Erfüllte Zeit

19. 11. 2006, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Auf eigene Gefahr

 

 

Die letzten 40 Jahre brachten japanische, tibetische und indische Meditationskulturen via USA ins postchristliche Europa, freilich in stark verdünnten Formen. Gleichzeitig erwachte das Interesse der Hirnforschung an religiösen Phänomenen, und mittlerweile sind Tausende Forschungsberichte und Monographien über Trancezustände, spirituelle Erfahrungen, über Gläubigkeit und altruistische Gefühle erschienen. Als hilfreich erweisen sich dabei Messtechniken für die im Hirn ablaufenden Ströme per Elektro-Encephalogramm (EEG) und neuerdings auch bildgebende Verfahren (Positronen-Emissions-Tomogramme), die einen Blick auf die jeweils aktiven Hirnregionen erlauben.

 

So war es beispielsweise möglich, ähnliche Muster im Scheitellappen betender Franziskanerinnen und meditierender Buddhisten zu erkennen, als deutliches Nachlassen der Nerventätigkeit in jenem Hirnbereich, wo die Informationen über Körperempfindungen zusammenlaufen.

 

Als gesichert gilt in diesem Zusammenhang die eher überraschende Gleichzeitigkeit von Hirnströmen, die auf ruhevolle Entspannung hindeuten, und solchen, die gesteigerte Aufmerksamkeit signalisieren.

 

Im Ernst ist mit derlei Spielereien wenig anzufangen. Wer sich mit Gott einlässt, tut das auf eigene Gefahr. Als der Dalai-Lama von einem prominenten Hirnforscher gefragt wurde, wie sich Mitgefühl erzeugen lasse, kam die lachende Antwort: Mit einer Injektion.

 

Die Pointe dieses Scherzes: Es lässt sich experimentell die physiologische Tatsache belegen, dass es seit der Frühzeit der menschlichen Evolution körpereigene Systeme im Hirn gibt, denen sich beim Homo Sapiens die Disposition zu religiös kodierter Andächtigkeit verdankt.

 

Anders (und etwas herzlicher) ausgedrückt: Durch unsere Beharrlichkeit ist Gott gezwungen zu existieren, durch die Gebete bildet sich sein Ohr, durch unsere Tränen können seine Augen sehen, durch Fröhlichkeit erscheint sein Lächeln. Flügel sind gut für Engel. Den Menschen muss zum Fliegen das Gebet genügen. Es steigt auf über Wolken und Regen, über Zimmerdecken und Bäume. Jeder von uns hat einen Engel bei sich.

 

 

(Aus: Adolf Holl „Om & Amen. Eine universale Kulturgeschichte des Betens“, Gütersloher Verlagshaus)