sein, dass plötzlich eine Musik ganz tief dringt, oder ein Blick, eine Blume, das Brot auf dem Tisch, die Verkehrsampel auf der Strasse.

           

So überraschend es scheinen mag, jenes „Nichts“, in dem man nichts Konkretes unterscheiden kann, erleuchtet Situationen und Dinge verschiedenster Art. Das Dunkle kann nicht vom Hellen getrennt werden, das Gleiche nicht vom Unterschiedlichen. Sie sind eins. Die Wirklichkeit so zu sehen, bedeutet sie zu erkennen, wie sie ist, mit ihrem ganzen Tiefgang und nicht nur oberflächlich, wie sie die Sinne und der Verstand wahrzunehmen vermögen. Dann mag es sein, dass ich ein Blatt sehe, und doch ist es nicht genau das Blatt, was ich sehe, und zugleich sehe ich es viel besser. Die Klosterschwester, die in dem Film „Dead Man Walking“ den wegen Vergewaltigung und Mord zu Tode Verurteilten in seinen letzten Tagen begleitete, war imstande, in dem jungen Mann trotz allem und zu gleicher Zeit die Würde eines Menschen zu sehen und ihm dadurch zu helfen, sich von jener Perversität abzuwenden und zu seiner Würde zurückzufinden. Das Handeln, das dort entspringt, wo Unsichtbares und Sichtbares, Dunkel und Hell eins sind, ist wohltätig, bewirkt Wandlung.

 

Es scheint mir eine der wichtigsten Aufgaben unserer Zeit, die so nach mystischer Wirklichkeitserfahrung dürstet, unterscheiden zu lernen, zu prüfen, wo die Wegweiser richtig aufgestellt sind und wo nicht. Intellektuelles Wissen genügt da nicht, obwohl es eine wichtige Hilfe sein kann. Der Geist kennt den Geist. Es geht um ein Kennen durch Ähnlichkeit. Der Geist der Wahrheit ist wohlwollend, geduldig, bescheiden, hat nichts mit Hass, Zorn, Neid, Bosheit zu tun.