Erfüllte Zeit

29. 10. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

“Die Heilung eines Blinden bei Jericho” (Markus 10, 46 – 52)

von Pater Bernhard Eckerstorfer, Benediktinerstift Kremsmünster

 

 

Jesus hat das Leben von Menschen verändert, nachhaltig verändert. Das spüren wir im Evangelium von heute ganz besonders. Markus ist offenbar nah dran an dem, was damals in Jericho in Bewegung kam: bei Bartimäus, dem Sohn des Timäus. Die Namen von Menschen, die Jesus heilte, erfahren wir sonst selten. Bartimäus dürfte in der frühchristlichen Gemeinde des Evangelisten noch gut bekannt gewesen sein, vielleicht hat er selbst immer wieder seine Geschichte mit Jesus erzählt.

 

Da sitzt er am Straßenrand, der blinde Bettler, und wartet. Natürlich hofft er auf Almosen, aber ich kann mir vorstellen: Er wartet auf mehr, auf jemand, der sein Schicksal wendet. Letztlich hält er - wie ganz Israel - Ausschau nach dem Messias, dem Sohn Davids.

 

Schon damals ging von Jesus eine ungeheure Anziehungskraft aus. In einer Zeit, in der es kein Fernsehen, kein Radio, keine Printmedien gab, sprach sich das Wirken des Wanderpredigers aus Nazareth wie ein Lauffeuer herum. Dieser Jesus redet anders als die übrigen Prediger; er hat einen Blick und ein Herz für die Kleinen und Armen.

 

Und so ruft Bartimäus, als Jesus vorüber geht, aus vollem Hals: “Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir!” Die anderen wollen diesen blinden Schreihals zum Schweigen bringen. Der Rabbi soll ungestört seinen Weg weitergehen. Es geht doch hinauf nach Jerusalem. Dort kann er so richtig publikumswirksam auftreten und heilen, da ist so ein armer Blinder in der Provinz nur im Weg und hält den Meister ab von Wichtigerem.  Doch Bartimäus hat mehr verstanden von Jesus. Er schreit noch viel lauter: “Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!” Wie viel Inbrunst liegt in diesem Ruf - Verzweiflung und Zuversicht gleichzeitig.

           

Wer Jesus so anruft, an dem kann der Herr nicht vorüber gehen. Er bleibt auch in der Tat stehen: “Ruft ihn her!” Und die Gleichen, die ihm eben noch verbieten wollten, zu Jesus zu rufen, machen ihm nun Mut. “Steh auf, Jesus ruft dich!” Es folgt eine der berührendsten Begegnungen mit Jesus, weil hier ein armer Mensch so unmittelbar, so ehrlich, so erwartungsvoll vor den Herrn tritt: Da springt Bartimäus auf, wirft seinen Umhang weg und läuft auf Jesus zu. Die Begegnung mit Jesus ist ihm so wichtig, dass er alles stehn und liegen lässt: “Rabbuni, ich möchte wieder sehen können!” Welche Wucht liegt in dieser schlichten Bitte: “Rabbuni, ich möchte wieder sehen können!”

           

Es fällt auf, dass Bartimäus zu Jesus “Rabbuni” sagt. Mehr als in dem hebräischen Wort “Rabbi” schwingt in dieser aramäischen Anrede Ehrfurcht und eine innige Vertrautheit mit. “Rabbuni” - so sagt nur noch Maria Magdalena zu Jesus, als sie am Ostermorgen im vermeintlichen Gärtner den Auferstandenen erkennt.

           

Was Bartimäus erlebt, bleibt nicht ohne Wirkung. Er hat sein Augenlicht zurück erhalten. Aber noch wichtiger: Er sieht seinen weiteren Weg klar vor sich. Darauf kommt es ja auch Jesus an; denn jemand kann sehen und doch blind sein.

           

Bartimäus folgt Jesus nach. Er möchte um alles in der Welt bei ihm bleiben. Da geht er nun mit Jesus auf dem alten Pilgerweg nach Jerusalem hinauf. Jericho liegt 250m unter dem Meeresspiegel, Jerusalem tausend Meter höher. Dort muss er seinen Rabbuni von einer ganz anderen Seite kennen lernen: als den verhöhnten Gottesknecht, der seinem Auftrag treu bleibt bis in den Tod; als einen, der zwar anderen geholfen hat, aber das menschliche Scheitern nicht von sich abwenden kann und will. Unbegreifbar: im Leben dieses großen Mannes, des Messias, des Sohnes Davids, wird es dunkel. Doch Bartimäus sieht mehr. Seit seiner ersten Begegnung mit Jesus weiß er: Dieser Gottesmann kann nicht tot bleiben. Und so folgt er ihm weiter, auch wenn er ihn nicht mehr sieht, und erzählt den Menschen aller Zeiten von seiner berührenden Geschichte mit Jesus, damals in Jericho.