Erfüllte Zeit

12. 11. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Worte gegen die Schriftgelehrten“ (Markus  12, 38 – 44)

von Sr. Beatrix Mayrhofer

 

 

Sonntag ist heute – ein Tag zum Träumen vom Platz an der Sonne, ein Tag auch, um Platz zu nehmen im Haus des Herrn, am Tisch des Brotes und des Wortes. Vom Platz-Nehmen ist im heutigen Evangelium nach Markus die Rede.

 

Jesus ist in Jerusalem angekommen, in seiner Stadt. Und er ist im Tempel, im Haus seines Vaters. Er ist daheim, aber er ist nicht willkommen. Schließlich provoziert er ja auch hier im Tempel mit seinen Gleichnissen die Mächtigen, denen die Ehrenplätze gebühren. Markus nimmt uns in seinem 12. Kapitel, von dem wir heute den letzten Teil im Evangelium hören, mit hinein in die Entscheidung um Jesus. Da werden einige Pharisäer und einige Anhänger des Herodes zu ihm geschickt, um ihn mit einer Frage in eine Falle zu locken, da kommt ein Sadduzäer mit der Frage über die Auferstehung und schließlich fragt ihn ein Schriftgelehrter nach dem größten Gebot. Als Jesus diesem Schriftgelehrten sagt, er sei nicht mehr fern vom Reich Gottes, wagt keiner mehr, ihm noch eine Frage zu stellen.

 

Den Zuhörern freilich gefällt das. „Sie hörten ihm mit Freude zu“, heißt es im 37.Vers und ganz sicher bin ich mir nicht, ob es Freude über seine Lehre oder ein wenig Schadenfreude darüber war, dass er es denen da ob gezeigt hat.

 

Jesu Worte lassen schließlich an Schärfe nichts zu wünschen übrig.

 

Er warnt die Menge vor jenen Schriftgelehrten, die sich gerne grüßen lassen, die in der Synagoge die vordersten Sitze und beim Festmahl die besten Plätze einnehmen. Und dann wirft er ihnen eine der schlimmsten Sünden vor: „Sie bringen die Witwen um ihre Häuser“ – heißt es in der Einheitsübersetzung, die vornehm formuliert. Martin Luther ist da näher am griechischen Text, wenn er schreibt: „Sie fressen die Häuser der Witwen“. So eine Witwe rückt im zweiten Teil des heutigen Evangeliums in den Mittelpunkt. Jesus, so heißt es, setzt sich dem Opferkasten gegenüber. Das ist im äußeren Tempelbereich, dort, wohin auch die Frauen kommen dürfen. Im Haus seines Vaters nimmt Jesus ganz hinten Platz. Er, der wahre Hohepriester, der allen den Zugang zum Allerheiligsten öffnen wird, setzt sich nieder im Vorhof der Frauen und schaut einer Witwe zu, die zwei ganz kleine Münzen, zwei Lepta, hineinwirft. Zwei Lepta, das ist wirklich eine erbärmliche Gabe, wenn man bedenkt, dass – umgerechnet  - 128 Lepta einem Denar, also einem Tageslohn entsprechen. Zwei Lepta – das ist der symbolische Wert für gut 10 Minuten Hilfsarbeiterlohn. Und das ist alles, was diese Frau hat. Das opfert sie – und mit diesen Münzen bringt sie Gott die Ehre – und ihr ganzes Vertrauen. Ihre Sicherheit kommt nicht von einer Münze, wenn auch von einer ganz kleinen, ihre Sicherheit kommt von dem, der für sie sorgen wird, der immer schon seinem Volk das Schicksal der Waisen und Witwen ans Herz gelegt hat. Ihre  Erlösung kommt von dem, der neben ihr sitzt und sie sieht und uns zum Vorbild gibt.

 

Immer, wenn ich diese Erzählung aus dem Markusevangelium höre, muss ich an ein Erlebnis denken, das eine Mitschwester erzählt hat. Sie war unterwegs in Lateinamerika, zu Besuch bei den Ärmsten, in den Favellas. Dort hatte sie auch erlebt, wie großzügig gerade die Armen sind, und wie sie das Wenige teilen, das sie besitzen. Schließlich, so erzählte meine Mitschwester, kam noch ein alter Mann zu ihr. Der hatte nichts, gar nichts, was er ihr schenken konnte. Aber er bat sie trotzdem, mit ihm zu kommen. Vor seiner Elendshütte hatte er einen Sessel aufgestellt, den einen, den er besaß. Und er bat die Schwester, auf diesem Sessel Platz zu nehmen – weil man von da aus so schön den Sonnenuntergang sehen kann! Einen Platz an der Sonne hat er ihr angeboten, er, der Ärmste, am Abhang der Stadt. Und uns hat er geholfen, die Botschaft des heutigen Tages ganz neu zu verstehen: Es gibt für uns alle den Platz an der Sonne, erkauft für von dem, der seinen Platz bekam draußen, vor den Mauern der Stadt, aufgehängt am Holz zwischen Himmel und Erde.